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Titel
Mutterwerden in Deutschland. Eine ethnologische Studie


Autor(en)
Kneuper, Elsbeth
Reihe
Forum Europäische Ethnologie 6
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Annemarie Gronover, Ludwig-Uhland-Institut, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Ethnologin Elsbeth Kneuper, die sich 1999 mit einer einschlägigen Studie über Selbst- und Weltbilder feministischer Bestatterinnen in einer deutschen Großstadt magistrierte 1, führt in ihrer bemerkenswerten Doktorarbeit über das Mutterwerden in Deutschland zum einen das Thema Schwangerschaft fort und leistet zum anderen einen Beitrag zur ethnologischen Forschung in der eigenen Gesellschaft.

Kneuper fragt, wie schwangere Frauen sich als Akteurinnen im Prozess der „Prokreation“ (Reproduktion) der eigenen Gesellschaft wahrnehmen und wie sie wahrgenommen werden. Ferner erforscht sie, wie sich Umbrüche im sozialen Leben der Frauen – die berufliche Benachteiligung und somit der Ausschluss aus ökonomischen Tauschsystemen sowie ihre neue familiäre und gesellschaftliche Rolle als Mutter – in den Biografien manifestieren.

Die These der Studie ist erstaunlich: Kneuper legt ausführlich dar, wie Mutterwerden in Deutschland als Ritual verstanden werden kann, in dem Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett als Übergangsprozesse fungieren, und wiegt den Leser in dem Glauben, dass der Beitrag der Schwangeren zum Prokreationsprozess von hohem Stellenwert sei. Sie kommt dann jedoch zu dem Schluss, dass Mutterwerden in Deutschland ein marginales Phänomen ist: „Der Konflikt zwischen Mutter und Kind ist […] ein Spezifikum unserer Gesellschaft.“ (S. 264) Der Beitrag der Mutter zum Prokreationsprozess wird weder finanziell noch symbolisch gewürdigt, während hingegen das Kind als „Produkt“ im Zentrum steht.

Die Dissertation ist in drei Hauptteile gegliedert. In der Einleitung erörtert die Ethnologin ihre Methodologie. Die Datenerhebung erfolgte über 18 Monate mit 23 schwangeren Frauen im Alter von 25 bis 37 Jahren, mit denen sie wöchentlich freie Gespräche und teilnehmende Beobachtung durchführte. Ferner nahm Kneuper an Geburtsvorbereitungs- und Rückenbildungskursen teil, begleitete die werdenden Mütter mit zu Ärzten und Hebammen, setzte sich mit dem Bild der Schwangeren in den Medien auseinander und führte Experteninterviews mit GynäkologInnen, Hebammen, Mitarbeiterinnen in Praxen und mit dem Pflegepersonal in Krankenhäusern durch. Begleitend zur Datenerhebung nahm die Ethnologin eine Supervision bei einer klientzentriert arbeitenden Psychotherapeutin und Supervisorin – nicht zuletzt wegen der Schwierigkeit der Distanzhaltung zu den Informantinnen – in Anspruch.

Im ersten Hauptkapitel – „Zwischen Windeln und Wünschen“ – stehen die Selbstaussagen der Informantinnen im Zentrum. Die Autorin orchestriert die Interviewausschnitte mit knappen Zusammenfassungen, die den Argumentationsgang leiten. Schwangerschaft als ein Prozess mit rituellem Charakter hat, so Kneuper, durch die Erstuntersuchung als ein soziales Faktum begonnen und leitet eine „Verlagerung des Lebensschwerpunktes von der öffentlichen hin zur privaten Sphäre, der zugleich eine Akzentuierung der Frauenrolle ist“ (S. 85), ein. Kneuper illustriert den Weg der Schwangeren mit den einzelnen Stunden der Geburtsvorbereitungskurse – ein Übergangsritual, das in der Geburt seinen Abschluss findet, wobei das Ende des Prozesses aus Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett erst durch das Abstillen gegeben ist. Im zweiten Kapitel – „Rituale, Diskurse, Körper“ – arbeitet die Autorin mit diskursanalytischen Konzepten zur Interpretation der Daten und diskutiert die Ergebnisse mit den jüngsten Ansätzen der Medizinanthropologie und vor deren historischen Hintergrund. Sie trägt zudem feministischen Theorien Rechnung und leistet einen außereuropäischen Kulturvergleich hinsichtlich des Verlaufs der Schwangerschaften.

Im dritten Kapitel – „Die Mutter im Schatten des Fetus“ – begründet die Ethnologin überzeugend ihre These. Die Hauptrolle bei der Initiation zur Mutter ist der Fetus, nicht das Subjekt Frau oder die werdende Mutter. Kneuper spricht von einem „Pädozentrismus“ der besagt, dass das Bild – auch sinnbildlich und real an den Ultraschallbildern der Feten festzumachen – die Rolle der Mutter und ihren Anteil am Prokreationsprozess unterminiert beziehungsweise verdrängt. Was liegt diesem Konflikt zwischen Mutter und Kind beziehungsweise dem Paradox zu Grunde, dass Mutterwerden einher geht mit der Schwächung der Position der Mutter?

