Titel
Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? Mit einem Vorwort von Susannah Heschel


Autor(en)
Wiese, Christian
Reihe
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 61
Erschienen
Tübingen 1999: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XXV, 507 S.
Preis
DM 168,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Pyka, Historisches Seminar, (sowie Orientalisches Seminar der Univ. Bonn; Martin Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln, Rheinische Friedrich Wilhelms-Universität Bonn,

Der Titel ist Programm: Bei der hier zu besprechenden Arbeit von Christian Wiese, seiner 1997 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main abgeschlossenen Dissertation, handelt es sich um die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen der protestantischen Universitätstheologie und einigen der führenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums im wilhelminischen Kaiserreich. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dem Judaisten und Theologen Wiese gelingt es dabei, kenntnisreich, quellensatt und in großer Klarheit die einzelnen Kontroversen (er selbst spricht von "Diskursen") innerhalb jener Auseinandersetzung nachzuzeichnen und zu analysieren.

In seinem ersten, einleitenden Teil veranschaulicht Wiese die Grundlagen rechtlicher und geistesgeschichtlicher Art. Er zeigt sehr schön die doppelte Zielsetzung der Wissenschaft des Judentums, einerseits nämlich innerjüdisch zur Identitätsstiftung beizutragen, andererseits aber auch apologetisch die diversen Gegner jüdischer Existenz und jüdischen Selbstbewußtseins im Kaiserreich zu bekämpfen. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird dann freilich - der Fragestellung gemäß - diese zweite Stoßrichtung vorherrschend. Wiese konzentriert sich verstärkt auf die einzelnen Auseinandersetzungen und zeigt die zahlreichen Berührungs- und Konfliktfelder zwischen der Wissenschaft des Judentums und der protestantischen Theologie auf, insbesondere wie letztere von jüdischer Seite aus wahrgenommen wurde. Schwerpunkte bilden dabei die Debatte um die protestantische "Judenmission" ebenso wie diejenige um die Darstellung des pharisäisch-rabbinischen Judentums durch die neutestamentarische Zeitgeschichte (erinnert sei an Wilhelm Boussets Schlagwort vom "Spätjudentum"). Dabei finden so herausragende Gestalten wie Gustav Dalman und Hermann L. Strack, vor allem aber Franz Delitzsch besondere Beachtung. Der "Bibel-Babel-Streit" 1902/04 oder die an den "Gotteslästerungsprozeß" gegen Theodor Fritsch 1912/13 anschließenden Auseinandersetzungen um die jüdischen Wurzeln des Christentums und den Wert des ‚Alten Testaments' etwa belegen die verhängnisvolle Neigung weiter (und prominenter) Theologenkreise, einen fundamentalen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum zu konstruieren und auf diese Weise der zeitgenössischen antisemitischen Bewegung durchaus willig zuzuarbeiten. Hieraus resultiert schließlich die Frage nach der politischen Wirkung der Auseinandersetzung. Denn letztlich war sie geeignet, die Legitimität einer Fortexistenz des Judentums im wilhelminischen Kaiserreich in Frage zu stellen. Dieser Aspekt bildet den Schwerpunkt der Arbeit in ihrem dritten Hauptteil. Hier zeigt Wiese insbesondere das Verhältnis der beiden liberalen Strömungen in Judentum und Protestantismus zueinander. Es wird deutlich, wie stark die Unterschiede zwischen beiden waren, ungeachtet ihrer großen Affinität. Dieser "spannungsvollen Mischung von Nähe und antithetischer Abgrenzung" (S. 286) entsprang nach Wiese gerade der schwierige Umgang miteinander, den Martin Buber so treffend als "Vergegnung" charakterisiert hat.

Gerade in diesem Kapitel zeichnet sich Wieses Arbeit dadurch aus, daß sie das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums aus der jüdischen Perspektive zeigt. Auf diese Weise gelingt es, das so wirkungsmächtige Urteil Gershom Scholems zu relativieren, daß es sich bei den Erträgen der Wissenschaft des Judentums lediglich um würdelose Apologetik gehandelt habe. Vielmehr gelingt es Wiese immer wieder, auch die Leistungen der Wissenschaft des Judentums zu zeigen und ihre selbstbewußt vorgetragenen Ergebnisse zu würdigen. Mehr noch als der Erweis antijüdischer und antisemitischer Tendenzen innerhalb der protestantischen Universitätstheologie jener Zeit ist dies um so mehr hervorzuheben, da vor diesem Hintergrund das theologische Wissenschaftsverständnis kritisch hinterfragt werden muß - auf Grund ihrer Ignorierung fachfremder Ergebnisse insbesondere zu den Evangelien verdeutlicht Wiese immer wieder den apologetischen bzw. affirmativen Charakter auch der protestantischen Theologie, sogar in ihrer historisch-kritischen Ausrichtung. Hier betreibt Wiese ‚counterhistory' im besten Sinne 1.

