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Titel
Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969


Autor(en)
Schönhoven, Klaus
Reihe
Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945 2
Erschienen
Anzahl Seiten
733 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Bange, Historisches Seminar, Universität Mannheim

Wirtschaftsschwäche, Schuldenfalle, Reformdebatte – bereits vierzig Jahre vor unseren derzeitigen Nöten und Ängsten versuchte eine so genannte „Große“ Koalition aus Union und SPD Antworten auf die damalige Krise zu finden. Eine fundierte historiografische Aufarbeitung dieser im öffentlichen Bewusstsein nahezu „vergessenen Koalition“1 verspricht deshalb mancherlei interessante Einsichten, etwa in Lösungsmodelle und Lösungsverhalten, in das Zusammenspiel von Innen- und Außen-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, die Reformbedürftig- und -fähigkeit des Systems Bundesrepublik oder die Möglichkeiten und Grenzen einer parteiübergreifenden nationalen Politik unter multilateralen und parteistaatlichen Rahmenbedingungen. Doch die Große Koalition von 1966 bis 1969 stand unter umgekehrten Vorzeichen: Damals schienen der konservativ-liberalen Dauerregierung in ihrer vorerst letzten Variante unter Ludwig Erhard in den Augen vieler Deutscher die Antworten auf immer neue Probleme auszugehen, und eine scheinbar unverbrauchte SPD drängte in die – erstmalige – Regierungsverantwortung in Bonn. Am Kabinettstisch der neuen Regierung Kiesinger saßen nahezu ausschließlich politische Schwergewichte, von Strauß über Schröder zu Brandt, Schiller und Wehner. Die Fraktionsvorsitzenden hießen Barzel und Schmidt. Jede Koalitionspartei musste beweisen, dass sie zur alleinigen, zumindest aber federführenden Regierungspartei berufen war. Jedes Kabinettsmitglied mit Ambitionen auf Höheres – und deren gab es nicht wenige – musste zeigen, dass er (Frauen mit diesem Anspruch gab es noch nicht) auch das notwendige Rüstzeug dazu mitbrachte. Kaum etwas erinnerte noch an die Kanzlerdemokratie Adenauers. Der Kanzler mutierte, wie Kiesinger etwas selbstmitleidig monierte, zum „wandelnden Vermittlungsausschuss“ zwischen den Parteien, ganz sicher aber auch zwischen den zahlreichen „Primadonnen“ (Bahr). Das Ergebnis war eine kreativ-konstruktive Konkurrenz, die auch den Eliten der heutigen Bundesrepublik mit ihren Problemen gut anstehen würde. Deshalb verbuchte diese Große Koalition ihre Durchbrüche und Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, bei der Föderalismusreform oder den ersten Schritten in Richtung auf eine neue Ostpolitik gerade nicht, wie Rainer Blasius meint2, „trotz“, sondern gerade wegen der andauernden Konkurrenzsituation.

