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Titel
Diagnose Brustkrebs. Eine ethnografische Studie über Krankheit und Krankheitserleben


Autor(en)
Holmberg, Christine
Reihe
Kultur der Medizin 13
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Cornelia Guell, Genf

Die Früherkennung von Brustkrebs durch Vorsorgeuntersuchungen gehört zur ärztlichen Routine. Das Mammografie-Screening ist zwar noch umstritten, wird aber schon häufig praktiziert. Nicht mitdiskutiert werden dabei meist die Implikationen der Früherkennung für die betroffene Frauen. Diese Problematik thematisiert Christine Holmberg in ihrer medizinethnologischen Dissertation "Diagnose Brustkrebs. Eine ethnografische Studie über Krankheit und Krankheitserleben": Wie reagieren Frauen auf die Diagnose Brustkrebs, wie werden sie in die biomedizinische ‚Realität' der Onkologie eingeführt, wie gehen sie mit den empfohlenen Therapien um? Zur Beantwortung dieser Fragen folgt Holmberg zwei Forschungssträngen: Sozialkonstruktivistische Ansätze stellen Diagnose und darauf folgende Therapieverfahren in den größeren Kontext der biomedizinischer Wirklichkeitskonstruktion; narrative Ansätze von Krankheitserfahrung dienen der Analyse von Krankheitserleben und -wahrnehmung der Frauen und deren Beeinflussung durch das klinische Personal und die klinische Praxis.

Im ersten Kapitel "Im Krankenhaus: Organisation - Ethnografie - Alltag" wird zunächst die methodische Herangehensweise erläutert. Die Dissertation baut auf Daten auf, die in den Jahren 1999/2000 in ethnografischer Feldforschung in der onkologischen Gynäkologie eines deutschen Großstadtkrankenhauses erhoben wurden. Neben teilnehmender Beobachtung als Praktikantin und Hospitantin führte Holmberg Interviews mit Patientinnen und Klinikpersonal durch. Darüber hinaus zog sie schriftliche Informationsmaterialien und Medien zur Analyse gesellschaftlicher Diskurse heran.

Das Krankenhaus wird als zentrale Wirkungsstätte der Biomedizin beschrieben: Biomedizinische Kategorien bestimmen Normen, Regeln und Praktiken einer Krankenhausstation. Holmberg geht dem ‚Werden' und ‚Gemachtwerden' von Krebspatientinnen nach. Sie beschreibt, wie diese in das soziale Gefüge der Station eingeführt werden und wie versucht wird, ihr Alltagsverständnis von Krankheit in die ‚Wirklichkeit' des Krankenhauses zu integrieren. Hierzu analysiert sie die Funktionen von Aufnahme (Ablegen von Alltagskleidung) sowie Verhaltensregeln beim Aufenthalt auf der Station (Liegezwang, eingeschränkte Privatsphäre). Holmberg fokussiert dabei auf die mögliche Homogenisierung der Patientinnen und sie hinterfragt deren "scheinbar fraglose Übernahme der ‚Patientenrolle'" (S. 32).

Im Rahmen dieses Kapitels schildert Holmberg eindrucksvoll ihr eigenes Eintreten in die ‚Realität' Brustkrebs und liefert damit ein gelungenes Beispiel ‚reflexiver Ethnografie'. 1 Sie positioniert sich als Feldforscherin innerhalb des Diskurses um Brustkrebs und innerhalb des Umfelds der Station und beschreibt den eigenen Perspektivenwechsel. So sieht Holmberg enge Anknüpfungspunkte zu den Frauen - sieht sich ihnen grundsätzlich in Bezug auf Brustkrebsvorsorge ‚aufgrund biochemischer Prozesse gleich', d.h. zur gleichen Risikogruppe gehörend. Eine Differenz wird letztendlich durch die Diagnose hergestellt. Die diagnostizierte Brustkrebspatientin wird das zu untersuchende ‚Andere'. Die Begegnung mit einer Patientin ähnlichen Alters und biografischen Hintergrunds führt zu "Identifikationen und dadurch schließlich zur Anerkennung und Verstehen des Anderen" (S. 59). Ihre eigene Wahrnehmung verändert sich mit dieser Begegnung, Holmberg setzt sich persönlich mit Brustkrebs und mit ihrem eigenen Körper auseinander. Dies lässt sie das Erleben der Patientinnen nachvollziehen: "Die Wahrnehmung von Patientinnen, die Art, wie sie die Welt sehen und was als Realität angenommen wird, verändert sich. [...] Der Schauplatz für diese Transformation ist der konstruierte biomedizinische Körper [...] ein Ort ständiger neuer Unsicherheit und ‚Kriegsschauplätze'." (S. 66)

