Ch. Kuller: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat

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Titel
Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975


Autor(en)
Kuller, Christiane
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 67
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 393 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingela Naumann, Department of Political and Social Sciences, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Die Familienpolitik ist in den letzten Jahren immer mehr ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Wer sich, angesichts drängender Probleme wie steigender Kinderarmut oder der mangelnden Möglichkeit zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, darüber wundert, warum die Programme und Kampagnen des Bundesfamilienministeriums oftmals über den proklamatorischen Akt nicht hinauskommen, dem sei Christiane Kullers für den Druck überarbeitete Dissertation zur Lektüre empfohlen. Mit ihrer informativen und fundierten Forschungsarbeit zur Entwicklung der Familienpolitik in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 bietet die Autorin Einblick in das historisch gewachsene institutionelle Gefüge und die politischen Machtverhältnisse im familienpolitischen Feld. Dadurch werden viele Handlungsblockaden auch der aktuellen Familienpolitik verständlich.

„Es gab und gibt bis heute kein allgemein akzeptiertes Konzept, das alle familienpolitischen Aktivitäten integriert. Die Familienpolitik zerfällt in zahlreiche Einzelmaßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen.“ (S. 346) Eine Folge der föderalen und dezentralen Organisation der Familienpolitik sind nach Kuller Kompetenzstreitigkeiten vor allem zwischen Bund und Ländern, die eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Familienpolitik spielten, indem sie „die inhaltlichen Auseinandersetzungen überformten“ (S. 5). Ob die Bedeutung der föderalen Struktur für die Familienpolitik in bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten unterschätzt wurde (S. 5), ist zwar zu bezweifeln.1 Kullers Verdienst ist es gleichwohl, zum ersten Mal ausführlich am historischen Material aufzuzeigen, wie stark föderative Konflikte und inhaltliche Zielsetzungen in der Ausgestaltung der bundesdeutschen Familienpolitik miteinander verschränkt sind. Einen innovativen Beitrag leistet Kuller vor allem dadurch, dass sie sich nicht auf den finanziellen Kernbereich der Familienpolitik beschränkt – den Familienlastenausgleich (Kindergeld und Steuerfreibeträge) –, sondern der Formierung neuer familienpolitischer Handlungsfelder in den 1960er und frühen 1970er-Jahren, der Familienbildung und -beratung und der Kindergartenpolitik, gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt.

In einer hervorragenden Einleitung führt Kuller zunächst in das sozialpolitische Feld Familienpolitik mit seinen Problemlagen ein, wobei sie drei Kernfragen ausmacht, die nach dem Zweiten Weltkrieg familienpolitisch bearbeitet werden mussten: wirtschaftliche Engpässe von Familien, die Frage der Kindererziehung und -betreuung sowie Beziehungsprobleme zwischen Ehepartnern respektive die Ehestabilität. Den drei Themenfelder widmet Kuller historische Fallanalysen, die zudem drei „typische föderative Interaktionsformen im Bereich der Familienpolitik“ (S. 25) dokumentieren: 1. die Entwicklung des Familienlastenausgleichs als Projekt der Bundespolitik, auf das die Länder über den Bundesrat Einfluss nehmen konnten, 2. der Aufschwung der Familienbildungs- und -beratungsstätten, die meist von freien Wohlfahrtsverbänden geführt wurden und als Bildungseinrichtungen der Kulturhoheit der Länder unterstanden sowie 3. die Entstehung des bayerischen Kindergartengesetzes von 1972 als Fallbeispiel für die familienpolitische Eigeninitiative eines Landes.

In den ersten beiden Kapiteln behandelt Kuller die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Familienpolitik: den Wandel von Familien- und Gesellschaftsstrukturen (demografische Entwicklung, steigende Müttererwerbstätigkeit) und die Genese der familienpolitischen Regierungsstellen im Bund und in Bayern. In der Fallanalyse zum Familienlastenausgleich beschreibt Kuller detailliert die Entstehung des Kindergeldgesetzes von 1974 und den Abschied vom schichtinternen Ausgleich über Steuerfreibeträge. Die beiden Fallstudien zur Familienbildung und zum Ausbau der Kindergärten in Bayern sind besonders interessant, da diese familienpolitischen Teilbereiche bisher selten so ausführlich untersucht worden sind. Der Wertewandel, der sich in den 1960er-Jahren vollzog und zu Veränderungen im familialen Verhalten führte, rief die Familienpolitiker auf den Plan, die versuchten, über Familienbildung und -beratung auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss zu nehmen (S. 227). Hierbei gerieten Bundesministerien, freie Wohlfahrtsverbände und Länder, in deren Kulturhoheit die Bildungseinrichtungen standen, in Konkurrenz zueinander – so zum Beispiel in der Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen oder in der Schwangerschaftskonfliktberatung.

