H. Schilling (Hg.): Institutionen, Instrumente ....

Titel
Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa.


Herausgeber
Schilling, Heinz
Reihe
Ius Commune Sonderheft; 127
Erschienen
Frankfurt a.M. 1999: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
VIII + 360 S.
Preis
€ 64,00
Wittke, Margarete

Der Sammelband ist hervorgegangen aus dem bereits seit 1996 bestehenden internationalen Forschungsprojekt "Soziale Kontrolle in der frühen Neuzeit: Das Alte Reich im europäischen Vergleich". Die Mehrzahl der Autoren fand sich im Herbst 1997 zu einer Tagung zusammen, auf der, wie der Herausgeber formuliert, "die 'reine Lehre' auf erfrischende Weise ins Unrecht" gesetzt wurde (VII). Gemeint ist damit vor allem der Versuch des Brückenschlags zwischen den in der Vergangenheit einander vielfach geradezu feindlich gegenüberstehenden Strömungen Mikrohistorie und Makro- bzw. Strukturgeschichte.

Heinz Schilling hält es im ersten Teil des einleitenden Aufsatzes: "Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschafts- und Kulturgeschichte" - offensichtlich im Hinblick auf die in den letzten Jahren massiv geäußerte Kritik an dem von Gerhard Oestreich geprägten Terminus "Sozialdisziplinierung" - für unerlässlich, diesen Begriff erneut als ein Hilfsmittel für die geschichtswissenschaftliche Modellbildung zu unterstreichen. Der gerade gegenüber Oestreich immer wieder geäußerten "Globalkritik" hält er vor, dass "geschichtswissenschaftliche Interpretamente [...] nie für sich in Anspruch nehmen [wollen] Realität zu sein" (8). Die Theorie der Sozialdisziplinierung sei - wie auch die Rationalisierungs- und Modernisierungstheorie Max Webers - von vornherein offen für "notwendige Modifikationen und Adaptationen" gewesen. Insbesondere die Konfessionsforschung habe schon früh die etatistische Ausrichtung des Konzepts kritisiert und überwunden. Dennoch schlägt Schilling vor, das gesamte Forschungsfeld, d.h. nicht nur die obrigkeitliche Disziplinierung, sondern auch die Kontrollmechanismen im privaten gesellschaftlichen Umgang, nunmehr als "Disziplinierungsforschung" zu umreißen:

· Ein dermaßen weit gefasstes Forschungsfeld könne "multiperspektivisch" (16) und komplementär über die ursprünglichen Kernbereiche der Sozialdisziplinierung, nämlich Staat, Kirche, Justiz, Verwaltung, hinaus auch die gesellschaftlichen Teilbereiche "Ehe und Familie, Nachbarschaften, Zünfte, Bruderschaften, Militär" oder etwa "Phänomene wie Ehre, Geschlecht und Erziehung" einbeziehen (16).

· Es ermögliche aufgrund der Vielzahl der bereits in Europa entstandenen Studien, die bislang allenfalls "innerzivilisatorisch" verglichen wurden, Ansatzpunkte für "interzivilisatorische" Komparatistik (20).

· Das weite Themenspektrum lege per se einen Methodenpluralismus nahe, der die Perspektiven "von oben" und "von unten" , sowie Mikro- und Makrogeschichte gleichermaßen berücksichtigen sollte (23).

· Die Begriffe "Sozialdisziplinierung", "soziale Kontrolle", "Sozialregulierung", "Zucht als Straf- oder Sündenzucht", "Kriminaljustiz", "Policeyordnungen" etc. stünden grundsätzlich nicht im Gegensatz zueinander, sondern böten, sich gegenseitig ergänzend, ein flexibles "Begriffsinstrumentarium zur Aufschlüsselung historischer Realität" (26).

· Die "Disziplinierungsforschung" lasse sich nicht auf eine "Kulturgeschichte ohne makro- oder strukturgeschichtliche Perspektive" reduzieren (28), sondern habe statt dessen die Ergebnisse interdisziplinärer Forschung zu Politik, Recht, Philosophie, Theologie, Pädagogik, Verwaltung und Militär einzubeziehen.