Klaus Schönhoven versucht sich über sein eigentliches Thema – die SPD in der Großen Koalition – hinaus an einer umfassenden Darstellung der Politik in dieser Umbruchszeit. Dazu greift er neben den SPD-Parteiakten, Nachlässen und DGB-Materialien im Archiv der sozialen Demokratie auch auf die einschlägigen Bestände im Parteiarchiv der CDU sowie einige Nachlässe und Deposita im Bundesarchiv Koblenz zurück. Ministeriumsakten wurden bis auf eine Ausnahme (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) nicht bearbeitet und höchstens in Form der Edition „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ zitiert. Auch Dokumente aus den Archiven von FDP und CSU sucht man vergeblich, und auf internationale Quellen – auch auf die thematisch nahe liegenden Bestände der Sozialistischen Internationalen – wurde gleich ganz verzichtet. Das schafft gleich mehrere nicht ganz unerhebliche methodische Probleme. Ohne so wichtige Bestände wie die Ministeriumsakten oder den Nachlass von Franz Josef Strauß ist eine Geschichte der Großen Koalition selbst bei einer Fokussierung auf die SPD eigentlich nicht zu schreiben; schon gar nicht, wenn sich ein gutes Drittel des Buches völlig zu Recht den außen- und deutschlandpolitischen Weichenstellungen der Großen Koalition widmet. Die Stärken des Werkes liegen deshalb wohl nicht ganz zufällig vor allem in der Darstellung der innenpolitischen und hier vor allem der innerparteilichen Diskussionen, Entscheidungen und Entwicklungen. Dies gilt insbesondere für die Motive und Rückwirkungen der Annäherung führender Konservativer und Sozialdemokraten seit Beginn der 1960er-Jahre aus SPD-Sicht und für das Zurückschrecken breiter Mehrheiten in beiden Volksparteien vor der Einführung des britischen „Konfliktmodells“ durch eine Wahlrechtsreform. Überhaupt erweisen sich die Köpfe der Großen Koalition nach Schönhovens Recherchen geradezu als Gralshüter des bundesdeutschen Konsensmodells, wie sich auch an der im Finanzreformgesetz von 1969 kodifizierten Mischfinanzierung von Bund und Ländern ablesen lässt – jenes Gesetz, das einst als Glanzleistung gefeiert, heute selbst manchem Macher von damals als Grundübel der aktuellen bundespolitischen Sackgassen erscheint. Besonderes Augenmerk verdient die elegante Darstellung der innenpolitischen und innerparteilichen Debatte über die Notstandsgesetze, die, besonders in Zeiten sozialdemokratischer Spaltung, aktuell wirkt. Für die Linke in der SPD wirkte dieses Gesetz wie ein Fanal: Die eigene Partei drohte sozusagen in der Umarmung der Konservativen vom rechten – oder besser linken – Weg abzukommen. Erinnerungen an Weimar wurden heraufbeschworen, und die SPD-Linke sammelte sich. Zum Schluss stimmten trotz Fraktionszwang ein Viertel der SPD-Abgeordneten gegen den – sehr gemäßigten – Gesetzesentwurf. Wer in der SPD-Parteispitze heute wissen möchte, wie es den Vorgängern in dieser ähnlich polarisierenden Situation damals gelang, eine Spaltung zu vermeiden, dem sei ein Blick in Schönhovens Darstellung empfohlen. Wer darüber hinaus noch die kommenden Bundestagswahlen gewinnen möchte, dürfte in der detaillierten Rekonstruktion der Modernisierung der damaligen Wahlkämpfe – durch Demografie und Demoskopie, Wählerinitiativen und Agenda Setting – sicher einige Anregungen finden.

