Titel
Studien zum Kanonissenstift.


Herausgeber
Crusius, Irene
Reihe
Studien zur Germania sacra, 24
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
Leinen, 224 S., Abb.
Preis
DM 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Eric Wagner, Historisches Seminar der Universität Rostock Email:

Während das weltliche Kollegiatstift der Säkularkanoniker von Kirchengeschichtsschreibung und Mittelalterforschung lediglich bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wie ein Stiefkind behandelt wurde, ist das weibliche Pendant dazu, das Kanonissenstift, noch bis in die siebziger Jahre deren Stieftochter geblieben. Dieser Befund vermag allerdings kaum zu überraschen, da am Beginn der kritischen Erforschung des Gegenstandes sogleich das schwerwiegende Verdikt des Kirchenverfassungshistorikers Albert Werminghoff steht: ”Die Ordnung für die Kanonissen hat noch mehr als ihr Vorbild (die Aachener Regel für die Kanoniker von 816, W.E.W.) den menschlichen Schwächen Rechnung getragen”1. Dem Kirchenhistoriker Albert Hauck erschien gar ”die ganze Einrichtung des kanonischen Lebens (...) wie ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche”2. Kein Wunder also, dass die Beschäftigung mit den weiblichen Konventen für lange Zeit als wenig attraktiv galt. Und auch die Tatsache, dass dem Kanonissenstift schon vor dem Säkularkanonikerstift von Karl Heinrich Schäfer 1907 eine Gesamtdarstellung gewidmet wurde, konnte daran wenig ändern, da die Arbeit bereits bei ihrem Erscheinen nicht dem Stand und den Möglichkeiten der damaligen Forschung entsprach.

Nach mehreren Monographien zu einzelnen Kanonissenstiften seit den siebziger Jahren hat nun das Germania-Sacra-Projekt beim Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte, das das ”Weltliche Kollegiatstift” zu seinen Schwerpunkten zählt, eine Zwischenbilanz gezogen. Wie der 1995 erschienene Sammelband über das Kollegiatstift allgemein, ”Studien zum weltlichen Kollegiatstift”3, vereinigt auch der vorliegende die Beiträge eines Germania-Sacra-Colloquiums. Zwischen diesem und dem Erscheinen des Bandes liegen allerdings mehr als fünf Jahre, so dass einzelne Beiträger(-innen) nach eigener Aussage mittlerweile Weiteres und Tiefergehendes zu ihren jeweiligen Fragestellungen publiziert haben (S. 147 Anm. 86 - Gisela Muschiol).

Der Band umfasst Untersuchungen zu einzelnen Frauenkommunitäten wie denen in Gernrode (Charlotte Warnke) und in Essen (Thomas Schilp) sowie zu übergreifenden Fragestellungen, etwa nach dem Anteil des Adels an den Kanonissenkonventen des frühen und hohen Mittelalters (Franz J. Felten), nach den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen (Gisela Muschiol) und nach der Regeltreue im klösterlichen Alltag des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Immo Eberl). Der zeitliche Rahmen spannt sich vom Kult für Irmina, die Äbtissin von Oeren an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert (Martina Knichel), bis zur sozialgeschichtlichen Betrachtung katholischer Hochadelsstifte im Nordwesten des Alten Reiches im 17. und 18. Jahrhundert (Ute Küppers-Braun).

