M. G. Esch:"Gesunde Verhaeltnisse". Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik

Titel
"Gesunde Verhältnisse". Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950


Autor(en)
Esch, Michael G.
Reihe
Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung Bd. 2
Erschienen
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Röhr, Rita; Gerhardt, Sebastian

Die souveräne Verfügung über eine Bevölkerung und ihr Territorium konstituiert einen Staat als öffentliche, politische Gewalt. Jederzeit gehörten daher die Beeinflussung der Struktur und Entwicklung der Bevölkerung zu den zentralen Fragen staatlichen Handelns. Aber erst der gezielte staatliche Eingriff in die Privatsphäre zum Zwecke der Veränderung der Bevölkerungsstruktur macht eine Bevölkerungspolitik im engeren Sinne des Wortes aus. Diese basiert auf einem Verständnis der Bevölkerung als eines Parameters, über dessen gezielte, wenn nötig erzwungene Veränderung bestimmte weitergehende Ziele verfolgt werden können. Ausgehend von der Behauptung, wohl kaum ein Ereignis habe "die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts so stark geprägt wie die Bevölkerungsverschiebungen während des und nach dem Zweiten Weltkrieg"(S.1), wendet sich Michael Esch der Planung und Realisierung der Bevölkerungspolitiken deutscher und polnischer Behörden im benannten Zeitraum zu. Die unterschiedlichen Zielsetzungen der deutschen und polnischen Seite kommen dabei ebenso zur Sprache wie gemeinsame theoretische Muster (Überbevölkerung), gegensätzliche Begründungszusammenhänge (Blut/Seele) ebenso wie Übereinstimmungen im bürokratischen Detail. In seiner faktenreichen, auf Präzision bedachten Arbeit musste der Autor thematisch wie methodisch an vielen Stellen Neuland betreten, wodurch er zu weitergehenden Fragen und zum Widerspruch anregt.

Das Buch ist systematisch streng gegliedert. Bis auf die Ebene der Unterkapitel wird eine Gegenüberstellung der Positionen und Praktiken der deutschen und polnischen Seite durchgehalten. Innerhalb der Unterkapitel ist der Aufbau zumeist chronologisch. Trotz einiger Querverweise und eines Personenregisters wird dadurch das Verfolgen der zeitlichen und kausalen Zusammenhänge erschwert und der Anspruch auf integrale Darstellung von Strategiebildung und Umsetzung bleibt unerfüllt. In seiner Darstellung der Politik der deutschen Okkupanten knüpft der Autor unmittelbar an die von polnischen und deutschen Historikern vorgelegten Forschungen zum Thema an. Dabei ist seine gründliche Verarbeitung der polnischen Publikationen (Cz. Madajczyk, Cz. Luczak, W. Borodziej) schon für sich von Interesse, ist sie doch - abgesehen von den Arbeiten Werner Röhrs - im deutschen Sprachraum noch immer keine Selbstverständlichkeit.1 Seine eigenen Archivrecherchen zur Okkupationszeit konzentrieren sich auf die Umsetzung der Volkstumspolitik vor Ort. Sie zielen auf eine Ergänzung der Diskussionen über die "Vordenker der Vernichtung" (G. Aly, S. Heim) und den Generalplan Ost (K.H. Roth, D. Eichholtz).

Im ersten Kapitel stellt Michael Esch die "Protagonisten" der Bevölkerungspolitik beider Seiten vor: die Planer, die beauftragenden wie ausführenden Behörden. Im umfangreichen zweiten Kapitel entwickelt er den Topos von der "Überbevölkerung" als "Theoretische(r) Grundlegung der Bevölkerungs- und Siedlungspolitik: Sanierung und Modernisierung". Sowohl auf deutscher wie polnischer Seite gingen die Planer von einer agrarischen Überbevölkerung in Teilen des nationalen Kernlands aus, welche eine Sanierung und Modernisierung der landwirtschaftlichen Basis behindere. Die deutschen Raum- und Agrarforscher empfahlen schon in den 30er Jahren eine Neuansiedlung im Osten als Lösung des Problems, eine Perspektive, die mit dem Raubkrieg in eine sich radikalisierende "Umvolkungsstrategie" zur Absicherung immer neuen Herrschaftsraumes eingebaut wurde. Detailliert schildert er die deutsche (Aus)Siedlungspolitik für Danzig- Westpreußen, den Reichsgau Wartheland und ihre Übertragung in das Gebiet Lublin. In seiner Darstellung des Zusammenhangs der Siedlungsstrategien im Osten mit den Sanierungsvorhaben im Stammland gelingt Esch die Fixierung des rassistisch radikalisierten sozialdarwinistischen "Leistungskriteriums" als eines gemeinsamen Nenners der nazistischen Bevölkerungspolitik.2 Die Konzentration auf agrarische Siedlungspolitik blendet allerdings deutschen Interessen in städtischen Gebieten (Oberschlesien) aus: nicht allein die "Restrukturierung des Agrarbereichs im ‚Altreich'" war "Motor der ethnischen Expansion" (S.164).

