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Titel
Vertrauen. Historische Annäherungen


Herausgeber
Frevert, Ute
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
22,90 Euro
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ralf Stremmel, Krupp-Archiv Essen

Vertrauen hat Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Wie so häufig kamen theoretische Impulse aus der angloamerikanischen Sozialwissenschaft. Francis Fukuyama hat beispielsweise 1995 in seinem Buch „Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity“ dargestellt, wie spezifische nationale Vertrauenskulturen zur jeweiligen Leistungsfähigkeit und zum jeweiligen Wohlstand von Gesellschaften beitragen. Sehr bald entdeckten Soziologen, Philosophen und Politologen auch ältere deutsche Arbeiten über den Vertrauensbegriff wieder, vor allem einen längeren Essay Niklas Luhmanns aus dem Jahr 1968. Die Hinwendung auch der Historiker zum Vertrauenskonzept hing, wie Ute Frevert und andere argumentiert haben1, mit der kulturalistischen Wende in der Geschichtswissenschaft zusammen, mit einer neuen Wertschätzung hermeneutisch-interpretativer Methoden und einem wiedererwachten Interesse an menschlichen Erfahrungen, Sinngebungen oder Erinnerungen. Ob jedoch „Vertrauen“ mehr ist als ein kurzlebiger Modebegriff, und inwieweit die Analyse von Vertrauensbeziehungen auf Dauer substanzielle Erkenntnisgewinne verspricht, scheint trotz mittlerweile zahlreicher Beiträge noch offen zu sein.

Der vorliegende, von Ute Frevert herausgegebene Sammelband, spricht jedenfalls in weiten Teilen für den heuristischen Nutzen des Vertrauensmodells. Neben dem einleitenden Überblicksbeitrag der Herausgeberin, der mit 60 Seiten bei weitem der längste ist und vorwiegend eine begriffsgeschichtliche Diskussion von Vertrauen bietet, enthält der Band zwölf Aufsätze. Dass mehr angestrebt wurde als eine Buchbindersynthese, demonstriert das hilfreiche Sachregister. Die Beiträge sind im Rahmen eines mehrjährigen, aus Mitteln des Leibniz-Preises finanzierten Forschungsprojektes an der Universität Bielefeld entstanden, in dessen Zusammenhang im Dezember 2001 auch eine interdisziplinäre Tagung durchgeführt wurde.

Die drei ersten Beiträge können nachweisen, dass „Vertrauen“ keineswegs, wie es Untersuchungen von Philosophen wie Hermann Lübbe nahelegen, nur ein Phänomen der modernen, komplexen Industriegesellschaft ist, sondern auch in Mittelalter und Früher Neuzeit von elementarer Bedeutung war. Dorothea Weltecke setzt sich methodisch und begriffsgeschichtlich mit der Frage auseinander, ob es im Mittelalter Vertrauen gab. Stefan Gorißen beschreibt anhand eines Fallbeispiels, nämlich der Beziehungen zwischen den Fernhändlern Johan Caspar Harkort und Johann August Hoppe im 18. Jahrhundert, dass angesichts von Geheimnisverrat und Opportunismus Vertrauen ökonomisch rational war, allerdings „harte“ institutionelle Faktoren wie Verträge und Gesetze nicht gering zu schätzen waren.

Franz Mauelshagen widmet sich den Gelehrtenkorrespondenzen bzw. dem wissenschaftlichen Austausch in der Frühen Neuzeit. Gunilla-Friederike Budde befasst sich mit der Rolle von Vertrauen in der bürgerlichen Erziehung. In bürgerlichen Familien des 19. Jahrhunderts gewann Vertrauen als Leitwert zunehmende Bedeutung, gab den Kindern Sicherheit und zugleich Freiräume. Gleichzeitig stand Familienvertrauen in Konkurrenz mit anderen Werten, etwa dem Leistungsdenken, und erschwerte „Fremdvertrauen“, also vertrauensvolle Kontakte über die Familie hinweg.

Die restlichen Aufsätze beziehen sich weitgehend auf das 20. Jahrhundert. Die Innere Mission und ihre Versuche, Großstadt-Zuwanderern Vertrauen in die neue Lebenswelt zu vermitteln, stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes von Bettina Hitzer. Dabei ordnet sich die zeitgenössische Wahrnehmung eines allgemeinen Vertrauensverlustes um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die damalige Modernisierungskritik ein. Claudia Schmölders geht der Frage nach, wie das menschliche Gesicht, die persönliche Erscheinung zu Vertrauen und sozialer Interaktion beitragen kann, und sie greift dazu zurück auf die akademische Debatte um Physiognomik am Beginn des 20. Jahrhunderts. „Vertrauen und Kameradschaft“ überschreibt Thomas Kühne seinen Beitrag über die Rolle von Denunziation und Vertrauen in der Wehrmacht während der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges. Anne Schmidt behandelt die Vertrauenskrise, in der die deutsche Staatsführung im Jahr 1918 steckte. Den Entwicklungen des Waffenrechts seit den 1920er Jahren bis weit hinein in die Nachkriegszeit widmet sich Dagmar Ellerbrock.

Jan C. Behrends untersucht den Freundschafts- und Vertrauensdiskurs in Mittel- und Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die Kampagnen für „Freundschaft mit der Sowjetunion“ in Polen und der DDR. Er zeigt dabei die Kluft zwischen dem „geforderten Glaubensvertrauen und der geringen Reichweite des Vertrauens in der sozialen Wirklichkeit kommunistischer Herrschaft“ (S. 357) auf, das heißt Vertrauen blieb deklamatorischer Natur, auf Repressions- und Propagandaapparate konnten die Regime nicht verzichten. Gesa Bluhm thematisiert die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 und geht im Anschluss an Jürgen Habermas davon aus, dass dauerhafter Frieden von einem Prozess kommunikativen Handelns und wachsendem Vertrauen abhängig ist, in den auch die Bevölkerung einbezogen wird. Schließlich analysiert Albrecht Weisker die Veränderungen in der Wahrnehmung von Kernenergie und schlüsselt auf, wie sich anfängliches Technik- und Expertenvertrauen in tief verwurzeltes Misstrauen, ja Angst verwandelte – bedingt durch den Einfluss der Medien, durch Aktionen von Bürgerinitiativen und vor dem Hintergrund allgemeiner kultureller Veränderungen. Es erfolgte eine „Entmystifizierung des Experten als Sozialtypus“ (S. 418).

Alle Autoren beziehen sich auf die sozialwissenschaftliche Vertrauensdebatte, und deren theoretische Modelle sind die Folie, vor der die jeweiligen Fallbeispiele analysiert werden. Der Band enthält zahlreiche Anregungen und eröffnet an vielen Stellen eine neue Sicht auf scheinbar Bekanntes. Dennoch spricht der Untertitel vorsichtig und zu Recht von „Annäherungen“. Eine geschlossene Vertrauensgeschichte kann er natürlich nicht bieten, und einige Fragen an den Umgang mit dem Begriff Vertrauen bleiben offen.

So wirkt die Verwendung dieses Begriffes gelegentlich ein wenig gewollt. Wenn zum Beispiel konstatiert wird, zeitgenössisch sei der Begriff Vertrauen „nicht allzu häufig und eher zufällig“ gebraucht worden, Vertrauen sei aber dennoch als „Konzept in der Öffentlichkeit präsent“ gewesen (S. 371), bleiben Zweifel, ob die historische Wirklichkeit hier nicht vorschnell in ein theoretisches Modell gepresst wird. Vertrauen ist kein archimedischer Punkt, von dem aus die Welt erklärt werden könnte. Beim Lesen einiger Beiträge stellt sich die Frage, ob „harte“ historische Faktoren wie ökonomische oder politische Interessen der an Vertrauensdiskursen beteiligten Akteure, konkrete Nutzen- und Kostenüberlegungen, institutionelle oder normative Regelungsmechanismen und dergleichen nicht noch stärker hätten gewichtet werden müssen.

Ein anderes Grundproblem, das womöglich gar nicht zu lösen ist und auf das Ute Frevert auch in der Einleitung hinweist (S. 65), liegt im Begriff selbst: Vertrauen ist auf der einen Seite ein Terminus der Alltagssprache, auf der anderen Seite soll er aber als theoretische Analysekategorie dienen. Wo wird über die historische Semantik von Vertrauen gesprochen, wo über Vertrauen als Modellkonstrukt? Die Unterschiede werden nicht in allen Aufsätzen trennscharf herausgearbeitet. Hinzu kommt ein weiteres: Über Vertrauen ist von den historischen Akteuren in (fast) allen Zeiten und in unterschiedlichsten Zusammenhängen gesprochen worden. Reicht dies schon aus, um das sozialwissenschaftlich-abstrakte Rüstzeug der Vertrauenstheorien auszupacken? Und lassen sich dadurch substanzielle Erkenntnisgewinne erzielen? Einige Beiträge in dem vorliegenden Sammelband fußen ja auf älteren Arbeiten. Sie nutzen das Vertrauenskonzept für neue Perspektiven, kommen aber kaum zu grundlegend neuen Erkenntnissen, die über das hinausgehen, was mit konventionelleren politik- oder sozialgeschichtlichen Methoden schon erklärt worden ist.

Wenn ein Buch vergleichsweise lange nach seinem Erscheinen besprochen wird, bietet sich die Gelegenheit, auch seine Rezeption in die Betrachtungen einzubeziehen. Vertrauen ist heute in vieler Munde, und insbesondere die neue Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte hat das Konzept wiederholt aufgegriffen, wie etwa das jüngste Heft des „Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte“ beweist. Dass die Geschichtswissenschaft so intensiv über Vertrauen als historische Kategorie debattiert, ist nicht zuletzt auf den von Ute Frevert herausgegebenen Band zurückzuführen. Das Buch als solches hat, auch aufgrund des Renomees seiner Herausgeberin, bereits durch sein Erscheinen einen Markstein gesetzt und wie ein Weckruf gewirkt, während die Einzelbeiträge in ihren jeweiligen Fachgebieten vielleicht noch nicht genügend beachtet worden sind. Dennoch: Nur wenige Sammelbände sind in letzter Zeit so breit rezipiert worden wie dieser „Vertrauens-Band“. Er hat aktuelle geschichtswissenschaftliche Debatten befruchtet und vorangebracht. Kann ein Sammelband überhaupt mehr erreichen?

Anmerkung:
1 Ute Frevert, Vertrauen in historischer Perspektive, in: Schmalz-Bruns, Rainer; Zintl, Reinhard (Hrsg.), Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation, Baden-Baden 2002. Außerdem wichtig: Hartmann, Michael; Offe, Claus (Hrsg.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main 2001.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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