Eine leitende Fragestellung ist nicht zu erkennen. Insofern ist der Titelanfang ”Studien zu”, der bei geisteswissenschaftlichen Abhandlungen in der Regel eher ein Kreisen um einen bestimmten Gegenstand erwarten lässt als eine konkrete Problemstellung, zutreffend gewählt. Vor allem drei Punkte sind hervorzuheben, die den Band zusammenhalten und die aus der Auseinandersetzung mit älteren Forschungsmeinungen gewonnen worden sind. Denn wie auf jedem Forschungsfeld, das lange Zeit nicht ”beackert” worden ist, wuchern auch auf dem des Kanonissenstiftes Dogmen. Zu den häufigsten scheinbaren Gewissheiten, die in Bezug auf Kanonissenstifte regelmäßig wiederkehren, gehört erstens, dass sie adelig gewesen seien, zweitens, dass sie eine Verfallserscheinung des religiösen Gemeinschaftslebens darstellten, und drittens, dass sie lediglich als Versorgungsanstalt für unverheiratete Töchter des Adels gedient hätten. Zur Revision der immer noch weit verbreiteten überwiegend negativen Einschätzung der Frauenkovente will deshalb der Band beitragen. Denn zum einen hätte schon längst die Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit dieser Institution ins Auge fallen müssen, die ihre Lebensform bewahren und sogar in die nachreformatorische Zeit hinüberretten konnte. Und andererseits harrt die außerordentliche zeitliche und geographische Häufung von Kanonissenstiften im nordwestdeutschen Raum, aufgrund deren man geradezu von einer ”Gründungswelle” vom 8. bis 11. Jahrhundert sprechen kann, schon lange einer Erklärung.

Doch zunächst war das Problem zu klären, was Kanonissen überhaupt sind bzw. wodurch sie sich von Nonnen unterscheiden, die im Kloster leben. Sanctimoniales quae se canonicas vocant, werden sie auf dem Konzil von Chalon-sur-Saône 813 genannt, und die Aachener Reformgesetzgebung von 816 hat sie den monachae als sanctimoniales canonice viventes normativ gegenübergestellt, wodurch eine eindeutige Zuordnung ab dieser Zeit möglich erscheint. Doch tauchen weiterhin, zuweilen in ein und derselben Quelle und für die Schwestern eines Konventes verschiedene Begriffe auf (sorores, ancillae Dei, Deo sacratae, puellae). Eine konsequente terminologische Unterscheidung wurde also von den Quellenautoren in der Folgezeit nicht praktiziert. Eine Eigenart, die sich übrigens bis in die Gegenwartssprache fortsetzt: Während im Französischen unter ,église collégiale‘ sowohl das Männer- als auch das Frauenstift verstanden wird, meint ,Kollegiatstift‘ im Deutschen nur das Männerstift (S. 29 Anm. 85). Die Begrifflichkeit in der Frühzeit zeige, dass auch für die Zeit nach den Beschlüssen von 816 zunächst vom Nebeneinander und der Vermischtheit verschiedener religiöser Lebensformen für Frauen auszugehen sei.

Franz J. Felten untersucht in seinem Beitrag, der knapp ein Viertel des gesamten Buches ausmacht und auf inzwischen zehnjährigen Forschungen fußt, wie adelig Kanonissenstifte (und andere weibliche Konvente) im (frühen und hohen) Mittelalter waren. ”Je allgemeiner die Literatur”, so spitzt Felten zu, ”desto aristokratischer die Konvente.” Unter weitgehendem Verzicht auf zeitliche und sachliche Differenzierung gehe man davon aus, dass gerade die Frauenklöster generell und seit ihren Anfängen von ihrem ,recrutement aristocratique‘ geprägt worden seien (S. 48). Obwohl über ihre innere Organisation und ihre personelle Zusammensetzung sehr wenig bekannt ist, werden gerade die sächsischen Konvente des 9. und 10. Jahrhunderts als exklusiv adlig angesehen. Aloys Schulte, dem zwar das Verdienst gebührt, die Erforschung der Sozialstruktur von Dom- und Kollegiatkapiteln angestoßen zu haben, dürfte hieran nicht ganz unschuldig sein 4. Überprüft man nämlich die Anzahl der leitenden Personen oder Insassinnen, deren soziale Herkunft bestimmbar ist, so zeigt sich, dass ”auf Jahrhunderte hin kein auch nur annähernd plausibler Nachweis quasi-statistischer Art zu führen” ist (S. 76). Anhand der entsprechenden Einzelstudien kann Felten vielmehr sogar belegen, dass es Schulte und seinen Schülern ”weniger um eine unbefangene Untersuchung der tatsächlichen sozialen Zusammensetzung der Konvente ging, als um den Beweis für ein freiherrliches Prinzip, das in der Zeit bis ins 13. Jahrhundert ungebrochen, danach so weit wie möglich durchgehalten wurde” (S. 64). Seit Augustinus verdeutlichten zudem Regeln und andere normative Texte zum Leben der Gemeinschaften im Rückgriff auf die entsprechenden Aussagen der Bibel, dass die soziale Schichtung der Welt nicht im Kloster oder Stift reproduziert werden sollte. Die ”Welt” sollte vor der Klosterpforte haltmachen.