Die polnischen Bevölkerungsanalysen der 30er Jahre konnten keine radikalen Lösungen empfehlen. Erst der Krieg und die mit der Erwartung des Sieges der Alliierten verbundenen Ansprüche an den Frieden führten hier zu der Vorstellung, die agrarische Überbevölkerung durch Ansiedlung im Westen aufzulösen. Zugleich sollte nun ein dezidiert polnischer, einheitlicher Nationalstaat geschaffen werden. Die gegensätzlichen Konzepte, die sich mit diesem Ziel verbanden, kommen allerdings nur kurz zur Sprache: einer Expansion des alten Polens nach Westen standen der sozialökonomische Umbau des Landes und die Akzeptanz einer neuen geopolitischen Rolle Polens gegenüber. Michael Esch kann sich in seiner Darstellung des "Londoner Lagers" auf eigene Recherchen in den Akten der Delegatura, des zivilen Untergrundapparates der Exilregierung, stützen. Die politische Entwicklung und die konzeptionellen Vorstellungen der polnischen Linken, die 1944 an die Regierung kamen, werden dagegen kaum thematisiert und nur aus zweiter Hand referiert. Damit kann jedoch eigentlich die Frage nach dem Charakter der Kontinuitäten und Übereinstimmungen zwischen den theoretischen Analysen der Zweiten Republik über die Pläne des "Londoner Lagers" bis hin zur Politik der Nachkriegszeit nicht mehr beantwortet werden. Die Auswertung der vorliegenden Literatur hätte hier sicher mehr Aufschluss geben können und auch vor unnötigen Fehlern geschützt: So war "O co walczymy" (Worum kämpfen wir) die programmatische Erklärung der im Untergrund agierenden Polska Partia Robotnicza (PPR), nicht des in Moskau residierenden Zwiazek Patriotów Polskich.3 Umgangen wird das Problem mit umfangreichen Darstellungen der Diskussionen in wissenschaftlichen Gremien zur Beratung polnischer Behörden, in denen meist Vertreter des alten und neuen Polen aufeinandertrafen. Allerdings ergaben sich aus wissenschaftlicher Reputation nicht unbedingt Entscheidungsbefugnisse. Daher steht die Beantwortung der Frage, ob die Debatten überhaupt entscheidungsrelevant waren oder aufgrund welcher Bedingungen demographische Entscheidungen fielen und durchgesetzt wurden, noch aus.

Im Dritten Kapitel "Segregation als Strukturpolitik: ethnische Säuberung und Modernisierung" vergleicht M. Esch die positive und negative Bevölkerungspolitik beider Seiten. Schon bei der Suche nach integrierbarem Material zur Bereicherung des Staatsvolkes tritt die Gegensätzlichkeit der rassistischen Politik der Nazis und der prinzipiell kulturell definierten Assimilationsvorhaben der polnischen Regierung hervor. In der negativen Bevölkerungspolitik, der "Behandlung der Unerwünschten" (Kapitel 4) konstatiert der Autor schließlich die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen faschistischem Völkermord und erzwungener Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. Ein Vergleich kann eben auch zu dem Ergebnis führen, dass die verglichenen Seiten im wesentlichen nichts gemein haben. Das Wesentliche der Bevölkerungspolitik liegt nicht in ihr selbst, sondern in ihrer Funktion, in den Zielen, die mit ihr erreicht werden sollen. Nicht die verschiedenen Bedingungen, erst die unterschiedlichen Ziele machen die gegensätzlichen Mittel der Bevölkerungspolitik erklärlich.

Für die Zeit nach 1945 liegen bis heute keine umfassenden monographischen Arbeiten vor. Ein Ansatz für einen Vergleich mit der deutschen Bevölkerungspolitik musste hier überhaupt erst geschaffen werden. Gerade hier hat das Buch Neuwert, da viele auf polnisch vorliegende Materialien für deutschen Leser aufgearbeitet wurden. Michael Esch untersuchte in Warschauer Archiven die Dokumente der polnischen Regierung als der zentralen Entscheidungsebene. Daneben stützt er sich v.a. auf veröffentlichte Quellen und einige polnische Studien. Zweifellos würde eine Konfrontation seiner Darstellung mit vorliegenden polnischen Regionalstudien neue Gesichtspunkte ergeben.4 Dem Autor gelingt eine Rekonstruktion des administrativen Rahmens der polnischen Bevölkerungspolitik. Auf der Grundlage u.a. der Akten des Generalbevollmächtigten für Fragen der Repatriierung schildert er die Verknüpfung des Bevölkerungsaustausches zwischen Polen und der UdSSR mit der Frage der Besiedlung der "wiedergewonnenen Gebiete". Mit besonderer Sorgfalt erörtert er die Ursachen, Gestalt und Ziele der Repression gegen die verbliebene deutsche Bevölkerung.