Am Beispiel der vorschulischen Erziehung zeigt Kuller schließlich, wie Bayern erfolgreich die bundespolitische Einflussnahme auf diesen Bereich aushebelte, indem das Land ein eigenes Kindergartengesetz erließ. Dieses konnte unter Berufung auf die Kulturhoheit des Landes formal nur im schulischen Bereich angesiedelt werden, was allerdings ein rein strategischer Schachzug war. Denn inhaltlich legte das Gesetz gerade Regelungen fest, die eine Verschulung des Kindergartensektors verhindern und den traditionellen organisatorischen Vorrang der freien Träger vor den Kommunen sichern sollten (S. 339).

Kullers Abhandlung ist weiter gefasst als die meisten anderen Studien zur Entwicklung der Familienpolitik in der Bundesrepublik. Dem Anspruch, die Familienpolitik in den Zusammenhang gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu stellen sowie Aufschluss darüber zu geben, „wie die föderativen Konfliktlinien verliefen und wie sie sich im Laufe der sechziger Jahre veränderten“ (S. 24), wird Kuller jedoch nur zum Teil gerecht. Hier macht sich eine konzeptionelle Schwäche der Arbeit bemerkbar: Alle fünf Hauptkapitel sind informative Teilstudien zu bestimmten Aspekten der Familienpolitik bzw. des familiären Wandels; die Kapitel stehen allerdings eher unverbunden nebeneinander.

So verliert Kuller im Fallbeispiel zur bayerischen Kindergartenpolitik die zu Beginn der Studie beschriebene Entwicklung der Müttererwerbstätigkeit und die damit verbundene Problematik der Kinderbetreuung aus den Augen. Dabei ist ihre Diagnose, der Ausbau der Kindergärten habe vor allem unter bildungspolitischen Vorzeichen stattgefunden (S. 339), natürlich richtig. Das bedeutet aber auch, dass sich gerade der Konflikt um die Müttererwerbstätigkeit anhand anderer familienpolitischer Fallbeispiele wie etwa dem Modellprojekt „Tagesmütter“ des Bundesfamilienministeriums besser hätte darstellen lassen. Auch fehlt im Kapitel über institutionelle Voraussetzungen ein Beitrag zur Rolle der freien Wohlfahrtsverbände, welcher der Bedeutung der „gemischten Wohlfahrtsproduktion“ (S. 25) in der Familienbildung und -beratung und im Kindergartensektor Rechnung tragen würde. Die drei Fallbeispiele der Studie illustrieren anschaulich, dass föderative Konflikte die bundesdeutsche Familienpolitik maßgeblich beeinflussten, aber für die Klärung, wie diese Konfliktlinien verliefen, hätten neben Bayern noch weitere Bundesländer in eine vergleichende Untersuchung einbezogen werden müssen.

Kuller beweist mit ihren detailreichen Beschreibungen große Quellenkenntnis. Zuweilen vermisst man aber eine Distanz gegenüber dem archivalischen Material, die nötig wäre, um die Entwicklung der Familienpolitik in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Wie lässt sich das beredte Schweigen zur Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Debatten um das bayerische Kindergartengesetz deuten? Und ist es tatsächlich so, dass die „schwindenden Kenntnisse vieler Frauen in praktischen Fragen der Haushaltsführung und Kindererziehung“ (S. 342) den Ausbau von Bildungs- und Beratungsangeboten nötig machten, oder könnte es nicht auch sein, dass die gesellschaftlichen Ansprüche an Kleinkindpflege und Kindererziehung im Untersuchungszeitraum stiegen? In Kullers gesamter Darstellung ist auch faszinierend zu verfolgen, wie religiöse Konflikte gestaltend auf die bundesdeutsche Familienpolitik eingewirkt haben. Es wäre wünschenswert gewesen, diesen Faktor konzeptionell stärker zu berücksichtigen. Trotz dieser einzelnen Kritikpunkte ist aber zu betonen, dass Christiane Kuller eine originelle, gut recherchierte und über weite Teile spannend zu lesende Studie zur historischen Entwicklung der westdeutschen Familienpolitik gelungen ist, der viele interessierte LeserInnen zu wünschen sind.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Münch, Ursula, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Maßnahmen, Defizite, Organisation familienpolitischer Staatstätigkeit, Freiburg 1990; Wingen, Max, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Bonn 1997.

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