Das Kapitel "Erschütterungen" setzt sich mit dem Diagnoseprozess und dem Erleben der Diagnose auseinander. Häufig liefert die Diagnose einer Krankheit eine Erklärung für langes Unwohlsein oder Schmerz und wird deshalb von den PatientenInnen durchaus mit Erleichterung angenommen. Die Diagnose von Brustkrebs wird dagegen meist im Zuge einer Vorsorgeuntersuchung gestellt und trifft die Frau unvorbereitet. Holmberg vergleicht die Brustkrebsdiagnose mit einem traumatischen Erlebnis: Die Diagnose von Brustkrebs muss von den betroffenen Frauen als Schock oder Trauma verstanden werden. Holmberg lehnt dementsprechend Theorien ab, die die angeblich widerstandslose Compliance von Brustkrebspatientinnen an Persönlichkeitsmerkmalen wie Introvertiertheit festmachen. Die plötzliche Auseinandersetzung mit einer potentiell tödlichen Krankheit - ein durch die spätmoderne Gesellschaft geprägtes Bild - kann nicht verarbeitet werden; schnelles Handeln wird vom Arzt empfohlen und praktiziert. Eine Therapie, die unmittelbar nach der Diagnose einsetzt, lässt keine Zeit zum Denken oder gar zu Widerstand. Holmberg stellt in diesem Zusammenhang Vergleiche mit Studien zu Schizophrenie an. Dabei will sie den Frauen keineswegs etwas Pathologisches zuschreiben, sondern sieht darin eine Metapher, um das Erleben der Diagnose zu beschreiben. Die Frauen berichten nämlich, dass sie die Zeit nach der Diagnose als ‚Geteiltsein' empfanden. "Ich war wie betäubt - dazwischen." (S. 119) In diesem Zusammenhang beschreibt Holmberg den Diagnose- und Therapieprozess als individualisierte liminale bzw. liminoide Phase, in die die Patientin eintritt, sowohl physisch als auch emotional. Eine unbekannte Sprache muss erlernt und unbekannte Orte müssen entdeckt werden. Diese räumlichen wie psychischen Übergänge ‚machen' die Brustkrebspatientin.

Klinische Narrative dienen dazu, diese biomedizinische ‚Realität' zu vermitteln. Das Kapitel "Auf der Suche nach Leben" beschäftigt sich mit dieser "großen Geschichte der ‚Krebskrankheit'" (S. 155). Diese Narrative beinhalten zu Beginn zwei Komponenten: Tod und Hoffnung. Zum einen muss die Patientin die Schwere der Krankheit verstehen, um die oft qualvolle und langwierige Therapie anzunehmen. Zum anderen muss ihr aber auch Hoffnung gegeben werden, ohne die diese Therapie kaum durchgestanden werden kann. "Geschichten schaffen eine behandelbare Realität im Krankenhaus." (S. 154) Dabei sind Vertrauen und Ehrlichkeit während der Therapie stets zentrale Momente der Arzt-Patientinnen-Interaktion. Erst wenn keine Hoffnung mehr gegeben werden kann, lehnt der Arzt/die Ärztin zu große Ehrlichkeit ab. Am Ende der Therapie steht der Rücktritt ins ‚normale Leben'. ‚Gute Vorsätze' werden oft im Alltag wieder vergessen, doch wird der Körper dauerhaft anders wahrgenommen. Das ‚Überleben' hinterlässt Unsicherheit und Verletzlichkeit bei den Frauen, aber auch in ihrer Umgebung. "Durch die symbolische Kraft, die ‚Krebs' in unserer Gesellschaft hat, bleiben die Frauen Menschen, die Krebs überlebt haben. Sie waren Todgeweihte und sind zurückgekehrt." (S. 209)

Holmbergs Ethnografie zeigt einfühlsam, wie Frauen durch die Diagnose von Brustkrebs im Zuge einer routinemäßigen Kontrolle zur Früherkennung einen "Diagnoseschock" erleben (S. 142). Gerade diese Ausführungen zur Diagnose als traumatisches, ‚pathologisches' Ereignis und analytische Verknüpfungen zu Schizophrenie-Studien scheint mir eine originelle Interpretation. In besonderer Erinnerung bleiben auch Holmbergs reflexive Betrachtungen als Feldforscherin. Gerne hätten diese mehr Raum innerhalb der Ethnografie finden können. Das dichte und anschauliche Datenmaterial wird anhand medizinethnologischer Ansätze solide und umfassend analysiert: das Krankenhaus wird als Wirkungsstätte biomedizinischer Kategorien, Diagnose- und Therapieprozess als liminoider Raum beschrieben, in dem klinische Narrative der Konstruktion biomedizinischer ‚Wirklichkeit' dienen. Christine Holmbergs Studie zeichnet ein komplexes Bild der Folgen der Diagnose Brustkrebs für betroffene Frauen und sollte nicht nur medizinethnologische Beachtung finden, sondern kann auch in medizinischen wie gesellschaftlichen Debatten zur Früherkennung von Krebskrankheit einen wichtigen Beitrag leisten.

Anmerkungen:
1 Davies, Charlotte Aull, Reflexive Ethnography. A Guide to Researching Selves and Others, London 1999.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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