Um die Variationsbreite des Mittels "Bevölkerungspolitik" zu umreißen, bedarf es u.E. einer breiten Darstellung des historischen Hintergrundes, der jeweiligen Realisierungsbedingungen und Kräfteverhältnisse. Die zum Zwecke des Vergleichs isolierten Momente, die referierte Bevölkerungs- und Strukturanalyse, deren Diskussion und auch die tatsächliche Bevölkerungspolitik erscheinen oft aus dem jeweiligen historischen Zusammenhang gerissen. Ausnahmen sind Darstellungen der Bevölkerungsbewegungen bei überschaubaren, kleineren Gruppen, z.B. den Juden und den Ukrainern nach 1945 5. Hier tritt der Zusammenhang von Planungen, unkontrollierbaren Bedingungen und praktischer Um- oder Nichtumsetzung der Pläne klar hervor.

Vielleicht wäre den Schwierigkeiten des Themas mit einer parallelen, aber in sich geschlossenen Darstellung beider Seiten leichter zu begegnen gewesen. Der Vergleich hätte dann, von der Einbettung in stets wechselnde Kontexte befreit, angeschlossen werden können. Dennoch ist es M. Esch gelungen, ein publizistisch weitgehend von den Vertriebenenverbänden besetztes, politisch vielfach überdeterminiertes Thema der wissenschaftlichen Arbeit zu erschließen. Die souveräne Distanz zu nationalistischen Positionen und der beeindruckend sachliche Ton des Buches tragen entscheidend zu diesem Ergebnis bei.

Anmerkungen

1 Um so merkwürdiger ist es, dass die Dokumentenedition "Europa unterm Hakenkreuz" im Literaturverzeichnis fehlt und nur einmal in einer Fußnote beiläufig erwähnt wird. Weder der Band zu Polen (Berlin 1989, Bearb. und Einleitung W. Röhr) noch der Band zur Problemen der vergleichenden Okkupationsforschung (Bd. 8, Heidelberg 1996) wurden berücksichtigt.

2 Schon die Förderung der deutschen Minderheit in Polen während der Zwischenkriegszeit ließ sich von ähnlichen Kriterien effektiver bäuerlicher Landwirtschaft leiten. Vgl. Rita Röhr, Faschisierung der deutschen Minderheit in Großpolen 1933-1939, Diplomarbeit (MS)1991.

3 Vgl. Ryszard Nazarewicz, Drogi do wyzwolenia, Wwa. 1979; derselbe: Armii Ludowej dylematy i dramaty, Wwa 1996; sowie die vom Institut Studiów Politicznych herausgegebenen Dokumenty do dziejó PRL (Bearb. A. Kochanski) Bd. 1, Protokól obrad KC PPR maj 1945; Bd.2, Protokoly posiedzen Biura Politycznego KC PPR 1944- 1945), Wwa 1992. und "Polska- ZSRR. Struktury podleglosci. Dokumenty KC WKP(B) 1944- 1949. Wwa. 1995. Speziell zur Westgrenze Polens: Euzebiusz Basinski/ Ryszard Nazarewicz, Sojusz polsko- radziecki a zachodnia granica Polski, Wwa. 1987.

4 Vgl. z.B. Czeslaw Osekowski, Spoleczenstwo Polski zachodniej i pólnocnej w latach 1945-1956. Procesy integracji i dezintegracji, Zielona Góra 1994. Durch das dezentrale Verteilersystem im polnischen Buchhandel ist es schwierig, von Neuerscheinungen in regionalen Verlagen zu erfahren. So hat Esch zwar Regionalstudien aus den 50er und 60er Jahren, die auch in der offiziellen polnischen Literatur zitiert werden, ausgewertet, nicht jedoch die neuesten Forschungen zum Thema (Szczecin, Koszalin, Zielona Góra, Wroclaw).

5 Eine sehr einprägsame Darstellung zum Problem der jüdischen Bevölkerung in Polen nach 1945 und des Pogroms von Kielce ist jetzt zu finden bei Icchak Cukierman "Antek", Nadmiar pamieci (siedem owych lat). Wspomnienia 1939-1946, Warszawa 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension