Cover
Titel
Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005


Autor(en)
Bald, Detlef
Reihe
Beck'sche Reihe 1622
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bruno Thoß, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Im Jubiläumsjahr 2005 haben Erfolgsbilanzen und Bildbände zur 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr Konjunktur, und das durchaus mit einem gewissen Recht – wird man dieser deutschen Armee doch attestieren müssen, dass sie ihren Auftrag im Gegensatz zu ihren Vorgängern im Wesentlichen mit friedlichen Mitteln zu erfüllen vermochte. Ebenso notwendig erscheint es freilich, bei aller Feststimmung die Probleme und Brüche aus diesem halben Jahrhundert deutscher Militärgeschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Detlef Bald, langjähriger Mitarbeiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, ist dazu besonders prädestiniert, hat er doch immer wieder eine kritische Meßlatte an ihre Geschichte angelegt, so insbesondere an ihre Offiziersausbildung, an ihren Umgang mit dem Traditionsproblem und an die innenpolitisch höchst umstrittene Debatte um ihre Atombewaffnung. Aus seinen Analysen zum Innenleben der Streitkräfte und ihrer Verankerung in der zweiten deutschen Republik gewinnt auch die jetzt vorgelegte Gesamtdarstellung ihre eigentlichen Stärken. Dazu sind drei Leitperspektiven gewählt worden, die sich mit der Einordnung der Bundeswehr in die deutsche Militärgeschichte, mit ihrer internationalen Einbindung und Kontrolle sowie mit ihrer Integration in das demokratische System der Bundesrepublik befassen.

Überzeugend stellt Bald dem das Paradigma der „Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem“ voran (S. 10). So lässt sich schon am Beispiel des auf lange Sicht wirksamsten Bruchs mit der Vergangenheit, dem neuen Soldatenbild im Rahmen der Inneren Führung, auf Seiten des politischen Auftraggebers eine seltsame Mischung aus Reformforderungen und partieller Distanz von manchen Konsequenzen ihrer Umsetzung erkennen. Aber auch in den Streitkräften selbst rieb sich eine später als reformerisch apostrophierte Minderheit an einer vorrangig der militärischen Effizienz verpflichteten Mehrheit im Offizierkorps. Letztere konnte sich auf die dominierenden Bedrohungsannahmen im Kalten Krieg und die daraus abgeleiteten Forderungen der NATO nach schneller Einsatzbereitschaft der für eine Vorneverteidigung unverzichtbaren deutschen Verbände stützen. Die damit verbundene Skepsis gegenüber der Inneren Führung als einer der Kriegstauglichkeit entgegenstehenden „weichen Linie“ zeichnete denn auch verantwortlich für die Langlebigkeit eines geschönten Bildes der Wehrmacht: Diese stand für vermeintliche militärische Effizienz und Distanz zum NS-Staat, obwohl sie doch dessen unverzichtbares Eroberungsinstrument gewesen war. Zu Recht kritisiert Bald deshalb den Kompromisscharakter des ersten Traditionserlasses von 1965 als beispielhaft dafür, dass es über einen zu langen Zeitraum hinweg an der Kraft zur Klarheit gegenüber diesem Teil deutscher Militärgeschichte gefehlt habe.

Vorentscheidend dafür, dass sich das am „Staatsbürger in Uniform“ ausgerichtete Reformmodell trotz aller Widerstände letztlich doch durchsetzte, war der gelungene Einbau der Wehrverfassung in die Vorgaben der grundgesetzlichen Ordnung. Eine Art Übereinkunft zwischen allen Parteien im Deutschen Bundestag und im Verteidigungsausschuss schuf dafür trotz aller fortdauernden Gegensätze über den Allianzbeitritt die innenpolitische Voraussetzung. Nicht zu übersehen sind allerdings auch die von Bald herausgearbeiteten restaurativen Züge in der Personalgewinnung, durch die sich ein so weitreichender Reformansatz zumindest in der Aufbauphase der Bundeswehr auf ein Führer- und Unterführerkorps stützen musste, dem die neuen Führungs- und Erziehungsvorstellungen zunächst fremd blieben. Hier wäre allerdings ein Verweis darauf hilfreich gewesen, wie sehr sich die Skeptiker auf das Drängen der eigenen politischen wie der NATO-Führung nach rasch einsetzbaren Kampfverbänden stützen konnten.

