Th. Ernst u.a. (Hgg.): Wissenschaft und Macht

Titel
Wissenschaft und Macht.


Herausgeber
Ernst, Thomas; Bock von Wülfingen, Bettina; Borrmann, Stefan; Gudehus, Christian P.
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 25,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lenz, Fachbereich Soziologie, Universität Trier

Der Band „Wissenschaft und Macht“ herausgegeben von Thomas Ernst, Bettina Bock von Wülfingen, Stefan Borrmann und Christian P. Gudehus (gefördert von der Hans Böckler Stiftung) beginnt mit einer programmatischen Festlegung, die die AutorInnen auf ein postmodernes one-way-ticket verpflichtet: Mit „den wissenschaftskritischen Einflüssen des sog. französischen Poststrukturalismus“ (S. 7) wolle man sich beschäftigen und den Disput um die „machtkritischen Potenziale wissenschaftlicher Methodik zwischen AnhängerInnen z.B. der Kritischen Theorie einerseits und des Poststrukturalismus andererseits“ (S. 8) austragen. Die Buzzwords „Poststrukturalismus“ oder „Postmoderne“ lassen also zunächst einmal auf eine Sammlung gegen „positivistische“ Kritik immunisierter Texte aus dem erweiterten Zirkel der neuesten geisteswissenschaftlichen Theorieschule schließen. Doch der erste Eindruck täuscht, finden sich unter den AutorInnen des Sammelbandes zum einen auch empirisch arbeitende WissenschaftlerInnen und zum anderen wird das Beharren auf gewissen Rationalitätsstandards von den meisten (der anderen) AutorInnen keineswegs als „szientistisch“ geschmäht. Der Band „Wissenschaft und Macht“ analysiert in 22 Aufsätzen die Grundlagen wissenschaftlicher Selbstreflexion, beschreibt die Machtverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb und versucht, wissenschaftliche Einflüsse in der gesellschaftlichen Praxis dingfest zu machen.

So wird beispielsweise von Kerstin Palm die so genannte „Sokal-Affäre“ in den weiteren Rahmen eines „science war“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gestellt. Der New Yorker Physikprofessor Alan Sokal veröffentlichte 1996 in der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift „Social Text“ einen „wissenschaftlichen“ Artikel mit dem Titel „Transgressing the boundaries: Toward a transformative hermeneutics of quantum gravity“. Sokal bediente sich des Postmoderne-Sounds, um eine Aneinanderreihung unsinniger naturwissenschaftlicher Aussagen miteinander zu verbinden. Offensichtlich genügte ein imposanter Fußnotenapparat, der die „richtigen“ Autoren zitierte (Althusser, Feyerabend, Lacan, Virilio) um das Peer-Review Verfahren von „Social Text“ zu überstehen. Sokal schloss daraus auf einen besorgniserregenden Verfall intellektueller Seriosität innerhalb der „Cultural Studies“. Palm kann allerdings zeigen, dass die Veröffentlichung des Textes von Sokal in der Zeitschrift „Social Text“ nicht nur als Niederlage postmoderner Theoretiker gelesen werden kann, sondern auch als Ausdruck eines Machtstreits um den Wissenschaftsbegriff, der zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern um die soziale Konstruiertheit von Wahrheit ausgetragen wird. Daran anknüpfend legt Siegfried Jäger dar, inwiefern auch das Wissen in den Naturwissenschaften „immer nur jeweils gültiges oder auch (vor-)herrschendes Wissen“ (S. 61) ist. Jäger argumentiert in Anlehnung an Foucault und Kuhn, bedient sich aber auch literarischer Verweise und praktiziert damit eine wissenschaftliche Schreibweise, die von Thomas Ernst in seinem dekonstruktivistisch-spaßigen Beitrag „Und die Wahrheit starb im Fussnoten-Massaker“ explizit eingefordert wird. Ernst parodiert den gängigen Fußnoten-Alptraum universitärer Texte mit dessen Hilfe Wahrheitsansprüche geltend gemacht werden sollen (etwa mit: „vgl. auch: Ernst, Thomas: Die Kunst des Selbstzitats zur Vermeidung stringenter Argumentation. In: Ders.: Schön, dass Sie diesen Text lesen. Hätte auch anders kommen können. Danke: Sehr, 2004“ (S. 68)) und plädiert für die Revitalisierung des Essays als Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung.