”Für das Früh- und Hochmittelalter”, so Felten resümierend, “– ja selbst für das späte Mittelalter – läßt sich die Sozialstruktur von Frauenkonventen nicht exakt bestimmen” (S. 74). An einigen spätmittelalterlichen Beispielen wie dem Regensburger Obermünster lässt sich indes beobachten, dass die Häuser das Geschichtsbild, das sie von ihrer Frühzeit hatten, aktuellen Realitäten und ihrem damit gewandelten Selbstverständnis anpassten. So sei es kein Zufall, dass die frühesten Statuten, die soziale Beschränkungen festschrieben und sich dabei auf die Gründungssituation und vorgeblich stifterliche Festlegungen beriefen, zeitgleich mit der ersten Kritik an der sozialen Exklusivität der sog. Säkularkanonissen in Folge der umfangreichen Konversionsbewegung des 12. Jahrhunderts auftauchten. Vor einer allzu forschen Rückprojektion der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen adligen Exklusivität auf die Frühgeschichte der Häuser sei daher ausdrücklich zu warnen. Eine derartige Verallgemeinerung der Exklusivität, die von der Quellenlage begünstigt werde, stehe in engster Wechselbeziehung mit dem Bild von der Bedeutung des Adels im Mittelalter überhaupt, das ebenso einer Überprüfung bedürfe.

Im Urteil der Kirchenreformer des 10./11. und des 14./15. Jahrhunderts, die die strengen Maßstäbe des Klosterlebens anlegten, waren Kanonissenstifte verderbte Klöster, in denen Disziplin- und Sittenlosigkeit herrschten. Die Reformer beklagten, dass Nonnen und Kanonissen die Klausur nicht einhielten, über Privateigentum verfügten, häufige Besuche von Verwandten empfingen und im geistlichen Gewand ein eigentlich weltliches Leben führten. Alles nur Topoi, die sich das gesamte Mittelalter hindurch hielten und damit auch die historische Forschung beeinflusst haben? Wenn es sich bei den Kanonissenstiften tatsächlich nur um Verfallserscheinungen gehandelt hätte, müsste man, so Immo Eberl, doch zumindest die Frage beantworten, warum dann derartige Missstände über Jahrhunderte hinweg akzeptiert und die vermeintlich heruntergekommenen Konvente auch noch von zahlreichen Wohltätern mit umfangreichen Stiftungen bedacht wurden. Und dann wäre zu überprüfen, ob die Forschung in den letzten Jahrzehnten hier nicht zu einseitig den Ansichten der Reformer und Reformen gefolgt ist (S. 275) und noch bis in ihre aktuellen Diskussionen hinein oftmals durch die benediktinisch gefärbte Brille blickt und urteilt.

Als Ursache für den vermeintlichen Verfall des geistlichen Lebens wird in der wissenschaftlichen Diskussion immer noch überwiegend die Eigenschaft der Kanonissenstifte als Versorgungsanstalt für unverheiratete Töchter des Adels angeführt. Dabei wird jedoch die Hauptaufgabe der Konvente übersehen, die, wenn man den Wortlaut ihrer Gründungsdokumente ernst nimmt, im Gottesdienst, und zwar im Stundengebet und in der Memoria für die Stifterfamilien, bestand. Das Gebetsgedenken in den Stifter- und Familiengrablegen diente der Identitätsfindung von Familien und Sippen sowie der Repräsentation adliger Herrschaft. Bekannt ist seit einiger Zeit, dass damit öffentliche Funktionen wie die Formierung, Zentrierung und Festigung der adligen Herrschaftsbildung einhergingen. Erst in jüngster Zeit ist jedoch die Bedeutung der Erziehungsfunktionen von Kanonissenstiften ins Blickfeld getreten, wie Irene Crusius hervorhebt, ihre Rolle als ”Bildungszentren” (S. 17). Die ”Wirkungsmöglichkeiten christlicher Frauen in heidnischer Ehe und Umwelt” hätten Kanonissenstifte zu ”Stützpunkte(n) einer internen Christianisierung” der frühmittelalterlichen Gesellschaft werden lassen.