Das führt zu einer grundsätzlicheren Frage an den von Bald gewählten Zugang. Unstrittig ist die zentrale Bedeutung der kritisch herausgearbeiteten inneren Verfasstheit der neuen Armee sowie ihrer Standortbestimmung in Staat und Gesellschaft. So legitim ein derartiger sektoraler Zugriff auf die Geschichte der Bundeswehr auch sein mag, so lässt er die mindestens ebenso gewichtige Frage nach ihrem militärischen Auftrag als dem eigentlichen Daseinszweck von Streitkräften doch zu sehr zurücktreten. Das beginnt bereits bei der Frage nach den westlichen Bedrohungsannahmen, die Anfang der 1950er-Jahre konstitutiv waren für die Forderungen der Westmächte nach einem Militärbeitrag der Bundesrepublik. Die Forschung hat seither gewiss einige Korrekturen an dem damals öffentlich behaupteten extremen Übergewicht der sowjetischen Streitkräfte angebracht. Ihr militärisches Gewicht und die seit 1948/49 zusätzlich eingeleitete Aufrüstung in der SBZ/DDR aber ganz aus der Betrachtung auszublenden wird den darauf abhebenden Entscheidungsprozessen in Bonn wie bei der NATO nach Ausbruch des Koreakrieges nicht gerecht.

Problematisch erscheint auch die Bewertung der „Himmeroder Denkschrift“ als militärisches Einstiegsdokument in die deutsche Aufrüstung. Dass sich der Bundeskanzler im Sommer 1950 vor dem Hintergrund eigener Bedrohungsannahmen und immer eindeutigerer Erwartungen der Westmächte nicht öffentlich ein Szenario über deutsche Verteidigungsoptionen anfertigen ließ, geschah mit stillschweigendem Einverständnis der Besatzungsmächte und war den nach wie vor geltenden Entwaffnungsbestimmungen geschuldet. Dem Dokument aber das Etikett „streng geheimer Masterplan für die Aufrüstung“ jenseits aller parlamentarischen Einflussmöglichkeiten anzuheften (S. 33), überschätzt die tatsächliche Bedeutung der Denkschrift. Nicht auf ihrer Grundlage, sondern auf der Basis der wesentlich davon abweichenden NATO-Vorgaben sollte die Bundeswehr nämlich ab 1955 aufgebaut werden.

Zur besonderen Belastung sollte während des gesamten Kalten Krieges das grundlegende strategische Dilemma der Bundesrepublik werden: dass sie als Frontstaat der Kernabsicht der Allianz von Kriegsverhinderung durch Abschreckung zustimmte, im Falle ihres Scheiterns jedoch inakzeptable Schäden als atomares Schlachtfeld hinzunehmen haben würde. Die politische und militärische Führung in Bonn mochte darauf setzen, dass sich die nuklearen Abhängigkeiten der NATO in dem Maße verringern würden, wie die Bundeswehr die seit 1948/49 ausgemachte Streitkräftelücke in Mitteleuropa schließen konnte. Mit dem Beitritt zum Bündnis hatte man jedoch in Kauf zu nehmen, dass die eigenen Verteidigungsplanungen auf den Vorgaben einer atomaren Vergeltungsstrategie („massive retaliation“) aufbauten. Der dahinterstehenden Vorstellung von atomarer als vermeintlich billigerer Verteidigung aber lag eine eindeutig politische Entscheidung zugrunde, die nunmehr militärisch umzusetzen war. Dabei stellt Bald die Rolle der Bundeswehrführung bei weitem zu aktiv dar. Die Generale Heusinger und Speidel zeigten sich nämlich, wie die Bundeswehrakten dokumentieren, keineswegs als so unbedingte Anhänger atomarer Gefechtsführung, wie Bald dies annimmt. Ob ihre operativen Überlegungen einer beweglich geführten großen Land-Luft-Schlacht als Gegenmittel geeignet gewesen wären, um die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen wesentlich zu erhöhen, wird man mit guten Gründen bezweifeln dürfen. Dass aber die Bundeswehrführung in enger Kooperation mit den für die Zivilverteidigung Verantwortlichen durchgängig nach schadensbegrenzenden Auswegen suchte, widerspricht dem Vorwurf ihrer atomaren Bedenkenlosigkeit.

So notwendig mithin der Einstieg in eine kritische Bundeswehrgeschichte über ihre Einordnung in Staat und Gesellschaft ist, wird sich die Forschung doch mindestens ebenso sehr ihrer Rolle im Bündnis zuwenden müssen. Dazu gehören Fragestellungen über das Verhältnis von Allianzvorgaben und nationalen Spielräumen ebenso wie die Strategieentwicklung zwischen Abschreckung und Verteidigung oder das Zusammenspiel von nationaler Rüstungsproduktion und internationaler Kooperation. Mit Blick auf die Neugestaltung des Auftrages von Streitkräften nach dem Ende des Kalten Krieges wird schließlich auch die bereits in den 1950er-Jahren gestellte Frage nach der Wehrform – Freiwilligen-, Wehrpflicht- oder Berufsarmee – in historischer Perspektive zu diskutieren sein. Die wichtigste Voraussetzung für eine solche Ausweitung der Bundeswehrforschung liegt aber in der überfälligen Öffnung der Archive für alle interessierten Forscher.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension