Cover
Titel
Between Clan and the Crown. The Struggle to Define Noble Property Rights In Imperial Russia


Autor(en)
Farrow, Lee A.
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
£31.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenn Lee Farrow in ihrer Studie über den russischen Adel Eigentumsrechte als Prisma nutzen will, um etwas über Gesellschaft und Staat im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts auszusagen, so ist diese Idee so neu nicht. Kaum eine Abhandlung zum Moskauer und zum imperialen Russland geht nicht mit zumindest einigen Sätzen auf die Eigentumsrechte bzw. -privilegien des Adels und die daraus zu ziehenden Schlüsse über das Verhältnis von Adel und Staat ein. Die Autorin stellt ihr Buch somit in den Rahmen umfangreicher Debatten: Einerseits bewegt sie sich im Kontext der weiteren, nicht explizit auf die Eigentumsfrage konzentrierten Problematisierung der Stärke des russischen Staates in vor- wie nachpetrinischen Zeiten, andererseits setzt sie sich mit der konkreteren Frage auseinander, ob es in Russland „Privateigentum“ gegeben habe.

Farrow geht diesen Fragen in acht Kapiteln nach und überblickt dabei die Zeitspanne von der Moskauer Periode über die Petrinische Ära bis zu Katharinas Reformen. Thematisch konzentriert sie sich auf die Bereiche von Erbe, Familie und Frauen sowie auf das Problem der Konfiskation. Als Quellen nutzt sie in erster Linie Gesetzestexte sowie umfangreiche Prozessunterlagen aus dem Moskauer Archiv für alte Akten (RGADA), ergänzt vor allem durch Petitionen des Adels (nakazy) sowie, in geringem Maße und weitgehend nur illustrierend, politische und juristische Schriften und fiktionale Literatur.

Farrow gelingt es, die ausgesprochen komplizierte und oft widersprüchliche rechtliche Lage zu Eigentumsproblemen sowohl im Moskauer als auch im Petersburger Reich in klarer Sprache zu vermitteln. Ihre Darstellung ist übersichtlich und fasst die Regelungen und Entwicklungen gut lesbar zusammen; dies macht die Stärke der Arbeit aus. Auch ihre Beschreibungen des Moskauer Reiches sowie der Petrinischen Epoche überzeugen. Farrow hebt die Bedeutung von Dienst und Familie bzw. Clan in der russischen Gesellschaft hervor und zeichnet die Veränderungen der „petrinischen Revolution“ mit ihrem vollkommen neuen Herrscher- und Staatsverständnis nach.

Neu ist dies freilich alles nicht. Einzelne Kapitel des Buches sind nützlich als Synthese; es handelt sich weitgehend um solide, auch für das Seminar geeignete Geschichtsschreibung. Neue Forschung allerdings, wie in Vorwort und Klappentext angekündigt, findet sich in diesem Buch kaum. Die meisten Fragen, die Farrow aufwirft, sind bereits an anderer Stelle gestellt und beantwortet worden, und auch die Thesen sind nicht unbekannt. Teilweise können sie nur als banal bezeichnet werden: Land hatte im agrarisch strukturierten Russland große Bedeutung. Russlands Adel war mobil bzw. „wurzellos“. Landeigentum war stärker an der Familie als am Individuum orientiert. Frauen in Russland hatten relativ starke Eigentumsrechte, waren aber im Vergleich zu den Männern doch benachteiligt. Lange Prozesse durch komplizierte Gesetzgebung und überbordende Bürokratie machten dem Adel das Leben schwer.

All dies ist schon häufig formuliert worden, und so wirkt die intensive Archivforschung Farrows oft leider nur wie eine zusätzliche Illustration von längst Bekanntem.

Marc Raeffs klassische Analysen des adligen Selbstverständnisses vor und nach der Dienstbefreiung von 1762 1 finden sich hier ebenso wieder wie viele Aspekte des vor zwei Jahren erschienenen Buches von Michelle Marrese 2 über Frauen und Eigentum in Russland. Nancy Kollmann, Robert Jones und andere Bekannte werden ebenfalls ausgiebig zitiert; entscheidend jedoch für den Ansatz und letztlich auch die Ergebnisse der Studie zeigt sich Richard Pipes.3 Dessen Russlandschelte, mit zentraler Konzentration auf das Fehlen von Privateigentum, wird hier – wenn auch in vorsichtigeren Worten als bei Pipes – im Wesentlichen wiederholt. Farrow widerspricht Pipes in verschiedenen Details, doch seine Grundidee übernimmt sie unkritisch: Sie fragt explizit nach der Existenz von sehr westlich-liberal verstandenem Privateigentum in Russland – und kommt in ihrem Fazit zu dem nicht wirklich überraschenden Ergebnis, dass es ein solches nicht gegeben habe.

Ihr wichtigstes Argument in diesem Kontext bildet die Praxis der Konfiszierung von Eigentum. Enteignung erscheint bei Farrow als ein ständig drohendes Damoklesschwert für den Adel. Dabei ignoriert die Autorin zunächst die enormen sozialen Unterschiede innerhalb der keineswegs einheitlichen Gruppe des Adels. Ihr Hinweis auf die weite Auslegbarkeit des Tatbestandes des Verrates sowie auf die Tatsache, dass viele Adelsfamilien nach den jeweiligen – im 18. Jahrhundert relativ häufigen – Herrscherwechseln ihre Position am Hofe ebenso wie ihr Eigentum verloren, ist korrekt. Er bezieht sich jedoch weitgehend auf die Adelselite, die im Rahmen von Säuberungen durch neue Herrscher entmachtet und häufig verbannt wurden. Es ist keineswegs einheitlich „der Adel“, der unter dieser Praxis zu leiden hatte.

Um ihren „Eindruck“ (S. 182) von der Dramatik der Konfiszierungspraxis zu belegen, zitiert Farrow außerdem die Studie von E. I. Indova 4: von 1701 bis 1755 seien 124 Personen enteignet worden (Indova spricht übrigens von 128). Bereits George Weickhardt 5 hat vor längerem mit einem Rechenexempel anhand der Zahlen Indovas vorgeführt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Enteignung für den durchschnittlichen Landbesitzer, je nach Revisionsstatistik, bei nur 2,6 bis 4,2 Prozent lag. Konfiskation war also unbestritten möglich; von einer dauerhaft empfundenen, erdrückenden Bedrohung kann aber wohl kaum die Rede sein. Dass Farrow Weickhardts Text ignoriert, fällt besonders unangenehm auf, handelt es sich dabei doch um seine Antwort auf eine publizierte Kritik von Richard Pipes an seinen Thesen über Eigentum im Moskauer Reich. Farrow nimmt also nur eine halbe Debatte wahr.

Abgesehen von den erwähnten Zahlenspielen erscheint Farrows Argumentation auch hinsichtlich der Willkür der Enteignungspraxis problematisch. Es mag unserem heutigen Gerechtigkeitsverständnis widersprechen, wenn der Verlust der Adelsehre auch den Verlust der Güter nach sich zieht. In einer Gesellschaft aber, in der Landeigentum an den adligen Status gebunden ist, ist dieser Regelung eine gewisse Logik kaum abzusprechen. Und auch die Gefahr der Konfiskation als Folge hoher Schulden bei Staat oder anderen Adligen ist so willkürlich nicht. Verräterisch ist auch, dass die Problematik der Konfiskation in einem Kapitel mit dem Rückkaufsrecht der Familien zusammengefasst ist. Denn dies ergibt nur dann einen Sinn, wenn man die russischen Rechts- und Eigentumskulturen an einem sehr individualistisch gedachten westlichen Eigentumskonzept misst und andere Eigentumskonzepte ausschließlich als Einschränkung von scheinbar objektiv gegebenen „Rechten“ versteht.