Leider gelingt es dem Werk dennoch nicht, die Relevanz dieser vielfältigen Prozesse und Richtungsentscheidungen für eine allgemeine deutsche oder europäische Geschichte herauszuarbeiten, zu deskriptiv ist der Text, zu selten werden derartige Fragestellungen überhaupt thematisiert. Das Buch Schönhovens bleibt trotz der über 700 Seiten stets sehr gut lesbar, wozu auch einige auflockernde Fotos beitragen. Das zeitgenössische „Wissen“ der eigenen Generation wird über die Schlagzeilen hinaus aber nie ernsthaft hinterfragt. Besonders augenfällig wird dies bei den fehlenden, aber eigentlich dringend gebotenen Perzeptionsanalysen: Wie sah das befreundete oder verfeindete Ausland – de Gaulle, Johnson oder Breschnew – das Ringen um eine neue Politik in Bonn? Wie sah es die eigene Öffentlichkeit, und wie und wann veränderte sich deren Wahrnehmung? Wie interpretierte man die SPD-Politik beim Koalitionspartner und bei der Opposition, wie reagierte etwa Franz Josef Strauß? Gemessen an den eigenen Ansprüchen weiß das Buch nicht voll zu überzeugen. Wer „Wendejahre“ als einen programmatischen Titel etwa im Sinne einer Wegbereitung zur sozial-liberalen Koalition versteht, muss allein schon aufgrund des völligen Fehlens liberaler Dokumente und damit zwangsläufig auch liberaler Perzeptionen und Positionen enttäuscht werden. Für die manchmal zu hörende These, dass man ohne den Nachlass Wehners die neue Ost- und Deutschlandpolitik gar nicht verstehen könne, bietet Schönhovens Buch den praktischen Gegenbeweis: Die handvoll Zitate aus diesem Bestand enthalten solche zweifelhaften Höhepunkte wie den WDR-Mitschnitt eines Barzel-Interviews oder den Text eines CDU-Fraktionsbeschlusses. Ähnlich ergeht es der Jahrzehnte alten politischen, journalistischen, historiografischen Spekulation zur angeblichen Konvergenzpolitik Brandts. Von „Konvergenz“ ist bei Schönhoven jedenfalls nichts zu lesen, wie ja auch die aktuelle historische Forschung die ostpolitischen Ziele Brandts in der nur durch eine umfassende Transformation des Ostblocks zu erreichenden Wiedervereinigung innerhalb eines europäischen Sicherheitssystems sieht. Aber gerade weil ein Gutteil des Buches auf außen- und deutschlandpolitische Fragen fokussiert, fällt die Wiederholung etablierter Fehlinterpretationen umso schwerer ins Gewicht. Wieder ist plakativ von der „viel zu schmalen“ Basis außenpolitischer Gemeinsamkeiten der Regierenden zu lesen. Dies betraf aber nicht so sehr die von den verschiedenen Kabinettsmitgliedern vertretenen Neuansätze in Sachen Ostpolitik, sondern vor allem die Mehrheit der Kalten Krieger in der Unionsfraktion. Auch Barzel und sogar Strauß vertraten intern und in Beratungen mit dem Verbündeten in Washington eine Annäherungspolitik gegenüber dem Warschauer Pakt mit dem Ziel, diesen langsam, sozusagen von innen heraus, aufzuweichen, oder wie Bahr es nannte, „zu desintegrieren“.3 Kiesinger betonte Ende der 1970er-Jahre sogar mehrmals, dass Brandt ja eigentlich nur seine, Kiesingers, Ostpolitik realisiert habe. All dies hätte der Autor bei der Lektüre der Fraktionsprotokolle von CDU/CSU eigentlich kaum übersehen können.4 Völlig ausgeblendet bleiben die internationale Berlin-Krise um die Abhaltung der Bundespräsidentenwahl 1969, das Gerangel um Brandts wegweisende Rede vor der Konferenz der Nichtnuklearen in Genf im September 1968 und das – im Depositum Bahr dokumentierte und auch in dessen Memoiren angesprochene – Stillhalteabkommen zwischen Kiesinger und Brandt vom Frühjahr 1969, durch das die Ost-, Deutschland- und Atomwaffenpolitik der Bundesrepublik weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten und der Umsetzung einer wirklich „neuen“ Ostpolitik nach der Wahl keine unnötigen Steine in den Weg gelegt werden sollten.

Die Große Koalition mag, wie Egon Bahr anfangs warnte, eine „widernatürliche Unzucht“ gewesen sein – retrospektiv war sie zwar eine kurze, aber äußerst ertragreiche Koalition, was Schönhovens Werk trotz mancher „blind spots“ sehr eindrücklich aufzeigt.

Anmerkungen:
1 Gassert, Philipp, Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Kanzler zwischen den Zeiten, Heidelberg 2004.
2 Blasius, Rainer, Keine miese Ehe, aber ein schweres Erbe. Die SPD als Regierungspartei in der Großen Koalition der Jahre 1966 bis 1969, Rezension von Schönhovens Buch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.1.2005.
3 Niedhart, Gottfried, Zustimmung und Irritationen. Die Westmächte und die deutsche Ostpolitik 1969/70, in: Lehmkuhl, Ursula, Wurm, Clemens, Zimmermann, Hubert (Hgg.), Deutschland, Großbritannien, Amerika. Politik, Gesellschaft und Internationale Geschichte im 20. Jahrhundert (Festschrift für Gustav Schmidt), Stuttgart 2003, S. 227-245; sowie ausführlicher Bange, Oliver, Ostpolitik und Détente. Die Anfänge 1966-1969, Mannheim 2004.
4 In Auszügen nachzulesen bei Taschler, Daniela, Vor neuen Herausforderungen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition 1966-1969, Düsseldorf 2001.

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