Insbesondere der multiperspektivische Ansatz lässt sich in allen Aufsätzen dieses Sammelbandes nachvollziehen. Obwohl vom Herausgeber als überwiegend "makrohistorisch" eingestuft, berücksichtigen die vier Aufsätze zum Themenspektrum "Justiz, Militär, Kirche" auch die gegenseitige Durchdringung von Mikro- und Makroebene: Karl Härter (Social Control and Enforcement of Police-Ordinances in Early Modern Criminal Procedure, 39 - 63) untersucht die Durchsetzung von Policeyordnungen im Strafverfahren, wobei er auch den Einfluss "von unten" auf das Strafmaß, insbesondere in Form von Fürbitten, mit in seine Betrachtungen einbezieht. Ralf Pröve (Dimension und Reichweite der Paradigmen "Sozialdisziplinierung" und "Militarisierung" im Heiligen Römischen Reich, 65 - 85) betrachtet vornehmlich die Einquartierungen in Bürgerhaushalten unter dem Aspekt der "Sozialdisziplierung", bezieht indes aber auch die "konterkarierenden Synergieeffekte von 'unten' nach 'oben'" (84), die sich aus dem engen Zusammenleben von Soldaten und Bürgern unter einem Dach ergeben konnten, ein. Die beiden Aufsätze zum Thema Kirche (Martin Ingram: History of Sin or History of Crime? The Regulation of Personal Morality in England, 1400 - 1780, 87 - 103 und Frank Konersmann: Presbyteriale Bußzucht aus zivilisationsgeschichtlicher Perspektive. Kirchenzucht pfälzischer und provenzalischer Presbyterien zwischen 1580 und 1780, 104 - 146) beschäftigen sich mit der Überlappung von strafrechtlichen und kirchlichen Disziplinierungsformen. Ingram führt aus, dass gerade die Konkurrenz zwischen weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit im England des 18. Jahrhunderts zu einer Lockerung der Sittenstrenge führte. Konersmann beschreibt die Disziplinierungsmöglichkeiten des Schlüsselamtes, das - unter Beteiligung von Laien - sittliche und doktrinäre Vergehen bestrafte.

Im Themenblock "Armenfürsorge, Erziehung, Nachbarschaft und Ehre" widmen sich die Autoren besonders den Grenzen obrigkeitlicher Disziplinierung. Maarten Prak (The Carrot and the Stick: Social Control and Poor Relief in the Dutch Republic, Sixteenth to Eighteenth Centuries, 149 - 166) zeigt auf, dass die Institutionalisierung staatlicher Armenfürsorge und die Reglementierung der Armen in den Niederlanden aufgrund der administrativen Zersplitterung des Landes nur rudimentär durchzusetzen war. Auch das Ausmaß der Diszplinierung der Untertanen durch Schulzwang und -zucht muss nach der Studie von Stefan Ehrenpreis (Sozialdisziplinierung durch Schulzucht? Bildungsnachfrage, konkurrierende Bildungssysteme und der 'deutsche Schulstaat' des siebzehnten Jahrhunderts, 167 - 185) relativiert werden. Aufgrund der Konkurrenz der Glaubensrichtungen entstand eine Vielzahl von höheren Schulen. Die dadurch gegebenen Wahlmöglichkeiten wurden von den Eltern sowohl über die Konfessions- als auch die Territorialgrenzen hinaus genutzt. Carl A. Hoffmann (Nachbarschaften als Akteure und Instrumente der sozialen Kontrolle in urbanen Gesellschaften des sechzehnten Jahrhunderts, 187 - 202) untersucht am Beispiel der Reichsstadt Augsburg die zwiespältige Rolle der städtischen Nachbarschaften im Spannungsfeld Obrigkeit-Untertanen auf lokaler Ebene und zeigt auch hier auf, dass die Durchsetzung obrigkeitlicher Reglementierungen mit Hilfe der Nachbarschaften sowohl unterstützt als auch torpediert werden konnte. Obwohl obrigkeitliche Sanktionen gegen Ehrenhändel, insbesondere auch Duelle ausgesprochen wurden, schildern Tomás A. Mantecón (Honour and Social Discipline in Early Modern Spain, 203 - 223) und Marco Bellabarba (Honour, Discipline and the State. Nobility and Justice in Italy. Fifteenth to Seventeenth Centuries (225 - 248), dass Verhaltensänderungen im Sinne einer Disziplinierung bzw. Zivilisierung (Mantecón, 222), da wo individuelle oder gruppenspezifische Ehrenkodizes betroffen waren, nur langsam und indirekt, ja "sanft" (Bellabarba, 248) zu erreichen waren.

Unter der Überschrift "Fallstudien" verbergen sich schließlich vier Aufsätze, die nicht Einzelfälle in den Mittelpunkt des Interesses stellen, sondern der Frage nach Disziplinierung der Untertanen von 'oben' auf staatlicher bzw. sogar überstaatlicher Ebene nachgehen. Xavier Rousseaux ('Sozialdisziplinierung', Civilisation des moeurs et monopolisation du pouvoir. Eléments pour une histoire du contrôle sociale dans les Pay-Bas méridionaux 1500 - 1815, 251 - 274) untersucht die Bemühungen niederländischer Regierungen um Herrschaftsverdichtung, während Ute Lotz-Heumann (Social Control and Church Discipline to Ireland in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, 275 - 304) die Bestrebungen der katholischen wie der anglikanischen Kirche, Einfluss auf die irischen Untertanen zu nehmen und diese jeweils im Sinne der eigenen Religion zu konfessionalisieren und zu disziplinieren, in den Blick nimmt. Für die skandinavischen Länder konnten Ditlev Tamm und Jens Chr. V. Johansen (Social Control in Early Modern Scandinavia, 305 - 324) eine Stärkung disziplinierender Tendenzen seit der Reformation ausmachen. Lars Behrisch (Social Discipline in Early Modern Russia, Seventeenth to Nineteenth Centuries, 325 - 357) erforscht die frühmoderne Gesellschaft Russlands und kommt zu dem Schluss, dass staatliche Disziplinierungsbemühungen für die große Mehrheit der Bevölkerung, Städter und Bauern, ohne Bedeutung blieben. Auch die Autoren im letzten Block betonen, selbst wenn sie eine Verstärkung staatlicher Disziplinierungsmaßnahmen konstatieren, letztlich die Grenzen, die Nichtgradlinigkeit und die gegenläufigen Entwicklungen der Disziplinierungsprozesse.

Der Sammelband ist nicht nur als Angebot zu sehen, Gräben zu überbrücken, er stellt zugleich ein engagiertes Plädoyer für Pragmatismus, Offenheit und Flexibilität in der Forschung dar. Dies zeigt sich sowohl in den einzelnen Beiträgen, deren Autoren sich zumeist "multiperspektivisch" ihrem Untersuchungsgegenstand nähern, als auch in der Gesamtkonzeption des Bandes, die keinerlei Anspruch auf Geschlossenheit oder gar Vollständigkeit erhebt, sondern "Mosaiksteine" (35) in einer weiter auszubauenden Forschungslandschaft liefern will. Der Impetus einer internationalen Ausrichtung wird nicht nur durch die Themenauswahl, sondern auch durch die äußere Form - der Sammelband ist dreisprachig - unterstrichen.

Schilling plädiert für einen flexiblen Umgang mit den Termini "Sozialdisziplinierung" und "soziale Kontrolle" etc. Die einzelnen Aufsätze zeigen allerdings, dass durch eine allzu freie Auslegung dieser Begriffe der ohnehin aufgrund stark divergierender Rahmenbedingungen schwierige Vergleich der Untersuchungsgebiete zusätzlich erschwert wird. Angesichts der Vielzahl der Verständigungsprobleme der Vergangenheit - auf die der Herausgeber schließlich ausführlich eingeht - stellt sich die Frage, ob ein Festhalten an einem offensichtlich veralteten Begriffsinstrumentarium überhaupt noch sinnvoll ist. Sicher darf man gespannt darauf sein, wie die Gegner der Sozialdisziplinierungstheorie im Sinne Oestreichs diesen Sammelband aufnehmen werden.

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