Schwieriger wird es bei dem zweiten Verdikt Scholems über die Arbeit der Wissenschaft des Judentums, an das Wiese anknüpft. Der in Berlin geborene und 1923 nach Jerusalem ausgewanderte Scholem, einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, hatte in seiner Polemik "Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch" der Wissenschaft des Judentums attestiert, daß ihre wissenschaftlichen Versuche, außerhalb jüdischer Kreise zu wirken, immer nur ein "Schrei ins Leere"2 gewesen seien. Wiese unterläßt jedwede Problematisierung der Haltung Scholems. Dennoch zeigt er im Laufe seiner Arbeit immer wieder, daß sich die Rezeption jüdischer Wissenschaftler durch protestantische Theologen nicht so einfach negieren läßt. Um so bedauerlicher ist es, daß Wiese es jedoch des öfteren dabei bewenden läßt. Manche Äußerung protestantischer Theologen beispielsweise, die quer zur vorherrschenden Meinungsbild ihrer Disziplin steht, findet sich bestenfalls kurz abgehandelt wie etwa die Kritik des Bremer Pfarrers Friedrich Steudel an Bousset (S. 155f.); andere, ähnliche Positionen finden sich nur in Fußnoten. Dies ist einerseits wohl auf die Herangehensweise Wieses mit ihrer starken Konzentration auf das Kernthema zurückzuführen. Andererseits führt dies zur Ausblendung von abweichenden Haltungen vom mainstream, welche gerade der Kontextualisierung bedurft hätten. Wenn man also im Bilde Scholems bleiben will, so muß man konstatieren, daß Wiese zwar den "Schrei" detailliert und genau analysiert, aber innerhalb des antwortenden lauten Schweigens auf die trotz allem vorhandenen Zwischentöne zu wenig hört.

Manche Differenzierung des Urteils hätte sich vermutlich darüber hinaus ergeben, wenn der Horizont weiter gewählt worden wäre. Dies gilt beispielsweise in bezug auf die Medien, derer sich die einzelnen Diskutanten bedienten. In seiner Einleitung stellt Wiese lediglich die wichtigsten Organe auf beiden Seiten vor, doch ist es etwa auffällig, daß zahlreiche Äußerungen jüdischerseits in Zeitschriften der Orientalistik veröffentlicht wurden, was Wiese in keiner Weise thematisiert. Dieses Fach kann nun nicht unbedingt als ‚philosemitisch' oder gar als zur Wissenschaft des Judentums gehörig bezeichnet werden, ungeachtet der engen personalen Verzahnung (die es aber auch mit der Theologie gemein hatte). Vielmehr waren Existenz und Aufgaben der Orientwissenschaften stets ein Argument christlicherseits, mit dem jüdische Forderungen nach einer eignen Vertretung an den Universitäten abgeschmettert wurden. Nicht zuletzt aus diesen Gründen wäre eine stärkere Einbeziehung der Orientalistik relevant gewesen.

Gravierender erscheint jedoch die nicht immer ausreichende Verortung der protestantisch-theologischen Haltung. Insbesondere bei der Auseinandersetzung um Lehrstühle oder gar Fakultäten für die Wissenschaft des Judentums hätte etwa die Frage nach dem Machterhalt, auch im Sinne des Erhalts der Deutungsmacht, gestellt werden müssen. Wie bereits Steven S. Schwarzschild gezeigt hat, sah sich die liberale protestantische Theologie in der Rolle des kulturellen Hegemons innerhalb des preußisch-deutschen Staates 3. Insofern trat die Theologie also auch als Pfründenwahrer auf und sah sich in der Position, sich gegen theologische, aber auch säkulare Konkurrenz verteidigen zu müssen. Die jüdische Herausforderung wäre demzufolge nicht (nur) wegen ihres jüdischen Hintergrundes bekämpft worden. Damit werden zwar nicht die Auslassungen der einzelnen Protagonisten wie etwa Franz Delitzschs gerechtfertigt, doch würde sich in der Gesamtschau über das Verhältnis der protestantischen Theologie zur Wissenschaft des Judentums die ein oder andere Differenzierung ergeben.

Fazit: Wenngleich also ein Mehr an Tiefenschärfe und Kontextualisierung bisweilen zu begrüßen gewesen wäre, so handelt es sich doch um eine informative und ergiebige Studie, die vermutlich neben einem historisch orientierten Publikum insbesondere bei Theologen auf grundlegendes Interesse stoßen wird. Denn auch über die Fachwissenschaft hinaus erleichtert Wieses flüssiger und gut lesbarer Stil die Bewältigung der schwierigen Materie.

Anmerkungen:
1 Vgl. Heschel, Susannah: Jewish Studies as Counterhistory. In: Biale, David/ Michael Galchinsky und Susannah Heschel (Eds.): Insider/Outsider. American Jews and Multiculturalism. Berkeley, Los Angeles, London 1998, S. 101-115. - Vgl. auch Heschel, Susannah: Abraham Geiger and the Jewish Jesus. Chicago, London 1998. Nun auch in deutscher Übersetzung von Christian Wiese: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Berlin 2000 (=Sifria, Bd. 2).
2 Scholem, Gershom: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964). In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt am Main 1970 (=Bibliothek Suhrkamp), S. 7-11, Zitat S. 8.
3 Vgl. Schwarzschild, Steven S.: The Theologico-Political Basis of Liberal Christian-Jewish Relations in Modernity. In: Das deutsche Judentum und der Liberalismus - German Jewry and Liberalism. Dokumentation eines internationalen Seminars der Friedrich-Naumann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, London. Sankt Augustin 1986 (=Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung: Liberale Texte), S. 70-95, hier bes. S. 79.

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