H. Medick u.a. (Hgg.): Luther zwischen den Kulturen

Cover
Titel
Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft - Weltwirkung


Herausgeber
Medick, Hans; Schmidt, Peer
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Friedrich, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Lutheraner zu sein, konnte [...] vieles bedeuten, je nachdem, wo man in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts lebte.“ (S. 349) Dieser Satz, aus Kirsten Rüthers Beitrag über die lutherischen Kirchen im südlichen Afrika, mag trivial klingen, ist es aber keineswegs. Entsprechend hat es sich der anzuzeigende Band zur Aufgabe gemacht, diesen Sachverhalt umfassend zu thematisieren (Vorwort der Herausgeber). Angestrebt ist eine „historisch-kulturwissenschaftliche und interkulturelle Annäherung an die Geschichte Luthers und des Luthertums“ (S. 11), eine ‚Historisierung’ und ‚Anthropologisierung’ der Beschäftigung mit Luther (S. 12). Dahinter steht nicht zuletzt die Idee eines postkolonialen, subversiven „writing back“ (S. 12f., vgl. S. 24): Das überkommene Bild des Luthertums soll dadurch korrigiert werden, dass die außereuropäischen Gläubigen in den Mittelpunkt gestellt werden, die bisher durch eine „protestantismuszentristische und deutschnationale Überlieferungsgeschichte“ marginalisiert wurden. Neben die klassische Analyse von Motiven, Inhalten und Deutungsschemata der Luther-Rezeption tritt daher in der postkolonialen Perspektive auch die Einsicht, dass Theorie-Export eine Form der Machtausübung ist. Zudem geht es ganz zentral um die Möglichkeiten und Probleme kolonisierter Gesellschaften, sich ihrer Identität mittels eines Theoriehaushalts zu versichern, der einerseits nicht der ihre ist, andererseits aber auch nicht mehr abgelegt werden kann.

Die Titel gebende Rede von Luther „zwischen“ den Kulturen soll genau dies ausdrücken (S. 11f.). Einerseits behauptete das europäische Verständnis von Luther lange Zeit die Deutungshoheit. Andererseits führte die durch diese Hegemonie erzwungene Übernahme von Glaubensinhalten zu einer subversiven Umformung und unter Umständen auch zu echter Rebellion. In einer solchen Betrachtung wird der Umgang mit religiösen Identitäten neu verstanden: Diese würden nicht nur angenommen, abgelehnt oder angepasst, sondern sind oktroyierte und gleichwohl kaum mehr ablegbare Denkwelten. Mit fremdem Ideengut in Abhängigkeits- und Hegemonieverhältnissen eigene Identitäten ausdrücken und konstituieren zu müssen, führt zu komplexen Phänomenen, die mit einem einfachen Schema von (partieller) Annahme bzw. (partieller) Ablehnung nicht angemessen zu erfassen sind. Paradoxerweise müsste bei einem solchen Ansatz wohl mit der Vorstellung, es gebe ‚Luther’ und ‚das Luthertum’ unabhängig von kulturellen Aneignungen, gewissermaßen im luftleeren Raum „zwischen“ den Kulturen, aufgeräumt werden. Kirsten Rüther, deren Beitrag den angestrebten Ansatz wohl am konsequentesten verfolgt, zieht denn auch genau diese Konsequenz: „Die Vorstellung, Luther könnte sich zwischen den Kulturen bewegen, [ist] im Rahmen dieses Beitrags nicht sonderlich hilfreich.“ (S. 343)

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes verhalten sich zu den methodischen Vorgaben insgesamt recht unterschiedlich. Neben Rüther thematisieren etwa Gregory Baum („Lutherische Theologie des Widerstands heute“), Jon Gjerde und Peter Franson („‚Still the Inwardly Beautiful Bride of Christ’: The Development of Lutheranism in the United States“) oder Theodor Ahrens („Lutherische Kreolität. Lutherische Mission und andere Kulturen“) deutlich die Schwierigkeiten und Konsequenzen, die sich aus den Akkulturationsvorgängen von Religion ergeben. Hier wird in der Tat deutlich, wie das ursprünglich europäische Exportprodukt anverwandelt wird und dabei ein kritisches Potential entstehen kann, das durchaus subversiv auf die europäische Gestalt der lutherischen Theologie rückwirken kann.