Liegt hierin, fragt Crusius, möglicherweise die Erklärung für die auffällige Ballung von Kanonissenstiften in den jungen Missionsgebieten, vor allem in Sachsen? Immerhin wurden dort vom Ende des 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts etwa 55 gegründet. Denn wenn vor allem Schutz und Versorgung von adligen Töchtern und Witwen die Gründungszwecke der Häuser gewesen wären, müsste dies ja auch im Interesse des übrigen Reichsadels gelegen haben (S. 20). Darüber hinaus hätten, so Crusius, die Anforderungen bei der Versorgung des Hauses, im Finanzwesen und die Oberaufsicht über abhängige Wirtschaftshöfe der Ausbildung von ”Managerfähigkeiten” gedient, die am königlichen Hof oder auf der adeligen Burg nicht unwillkommen gewesen sein dürften (S. 22).

Stiftische Lebensweise, das könnte man als Gesamtfazit des Bandes nehmen, ist daher nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit abnehmender Frömmigkeit, Bildungsverlust oder Vernachlässigung von Gottesdiensten. Eine differenzierte Betrachtung des Nebeneinanders religiöser Lebensformen in Klöstern und Stiften scheint dem Gegenstand eher adäquat zu sein als eine nach der vollkommenen Befolgung von Regeln abgestufte Rangfolge. Denn, so die aus Peter Moraws einschlägigen Studien abgeleitete These: ”Nicht Weltflucht, Askese und Selbstheiligung sind Ziele kanonikalen Lebens, sondern das Wirken in der Öffentlichkeit” (S. 15).

Ein wenig verwirrend wirkt bei der Lektüre das Nebeneinander verschiedener Forschungsstände. Etwa wenn Gisela Muschiol, nachdem Felten die Adeligkeit der Konvente stark in Zweifel gezogen hat, die in Stiftskirchen anzutreffende Empore ”als angemessene(n) Rahmen adeliger Klausur” deutet, als ”Idee eines exklusiven Gebetsortes für Frauen”, die ”den adligen und hochadligen Damen (...) willkommen war” (S. 144). Oder wenn Edeltraud Klueting die geringe Aufmerksamkeit, die die Situation der Damenstifte am Vorabend der Reformation in der Forschung bislang gefunden hat, auf den allgemeinen Niedergang des klösterlichen und stiftischen Gemeinschaftslebens zurückführt, der das ausgehende Mittelalter kennzeichne, womit sie auf die älteren Erklärungsmuster zurückgreift. Bei allem Einsatz für das neue Forschungsobjekt sollte zudem nicht aus den Augen verloren werden, dass auch das beständige und anpassungsfähige Kanonissenstift den Konjunkturen des historischen Verlaufs unterworfen war und seine Bedeutung in diesem folglich beträchtlich schwanken konnte. In das bislang schwer überschaubare Dickicht von Quellen und Untersuchungsobjekten ist jedoch mit den drei aus der Forschungsgeschichte gewonnenen Problemkreisen eine streckenweise anregende Sichtschneise geschlagen.

1 Albert Werminghoff, Die Beschlüsse des Aachener Concils im Jahre 816, in: Neues Archiv 27 (1902) S. 605-675, hier S. 634.
2 Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 9. Aufl, Bd. 2, Berlin 1958, S. 600.
3 Studien zum weltlichen Kollegiatstift, hrsg. v. Irene Crusius. (Veröfftl. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 114; Studien zur Germania Sacra 18), Göttingen 1995.
4 Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte, 2. Aufl. (Kirchenrechtl. Abhandlungen 63-64), Stuttgart 1922.

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