B. Mitzscherlich: Diktatur und Diaspora

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Titel
Diktatur und Diaspora. Das Bistum Meißen 1932-1951


Autor(en)
Mitzscherlich, Birgit
Reihe
Veröffentlichungen der Komission für Zeitgeschichte B, Forschung 101
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
725 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Voges, Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

Aus theoretischen Erwägungen gewonnene Ansätze und Modelle leiden nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft häufig unter dem Manko der fragwürdigen Anwendbarkeit. Neben gleichfalls theoretischen, grundsätzlichen Einwänden ist es vielfach das Fehlen empirischer Studien, das Rezipienten/innen über die hermeneutische Leistungsfähigkeit eines Modells im Unklaren lässt. Eine schwierige Quellenlage kann der praktischen Überprüfung ebenso entgegenstehen wie die Komplexität des Modells.

Die vergleichende Diktaturforschung sieht sich auf der theoretischen Ebene den Einwänden ausgesetzt, die seit jeher dem Vergleich in der Geschichtswissenschaft entgegengebracht werden. Auf der Ebene der praktischen Anwendung hingegen hat der diachrone Diktaturenvergleich aufgrund der zugänglichen Quellen sowohl der NS- als auch der SED-Herrschaft gerade in Deutschland zahlreiche Forschungen angeregt, die Vermögen und Grenzen dieses Modells aufgezeigt haben. 1 In die Reihe dieser Arbeiten ist die Dissertation von Birgit Mitzscherlich über das katholische Bistum Meißen einzuordnen. 2 Zugleich muss betont werden, dass die Studie weit über das Abarbeiten von Vergleichsaspekten hinausgeht.

Als Objekt ihrer Untersuchung hat Mitzscherlich das 1921 wiederbegründete Diasporabistum Meißen ausgewählt, das sie für die Jahre von 1932 bis 1951 untersucht. Der Zeitraum umfasst somit die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und die Anfangsjahre der kommunistischen Herrschaft in der DDR. Diesen durch die Zäsur des Kriegsendes deutlich unterschiedenen Phasen staatlicher Macht steht auf der Seite des Bistums Meißen mit der Amtszeit von Bischof Petrus Legge eine Kontinuität gegenüber, die eine gute Voraussetzung für die vergleichende Perspektive darstellt. Gleiches gilt für die territoriale Kontinuität. Während die meisten Jurisdiktionsbezirke der katholischen Kirche in der SBZ/DDR zu anderen westdeutschen Bistümern gehörten und von dort geleitet wurden, waren Berlin und Dresden die einzigen Diözesen, deren Bischofssitze in der DDR lagen.

Ausgehend von diesen Fakten blickt Mitzscherlich aus einer doppelten Perspektive auf das Bistum Meißen. Sie fragt einerseits nach den Vollzügen diktatorischer Herrschaft, die die (katholische) Kirche betrafen. Andererseits schaut sie sich die Reaktion der Kirche an, „wo, wie und wodurch sie sich mit diktatorischer Politik konfrontiert sah“ (S. 30). Mit dieser doppelten Blickrichtung gelingt es ihr nicht nur, die Herrschaftswirklichkeit in einer Diktatur einzufangen, sondern auch, das Innenleben der Ortskirche als einer gesellschaftlichen Großorganisation mit in den Blick zu nehmen. Es ist vor allem diese Perspektive, die den Ertrag der Studie jenseits des Diktaturenvergleichs in der kirchen- und katholizismusgeschichtlichen Forschung ausmacht. In der skizzierten Doppelperspektive liegt wohl der enorme Umfang des Werkes begründet, doch wird auch die Masse des ausgewerteten Quellenmaterials ihren Teil dazu beigetragen haben.

In der Einleitung erläutert Mitzscherlich, wie sie die von ihr untersuchten Vergleichspunkte gewonnen hat. Ausgangspunkt ist die These, dass die „den totalitären Herrschaftsanspruch begründenden Ideologien […] sich gegenüber dem christlichen Glauben als Sinngebungsinstanz in direkter Konkurrenz“ (S. 25) befinden. Die sich daraus ergebenden Konkurrenzfelder liegen im Bereich der Bildung, der Sozialisation, der Kommunikationsmittel, der Wohlfahrtspflege, der Verkündigung und der „organisierten Gläubigkeit“, also der institutionellen Verfasstheit der Kirche. Mit Ausnahme der nicht auf Bistumsebene, sondern gemeindlich organisierten Wohlfahrtspflege (Caritas) untersucht Mitzscherlich die genannten Felder. Sie greift damit auf das von Wolfgang Tischner für die frühe DDR entwickelte Modell der „funktional differenzierten Subgesellschaft“ zurück und weitet es zeitlich aus. 3

Diese funktionale Differenzierung sieht Mitzscherlich „nicht an diktatorische Bedingungen geknüpft, sondern [als] ein allgemeines Kennzeichen kirchlichen Lebens in der Diaspora“ (S. 28). Das verweist auf die besondere kirchliche Situation des Bistums Meißen. Im Gegensatz zu anderen Regionen Deutschlands bildeten (und bilden) die Katholiken in Sachsen eine Minderheit. Die Organisation eines Diasporabistums unterscheidet sich mithin erheblich von der eines Bistums in einem mehrheitlich katholischen Gebiet. Diese Minderheitensituation blieb nicht folgenlos, weder für das Eingreifen der regionalen staatlichen Machthaber noch für die Reaktion der Kirchenleitung. Im Anschluss an Überlegungen von Christoph Kösters 4 leistet Mitzscherlich also auch einen Beitrag zur Erforschung des Diasporakatholizismus im östlichen Deutschland.

Wie schon angedeutet bleibt die Studie nicht bei der systematischen, auf Vergleichbarkeit zielenden Gliederung stehen, sondern bezieht Besonderheiten der kirchlichen Situation in beiden Diktaturen ein. Dies wird schon an den Ausgangssituationen klar, die ausführlich reflektiert werden. Zu Beginn der NS-Herrschaft hatte das Bistum bereits Strukturen entwickelt, in denen die konfessionell geprägte, christliche Weltanschauung vermittelt wurde. Diese Instanzen waren jedoch kaum verfestigt und daher leichte Ziele für die Angriffe der Machthaber. Zu Beginn der zweiten deutschen Diktatur hatte sich die Situation der Katholiken durch den Zuzug einer Vielzahl katholischer Vertriebener. Der Devisenprozess der Nationalsozialisten gegen Bischof Legge im November 1935 findet auch ohne Vergleichsobjekt in der DDR Erwähnung; diese liegt freilich auch in der Bedeutung des Prozesses für die Bistumspolitik – die „ruhige Hand“ des Bischofs – begründet.

Als zentrale Ergebnisse arbeitet Mitzscherlich auf der einen Seite das Ausgreifen der ideologisch begründeten Politik auf zahlreiche Konfliktfelder heraus, mit dem die weitgehende Abstinenz der Kirche von der Politik korrespondiert. Auf der anderen Seite ging mit dem Versagen der staatlichen Macht, wenn sie versuchte, in den inneren Bereich der Kirche einzudringen, die Ausweitung und Diversifizierung des kirchlichen Kerngeschäfts, der Seelsorge, einher. Die Maßnahmen von Seiten des Staates wie die Reaktionen von Seiten der Kirche fielen freilich aufgrund der jeweiligen Herrschaftssituationen – plakativ: das rigide Kirchenregiment des sächsischen Gauleiters Mutschmann in der NS-Zeit, die ideologische Vorreiterrolle Sachsens unter der SED-Herrschaft – unterschiedlich aus. Erst der „synchrone Vergleich zu den Vorgängen in den anderen deutschen Ländern“ ermöglicht, „die staatlichen Maßnahmen in ihrem Grad von diktatorischer Herrschaft und hinsichtlich der Umsetzung totalitärer Ansprüche einordnen zu können“ (S. 634f.).

Als Fazit kann dieser quellengesättigten und gut geschriebenen Studie bestätigt werden, dass sie nicht nur eine empirische Umsetzung vergleichender Diktaturforschung ist, sondern auch ihren Anspruch, „Forschungslücken im Bereich der Landesgeschichte, der Bistumsgeschichte und der Diasporaforschung“ (S. 22) zu füllen, gerecht wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Heydemann, Günther; Oberreuter, Heinrich (Hgg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 2003.
2 Die Arbeit entstand im Zusammenhang des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts „Sachsen unter totalitärer Herrschaft. Diktaturdurchsetzung, Diktaturformen, Diktaturerfahrung 1933 bis 1961“. Im Jahr 2003 wurde die Studie mit dem Horst-Springer-Preis der Universität Leipzig ausgezeichnet.
3 Tischner, Wolfgang, Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1951. Die Formierung einer Subgesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat, in: Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen 90, Paderborn 2001.
4 Kösters, Christoph, Katholiken in der Minderheit. Befunde, Thesen und Fragen zu einer sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Erforschung des Diasporakatholizismus in Mitteldeutschland und der DDR, in: Wichmann-Jahrbuch 36/37 (1996/97), S. 169-204.

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