Andere Beiträge wenden sich dem Thema auf methodisch bekannteren Pfaden zu. Thoralf Klein, der einen Beitrag zum Luthertum im chinesischen Reich beisteuert, bietet einen sehr eng auf die Personen und Positionen der Missionare konzentrierten Ansatz, in dem ganz und gar die europäische Perspektive dominiert. Die beiden Beiträge zur Rolle Luthers im fast vollständig katholischen Lateinamerika (Alicia Meyer, Peer Schmidt) beschreiben eindringlich die (negative) ideologische Instrumentalisierung Luthers für politische und nationale Zwecke. Auch andere Beiträge verstehen das Thema in erster Linie als ideengeschichtliche Deutungs- und Wahrnehmungsgeschichte: Die drei Beiträge zum europäischen 20. Jahrhundert (Thomas Kaufmann: „Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland“, Christian Albrecht: „Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie. Zur Lutherrezeption im Reformationsjubiläum 1917“, Hartmut Lehmann: „Das marxistische Lutherbild von Engels bis Honecker“) thematisieren die diversen wissenschaftsgeschichtlichen und ideologischen Schemata der Lutherdeutung im europäischen Kontext. Christian Wiese verfolgt sehr differenziert die Wahrnehmung Luthers durch jüdische Intellektuelle zwischen Aufklärung und Schoa, während Jan Slomps Zusammenstellung von modernen Lutherdeutungen im Islam etwas willkürlich wirkt. Einen umgekehrten Blickwinkel nimmt Hartmut Bobzin ein, der Luthers Verständnis des Islams und besonders des Korans thematisiert. Gregory L. Freeze stellt in seinem wichtigen Aufsatz zwar die Forschung zur Situation der lutherischen Kirchen im zaristischen Russland des späten 19. Jahrhunderts auf ein neues Fundament, doch nach Methode und Fragestellung bleibt auch sein Beitrag klassischen Mustern verhaftet. Hier ist die Frage nach ‚Luther zwischen den Kulturen’ die Geschichte einer religiösen Minderheit, ihrer sozialen und institutionellen Situation. Für René E. Gertz bedarf die Frage nach ‚Luther zwischen den Kulturen’ in erster Linie einer stark demografisch orientierten Antwort. Im Zentrum steht damit vor allem die Frage nach der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rolle der Lutheraner in der modernen brasilianischen Gesellschaft. Vasilios N. Makrides schließlich, der die Frage stellt, weshalb das orthodoxe Christentum keinen Reformator hatte (und vielleicht auch nicht haben konnte), scheint keine Zwischen- oder Vermittlungsposition Luthers zwischen verschiedenen Kulturen konstatieren zu können. Ganz im Gegenteil, die historische Rolle und das historische Selbstverständnis der Reformation mussten aus seiner Sicht für die orthodoxe Kirche grundsätzlich unverständlich sein und folglich zurückgewiesen werden.

Ein umfangreicher erster Teil des Bandes widmet sich der Frühen Neuzeit. Lässt sich die gesellschaftspolitische Diskussion um postkoloniale Identitäten zu einer historischen Heuristik umgestalten, von der auch die Geschichte der Frühen Neuzeit Mitteleuropas profitieren könnte? In der Tat ließe sich doch fragen, ob die geschärften Einsichten in die Funktionsweisen von Theorie-Export und subversivem „writing back“ nicht auch für die Analyse der Ausbreitung lutherischer Kultur im 16. Jahrhundert einiges beitragen könnten. Doch gerade in der Sektion zur Frühen Neuzeit scheinen die Eingangsüberlegungen am wenigsten anregend gewirkt zu haben. Peter Burschels Überblick über katholische Lutherdeutungen bietet kaum mehr als einen Katalog entsprechender Zerrbilder der Wahrnehmung, während Susan C. Karant-Nunns Untersuchung von „Martin Luthers Männlichkeit“ eine Abhandlung über Luthers Theologie und Alltag ist. Das ‚zwischen den Kulturen’ (hier wohl ‚zwischen den Geschlechtern’) erschließt zwar neue Themenstellungen (S. 50), wird aber kaum als methodischer Ansatz umgesetzt. Ähnliches gilt für Thomas A. Bradys Rekonstruktion der Rolle der Reichskirche im Denken Luthers und Mark U. Edwards’ Übersicht über die publikatorische Begleitung der Reformation. Noch am ehesten spiegelt Jay Goodales Abhandlung über die wechselseitigen Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen zwischen Reformatoren und dem ‚gemeinen Mann‘ in den Kirchenvisitationen der späten 1520er-Jahre die oben skizzierte Fragestellung von Theorieexport, Annahme und subversiver Umdeutung wider.

Neben der Vielzahl der Lutherbilder steht damit am Ende eine ebenso große Vielfalt an methodischen Optionen, um auf die Frage nach der „Weltwirkung“ eines Denksystems zu fragen. Es ist nicht Aufgabe des Historikers, die theologische Dimension der postkolonialen Erfahrung zu bewerten (zur aktuellen ökumenischen Diskussion vgl. die Wechselrede zwischen Bischof Joachim Wanke und Dorothea Wendebourg). Es erscheint aber durchaus einleuchtend, dass diese Erfahrungen dazu zwingen, Ausbreitungs- und Aneigungsvorgänge von Theorien und Weltbildern neu zu verstehen. Etliche Aufsätze des Bandes zeigen, dass hier eine Forschungsperspektive entstehen könnte, die über die Untersuchung von Missionsideologien und -strategien, von sozialen Kräfteverhältnissen und institutionellen Arrangements hinaus gehen könnte und müsste: Die Vorstellung der ‚Missionierung’ oder ‚Bekehrung’ selbst müsste neu bedacht werden, um dem einfachen Schema von ‚Annahme’ oder ‚Ablehnung’ zu entgehen. Umdeutungen, Adaptionsschwierigkeiten und subversive Verwendungen des Luthertums gegen die Absichten der Reformatoren wären dann nicht als ‚mangelnde Bekehrung’ zu verstehen, sondern als erwartbare Konsequenzen einer religiösen Kolonisierung. Auf derartigen Einsichten könnte eine postkolonial inspirierte Geschichte der Konfessionsbildung in Europa aufbauen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Weg gelegentlich auch für die europäische Frühe Neuzeit beschritten wird.

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