Titel
Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte


Herausgeber
Linsmayer, Ludwig
Reihe
ECHOLOT. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken 1
Erschienen
Saarbrücken 2005: Landesarchiv Saarbrücken
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Paul, Institut für Geschichte und ihre Didaktik, Bildungswissenschaftliche Hochschule - Universität Flensburg

Am 13. Januar 1935 votierten mehr als 90 Prozent der abstimmungsberechtigten Saarländer in einem vom Völkerbund festgelegten Referendum für den Wiederanschluss des seit 1920 vom Deutschen Reich abgetrennten „Saargebietes“ an Hitlerdeutschland. Lediglich 8,9 Prozent entschieden sich angesichts der Zustände im neuen Deutschland für die Beibehaltung des „Status quo“, für den eine Aktionsfront von Sozialdemokraten und Kommunisten aufgerufen hatte. Die dritte Option, der Anschluss an das Nachbarland Frankreich, fand mit 0,4 Prozent kaum Anhänger. Angesichts einer Wahlbevölkerung, die bei den letzten freien Wahlen von 1932 mit 43,2 Prozent für das katholische Zentrum und mit 23,2 Prozent bzw. 9,9 Prozent für Kommunisten bzw. Sozialdemokraten votiert hatten, bedeutete dies, dass trotz der noch bestehenden Möglichkeit, sich frei zu informieren, mehr als zwei Drittel der katholischen und proletarischen Wähler von 1932 für die Rückgliederung an das diktatorische Deutschland votiert hatten. Angesichts der enormen politischen Brisanz stießen Abstimmungskampf und Bekanntgabe des Ergebnisses auf breites internationales Medieninteresse. Die Auseinandersetzung mit der Saarabstimmung wurde in den folgenden Jahrzehnten zentraler Bestandteil der saarländischen Erinnerungskultur.

Die Untersuchung des Abstimmungskampfes ist in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand einer Reihe von historiografischen Studien gewesen und kann als weitestgehend abgeschlossen betrachtet werden. Umso mehr überrascht es, dass mit dem von Ludwig Linsmayer - dem neuen Direktor des Saarbrücker Landesarchivs, der 1992 u.a. mit einer wegweisenden Studie zur Politischen Kultur des Saargebietes hervorgetreten ist 1 - herausgegebenen ersten Band der Reihe „Echolot. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken“ unter dem Titel „Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte“ im „Jubiläumsjahr“ 2005 nun eine neue Studie zu diesem Thema erschienen ist. Zu den bevorzugten Themen der Reihe gehöre „die historische Dimensionierung zeitgenössischer Probleme ebenso wie die Analyse von Erinnerungen und Traditionen in ihrer Bedeutung für die vergangene oder gegenwärtige Wirklichkeit“ (S. 9).

Dieses Programm löst der von Linsmayer herausgegebene Band zur Saarabstimmung 1935 zum Teil in mustergültiger und innovativer Weise ein. Mit drei unterschiedlichen Zugangsweisen versucht der Band die Historie des 13. Januar „als Gedächtnisgeschichte“ neu zu formatieren. Im ersten Teil („Die Macht der Erinnerung“, S. 14-109) untersucht der Herausgeber selbst den Saarkampf aus der Perspektive der kollektiven Erinnerungen. Als Material dienen ihm dabei ganz unterschiedliche, zumeist visuelle Quellen wie die Titelbilder von Buchpublikationen und Broschüren, Fotografien von Gedenkfeiern, Straßenschildern und Anschlagflächen, Veranstaltungsankündigungen in Form von Plakaten und Zeitungsanzeigen, Flugblätter und Leitartikel in Zeitungen. Begrifflich unterscheidet Linsmayer, dabei die Terminologie der an Jan und Aleida Assmann orientierten neueren Gedächtnisforschung aufgreifend, konsequent zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Hiervon ausgehend gelingt es ihm, die Wandlungen und Kontinuitätsmuster in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen - und somit auch der historiografischen - Verarbeitung der Abstimmung im Zeitraum zwischen 1935 und 2000 nachzuzeichnen und diese unter den Stichworten „Verklärung und Mystifizierung“, „Umdeutung im Zeichen der Katastrophe“, „Verdrängung und Verwissenschaftlichung“, „Aufklärung und Gegen-Traditionsbildung“ sowie schließlich „Historisierung und Kontextualisierung“ und „Ästhetisierung“ zu rubrizieren. Deutlich wird in Linsmayers Analyse ein komplexes Wechselspiel von Formen des kommunikativen Gedächtnisses der Zeitzeugen, von historiografischer Aufarbeitung und offizieller Geschichtspolitik, das das „Bild des 13. Januar“ einer beständigen Veränderung unterwarf und zu einer bis in die Gegenwart andauernden „Ambivalenz der Erinnerungskultur“ führte, für die das Hin- und Herpendeln des historischen Urteils typisch werden sollte. Linsmayer gelangt zu dem Ergebnis, dass der politische Konflikt von 1934/35 und die diametral entgegen gesetzten Formen des kommunikativen Gedächtnisses der Zeitzeugen im gespaltenen kulturellen Gedächtnis der saarländischen Gegenwartsgesellschaft aufgehoben sind und nicht unwesentlich zum „saarländischen Sonderbewusstsein“ beigetragen haben.

Der von Paul Burgard zu verantwortende zweite Teil des Bandes unter dem Titel „Die Sprache der Bilder“ (S. 112-217) analysiert erstmals den Saarkampf als moderne Medieninszenierung sowie das „fotografische Gedächtnis der Saarabstimmung“. Als Grundlage dienen Burgard dabei zwei im Landesarchiv Saarbrücken deponierte Fotobestände: der mehr als 40.000 Fotografien umfassende Bestand des 1907 in Dudweiler (einer ehemals kommunistischen Hochburg) geborenen Lehrers Julius Walter, der in seiner mehr als 40-jährigen Berufstätigkeit das alltägliche und öffentliche Leben seiner Gemeinde und damit auch den Abstimmungskampf mit der Kamera begleitete, sowie ein Bestand von mehr als 500 Glasplatten von professionellen französischen Pressefotografen. Während Walter den Abstimmungskampf aus der Perspektive des ortsansässigen und mit den Verhältnissen vertrauten Beobachters und damit vor allem Alltagsszenarien ablichtete, dokumentieren die französischen Pressefotografien die Saarabstimmung primär aus professioneller Perspektive als Medienereignis und Angelegenheit von welthistorischem Interessen. Aus beiden Beständen nimmt Burgard eine - allerdings nicht näher begründete - Auswahl vor, die er jeweils kombiniert mit zeitgenössischen Texten zu „historischen Bilderbüchern“ zusammenstellt. In seiner Analyse der beiden Fotobestände versucht Burgard der Frage nachzugehen, wie das Geschichtsbild vom 13. Januar durch die Bilder aus der Geschichte geprägt ist bzw. neu gedeutet werden kann. Auf der Höhe des fotohistorischen Diskurses und damit anknüpfend etwa an Hans Belting, Pierre Bourdieu und Bernd Hüppauf geht es dem Verfasser darum, Fotografien „in ihrem spannungsreichen Verhältnis zur menschlichen Wahrnehmung, zur Gedächtnisbildung und zur Geschichtsproduktion“ zu thematisieren (S. 122). Fotografien sind für Burgard keine einfachen Abbildungen von Realität, sondern spezifische Deutungen eines zeitlich wie räumlich begrenzten Wirklichkeitsausschnitts. Als historische Quellen begreift er sie gleichermaßen als „Überreste“ wie als „Traditionen“ mit informationsgeladenen Aussagen über vergangene Wirklichkeiten, etwa wenn er der Haltung von fotografierten Schulkindern zur Hakenkreuzfahne nachgeht. Akribisch rekonstruiert Burgard die verschiedenen Perspektiven der Fotografen auf die inszenierten Jubelveranstaltungen nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses. Dass er dabei noch in den offiziösen Fotografien der inszenierten Siegesfeiern Spuren eines Eigen-Sinns entdeckt, spricht für die genaue Analyse seiner Quellen. Ebenso beeindruckend sind seine Ausführungen über den fotografischen Blick des fotografierenden Lehrers. Überzeugend kann er belegen, wie dessen Erfahrungen mit den Bildern des frühen Nationalsozialismus an der Macht etwa anlässlich von Besuchen der NSDAP-Reichsparteitage auch seine eigenen Sehgewohnheiten und seinen Bildstil veränderten, i.e. die Ästhetik des nationalsozialistischen Deutschland ihren Weg zum Augen des Fotografen fand. Unter quellenkundlichem Aspekt sind die hier erstmals publizierten Bilder der französischen Pressefotografen vom „Exodus“ der Anhänger des „Status Quo“ in die Emigration nach Frankreich besonders hervorzuheben - die einzigen Bilder übrigens einer Massenemigration aus Deutschland nach 1933. Gern hätte der Rezensent über die Fotografen und die Menschen auf diesen Bildern mehr erfahren. Die Antwort auf die Frage von Burgard nach dem Beitrag der dokumentierten und analysierten Fotografien der Saarabstimmung für die Gedächtnisbildung und Geschichtsproduktion des Saarlandes indes bleibt der Autor leider schuldig.

Der dritte von Peter Wettmann-Jungbluth verfasste Teil mit dem Titel „Die Gesichter des Abstimmungskampfes“ (S. 218-313) schließlich untersucht Selbstzeugnisse von Protagonisten, Gegnern und Opfern der Rückgliederung. Auswahl und Analyse der (auto-)biografischen Unterzeugnisse indes vermögen nicht zu überzeugen. Die sechs biografischen Skizzen von Personen aus der ersten bzw. zweiten Reihe der damaligen Kontrahenten sind zum Teil bereits bekannt. Ihre Analyse bewegt sich weder auf der Höhe der Zeit, noch lotet sie die biografischen Quellen auf die in sie eingeschriebenen Erinnerungsmuster und die einschlägige Forschungsliteratur auch nur ansatzweise aus. Das Ergebnis, dass die nachträglich gezogenen moralischen Grenzlinien zwischen den Repräsentanten der verschiedenen Seiten fragwürdig und eher Gemengelagen typisch sind, ist ebenso banal wie die Erkenntnis, dass die Gedächtniskultur nicht nur aus kollektiven Erinnerungen, sondern ebenso aus individuellen Geschichten besteht.

Dennoch: Mit dem von Ludwig Linsmayer herausgegebenen ersten Band der Reihe hat die oft verspottete Landesgeschichtsforschung in Deutschland Anschluss an den Diskussions- und Forschungsstand der Geschichtswissenschaft gefunden und neue Maßstäbe gesetzt. Dieser Band ist innovativ sowohl in seinem methodischen Ansatz als auch in der Form der Darstellung. Deutlich wird, dass moderne Landesgeschichte künftig nur mehr integral als Real- und Erinnerungsgeschichte auf der Basis von schriftlichen und visuellen Quellen geschrieben werden kann. Mit dem Instrumentarium der Reihe - kompetent und konsequent angewandt - lassen sich die Tiefen und Untiefen der Landesgeschichte - nicht nur der saarländischen - trefflich vermessen.

Anmerkung:
1 Linsmayer, Ludwig, Politische Kultur im Saargebiet 1920-1932. Symbolische Politik. verhinderte Demokratisierung, nationalisiertes Kulturleben in einer abgetrennten Region, St. Ingbert 1992.

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