So nützlich Farrows Darstellung der rechtlichen Situation in Russland in großen Zügen ist, so problematisch sind doch ihr nicht eingelöster Anspruch, neue Forschungsergebnisse vorzulegen, und ihre Ambitionen, Gefühle und Vorstellungen des Adels zu beschreiben. Viele ihrer Thesen sind, wie bereits erwähnt, längst bekannt. Darüber hinaus lässt die Logik der Argumentation häufig zu wünschen übrig, so in der selektiven Wahrnehmung der vorliegenden Literatur und in der Vermischung von Voraussetzungen und Ergebnissen. Das angeblich grundlegende, allgegenwärtige Unsicherheitsgefühl des Adels wird immer wieder genannt: Es handelt sich hier jedoch weniger um ein Ergebnis aus den – für eine solche These einfach nicht geeigneten – Quellen als vielmehr um ein Axiom, um nicht zu sagen: eine modernistische Unterstellung. Farrow sind die Gefahren modernistischer Ansätze nicht unbekannt, und so sind die kurzen einführenden Überlegungen zur Problematik der Eigentums-Terminologie durchaus viel versprechend. Doch die Autorin setzt solche Überlegungen nur an den Anfang und das Ende ihrer Studie, ohne ihren Ansatz und ihre Argumentation entsprechend zu gestalten.

Wenn Farrow am Ende, nach der Feststellung eines Mangels an liberal verstandenem Privateigentum in Russland, zu einem negativen Ergebnis kommt, so folgt danach die Überlegung: „Once we say that the eighteenth-century nobility did not have private property in our modern conception, then it is necessary to consider whether the nobility itself understood the concept of private property as we do and if they desired it.“ (S. 208) Dem Pipesschen Lackmustest, der eine Gesellschaft am westlichen Konzept des Privateigentums misst, schiebt sie die Frage nach den Werten der Gesellschaft selbst hinterher: Die zentralen Fragen des Buches werden in der falschen Reihenfolge gestellt, und der Befund „The answer to this query is probably in the negative. The nobility´s understanding and the understanding of the state regarding property were based on traditional ideas of kinship“ sabotiert im Nachhinein die gesamte Studie. Rückständigkeitsparadigma und Ansätze kulturrelativistischen Denkens gehen hier eine unglückliche, weil inkonsequente und widersprüchliche Verbindung ein.

So bleibt schließlich trotz viel versprechender Anfänge ein schaler Nachgeschmack. Dies ist schade, denn während der gesamten Lektüre tauchen immer wieder einzelne Punkte auf, die neugierig machen und neue Ansätze für die Debatte anregen könnten. Dies zeigt, dass eine Untersuchung des Eigentums in Russland im 18. Jahrhundert keineswegs nur alte Thesen reproduzieren muss, sondern dass es durchaus viele neue Fragen zu stellen gibt. Leider bricht Farrow ihre Überlegungen immer wieder viel zu früh ab und kann so ihr Versprechen neuer Thesen nicht einlösen.

Anmerkungen:
1 Raeff, Marc, Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility, San Diego 1966.
2 Lamarche Marrese, Michelle, A Woman´s Kingdom. Noblewomen and the Control of Property in Russia, 1700-1861, Ithaca 2002.
3 Pipes, Richard, Russia under the Old Regime, London 1995.
4 Indova, E.I., K voprosu o dvorjanskoj sobstvennosti v Rossii v pozdnij feodalnyj period, in: Dvorjanstvo i krepostnoj stroj v Rossii XVI-XVIII vv. Sbornik statej, posvjaschtsch. pamjati A.A. Novoselskogo, Moskva 1975, S. 272-292.
5 Weickhardt, George, Was There Private Property in Muscovite Russia?, in: Slavic Review 53,2 (1994), S. 531-538. Dies war die Antwort auf Richard Pipes´ Artikel mit dem gleichen Titel im gleichen Heft, S. 524-530, der wiederum eine Antwort auf Weickhardts, The Pre-Petrine Law of Property, Slavic Review 52 (1993) 4, S. 663-679 gegeben hatte.

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