Dies ist die Form, derer sich Wolf Wagner bedient, um als einsamer Rufer in der Wüste postmoderner Empirielosigkeit die Rückkopplung geisteswissenschaftlicher Theorien an einen intersubjektiv nachvollziehbaren Wahrheitsbegriff einzufordern. Er beschreibt, wie die Thesen der „Bildungsökonomie“ der 1970er-Jahre durch dreißig Jahre bundesrepublikanische Bildungswirklichkeit widerlegt wurden und wie sich – entgegen der Annahmen der kritischen Bildungsökonomen – die Interessen der Unternehmerverbände im Wissenschaftsbetrieb eben doch nicht durchsetzen konnten. Dieser empirische Befund hielt, so Wagner, trotzdem die Mehrheit der von der Hans-Böckler-Stifung eingeladenen Experten auf dem Symposium „Wissenschaft und Macht“ (aus dem der vorliegende Band entstanden ist) nicht davon ab, die Thesen der 1970er-Jahre als hochaktuelle Prognosen zu verkaufen. „Sie wurden mit der These der Frankfurter Schule vom Verblendungszusammenhang ergänzt, der es normalen Menschen unmöglich macht, die ‚wahren’ Verhältnisse zu erkennen“ (S. 282). Kritische Wissenschaftler fühlten sich deshalb als „James Bond der Frankfurter Schule“: „Die letzte Chance zur Rettung der intellektuellen Welt vor den Verschwörern.“ (S. 282) Wagner dagegen zeigt, wie die Hochschulreform der letzten dreißig Jahre die problematische Eigenständigkeit des Hochschulsystems gegen alle möglichen Interessen belegt und führt damit die Argumentation vom „Verblendungszusammenhang“ und der letztlich alles steuernden Macht des Kapitals ad absurdum. Wagners Analyse ist von einer unaufgeregten Klarheit, die man in einigen anderen Beiträgen des Bandes vermisst.

So glaubt Bettina Kremberg in der „gegenwärtigen Bildungsnotsstandspolitik“ (in Anlehnung an Gerster 2003) einen Aus- und Weiterbildungsbegriff zu entdecken, der mit „Menschen wie mit programmierbarer Computer-Software“ (S. 297) umgeht. Dieses Verständnis von Bildung wird von Kremberg als „positivistisch“ bezeichnet. Sie bedient sich damit einer rhetorischen Figur, die bei den Anhängern der reinen Postmoderne-Lehre recht verbreitet ist. Als „Positivist“ wird jeder geschmäht, der ins eigene Weltbild nicht passen will und „Positivisten“ sind selbstverständlich immer konservativ oder reaktionär. Dass a-empirische, postmoderne Ideologieproduktion, die die Ankopplung an Wirklichkeit gar nicht mehr sucht, unter Umständen entschieden reaktionärer – da partikularistisch und kulturrelativistisch – sein kann, wird nicht erwogen.

Insgesamt findet die Auseinandersetzung mit Konkurrenztheorien im Band „Wissenschaft und Macht“ leider kaum statt. Die postmodernen und kritischen Theoretiker ignorieren weitgehend, was sich nicht vereinnahmen lässt. So finden sich in den Literaturverzeichnissen immer wieder Foucault, Lacan, Latour, Feyerabend usf.; „positivistische“ Wissens- und Wissenschaftssoziologen werden kaum rezipiert. Und damit fehlt beispielsweise die empirische Auseinandersetzung mit Wissenschaft und sozialer Ungleichheit und der Frage nach einer Reproduktion gesellschaftlicher Machtbeziehungen durch die Schließung des Bildungssystems nach „unten“. Das deutet auf ein prinzipielles Problem postmoderner Theorien hin: Wer nicht einmal einen gemäßigten Wahrheitsanspruch für sich geltend machen möchte, gibt die Mittel für gesellschaftliche Zustandsbeschreibungen aus der Hand, und wer Zustände nicht überprüfbar beschreiben kann, kann Veränderungen nicht organisieren. Dass postmoderne Theorien dennoch ausgerechnet für kritische Wissenschaftler attraktiv sein können, hängt auch mit dem von Wagner beschriebenen „James Bond“-Gefühl zusammen. Um einen bösen Satz Tucholskys umzuformulieren: Das Schöne an der Bezugnahme auf postmoderne Theorien ist, dass man das Gefühl hat, etwas für die Revolution zu tun, in der Gewissheit, dass sie mit diesen Theorien garantiert nicht kommt.

Quasi als Entschädigung finden sich allerdings Texte, die sich aus einer ganz anderen Perspektive mit Wissenschaft auseinandersetzen. Die Herausgeber haben die „verstreuten Werke“ Jürgen Roths nach Wissenschaftssatiren und -polemiken durchforstet und zusammengetragen und diese Sammlung von Glossen, Satiren und Essays sind so luzide formuliert, dass man manch dunkel-konstruktivistischen Ton gern verzeiht. Auch die Aufnahme von Romanauszügen aus „Hellblau“ von Thomas Meinecke zeigt, dass eine Auseinandersetzung mit den Phänomenen Wissenschaft und Macht produktiv auch jenseits traditioneller Wissenschaftsgrenzen geführt werden kann und sollte. In dieser Heterogenität der Herangehensweisen liegt – bei aller Kritik – der große Vorzug des Sammelbandes. Ein heterogenes Konglomerat von Texten erlaubt „Lesestreifzüge“, die zu interessanten, zu amüsanten und manchmal eben auch zu ärgerlichen Ergebnissen führen.

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