Ausgehend von einem vermeintlichen objektiven biomedizinischen Diskurs, der die soziale Sphäre der Frauen versachlicht und diese gerade durch nachvollziehbare gesetzmäßige Kontrollen handhabbar macht, werden Frauen über den von ihnen selbst bemühten Naturdiskurs, der „die zeitlosen Güter des naturnahen Lebens“ profiliert, „die sich nicht mehr in Status und Macht ummünzen lassen“ (S. 266), aus den gesellschaftlichen Tauschsystemen verdrängt. Die Opposition zwischen dem Medizin- und dem Naturdiskurs speist sich einerseits aus der Annahme, das ersterer als „männlich“ gedacht und mit der Biomedizin assoziiert wird – hier geht es um Kontrolle und Machbarkeit. Andererseits entsteht die Opposition aus dem Rückgriff auf Vergleiche zwischen so genannten außereuropäischen Naturvölkern mit der eigenen Gesellschaft. Der hier angenommene universelle (Frauen-)Körper ohne kulturspezifische Merkmale setzt die Kategorie „weiblich“ – im Gegensatz zu männlich – voraus. Beachtenswert ist im folgenden Argumentationsgang, dass die Schwangeren auf alternative oder natürliche Methoden zur Behebung von Schwangerschaftsproblemen dann zurückgreifen, wenn tatsächlich keine Risiken – laut biomedizinischer Diagnose – therapiert werden müssen. An der Schnittstelle zwischen Medizin- und Naturdiskurs verzahnt sich nun der psychologische Diskurs, der das Paradox der Schwächung der Position der werdenden Mutter herauskristallisiert. Frauen lassen sich zwar im Rekurs auf den Naturdiskurs nicht von der Biomedizin vereinnahmen, sie nutzen aber deren Vorzüge zur Sicherheit und dem Wohl des Kindes, das im Zentrum steht. Eine Folge ist, dass die Mutter im Rekurs auf die Biomedizin nicht gemeinsam mit dem Kind, dem Fetus, in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Der Naturdiskurs wird ihr dagegen als genuin zugeschrieben und oder von ihr angenommen. Kneuper erläutert weiter, dass die Marginalisierung der Mutter im Prokreationsprozess nicht nur ein Ergebnis des westlichen Medizindiskurses und dessen vermeintliche Neutralität gegenüber sozialen Tatsachen ist. Vielmehr sind der benachteiligte ökonomische Status von Frauen und ihre finanzielle Abhängigkeit vom Partner sowie ihre geringere Rente auch im Zusammenhang mit ökonomischen und sozialen Entwicklungen der Gesellschaft zu betrachten.

Warum Frauen diese Benachteiligungen in Kauf nehmen, beantwortet Kneuper knapp. Frauen nehmen das bestehende System nicht nur hin, sondern stützen es gleichzeitig. Sie machen zwar den Staat für ihre Benachteiligungen, zum Beispiel im Berufsleben und hinsichtlich mangelnder Kinderbetreuung, verantwortlich, aber übertragen diese emanzipatorischen Bestrebungen nicht auf ihre Partner. Eine Pattsituation, die das individuelle Handeln der Frauen in Auseinandersetzung mit den hegemonialen Diskursen der Biomedizin und Vorstellungen von Gender herausfordert.

Auch wenn die von mir als schwierig empfundene Leseführung durch spärliche Unterüberschriften im Inhaltsverzeichnis und im Text (eine Nummerierung fehlt ganz) den Lesefluss dann und wann behindern, so ist diese Studie durchaus empfehlenswert. Dem ethnologischen Publikum, weil es aufgrund der dichten und äußerst interessanten empirischen Daten und ihrer originellen Interpretation einen wesentlichen Beitrag zur medizinanthropologischen Forschung leistet. Aber auch für ein breites Publikum, vor allem für schwangere Frauen, sei diese Dissertation empfohlen. Sie gibt komplexe Einblicke in eine bisher kaum oder nicht thematisierte Sicht der Schwangeren auf sich selbst und ihre diskursive Verhandlung samt ihrer Feten beziehungsweise Kinder in der Öffentlichkeit.

Kneupers wissenschaftlicher Witz und ihre Eigenwilligkeit, mit der sie das Buch gestaltet, drückt sich im Schlusssatz ihrer Studie aus: „Die damit verbundene Abwertung von Frauen treibt die seltsamsten Blüten, von denen ich hier in Gestalt eines Ausspruches von Helmut Kohl nur eine präsentieren möchte: ‚Wer ja sagt zur Familie, muss auch ja sagen zur Frau.‘ – Da können die Frauen ja froh sein, dass es die Familie gibt, nicht wahr?“ (S. 268)

Anmerkung:
1 Kneuper, Elsbeth, Tod, Weiblichkeit, Repräsentation. Forschen in einem deutschen Bestattungsinstitut (Medizinkulturen im Vergleich 17), Münster 1999.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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