A. Lisse: Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen

Titel
Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen bei den Konfiskationen in der SBZ 1945-1949. Zum Verhältnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen und der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland


Autor(en)
Lisse, Albert
Reihe
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 99
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
244 S., 7 s/w-Abb., 8 Tab., 8 Zeichnungen
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlev Brunner, Historisches Institut, Universität Rostock

Die Frage nach den Handlungsspielräumen deutscher Verwaltungs- und Regierungsstellen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Die bislang präsentierten Schlussfolgerungen reichen von strikter Determinierung aller wesentlichen Politikbereiche durch die Sowjetische Militäradministration bis zur Behauptung weitreichender Eigenständigkeit der deutschen Landesverwaltungen. 1

In dieses weit gefasste Spektrum reiht sich Albert Lisse mit seiner im Juli 2003 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin verteidigten Dissertation ein. Er vertritt die These, die deutschen Handlungsspielräume bei den Konfiskationen seien „erheblich“ weiter gefasst gewesen, als dies bislang angenommen worden sei. Die Konfiskationen privaten Eigentums im industriell-gewerblichen Bereich seien deutscher Verantwortung zuzuordnen, die Bodenreform sei auf der Basis „deutschen Rechts“ erfolgt und keine besatzungsrechtliche Maßnahme gewesen (S. 28). Dies „dokumentarisch“ zu untermauern ist das Anliegen des Autors, dessen Hauptinteresse offensichtlich auf die Restitutionsproblematik im Zeichen der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der Regierung der DDR vom 15. Juni 1990 gerichtet ist. Diese Erklärung legte fest, dass die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 als besatzungsrechtliche Normen nicht rückgängig zu machen seien. Durch die Fixierung auf diese bis heute andauernde juristische Auseinandersetzung leidet die Darstellung und Analyse der komplexen Problematik außerordentlich. Die Reduktion auf formale Rechtssetzungsakte ohne differenzierte Einbeziehung der zeitgenössischen Diskurse und historischen Hintergründe führt zu Schlussfolgerungen, die hinter den bereits erreichten Forschungsstand zurücktreten. Die vom Erstgutachter der Dissertation, Klaus Schroeder, im Vorwort konstatierte Beseitigung eines weiteren „weißen Flecks“, die „mit großer Präzision und Souveränität“ erfolgt sei (S. 9), bewahrheitet sich mitnichten.

Zur Entstehung der Bodenreformverordnungen der Länder und Provinzen vom September 1945 verweist Lisse zu Recht auf die sowjetische Vorlage vom Juli 1945, die das ZK der KPD in einen Entwurf umsetzte und dessen Passagen sich teils wörtlich in den Bodenreformverordnungen wiederfanden. Allerdings habe die KPD bereits in ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945 die „Liquidierung des Grundbesitzes“ und die Übergabe dessen Besitzes an die Provinzial- und Landesverwaltungen als Forderungen formuliert (S. 58). Was Lisse verschweigt: Diese Forderungen waren erst auf Intervention Stalins bei den Moskauer Beratungen der KPD-Führung vom 4. bis zum 10. Juni 1945 in den Juni-Aufruf aufgenommen worden. Die KPD-Führung ging nämlich zunächst davon aus, dass eine Bodenreform frühestens im Jahre 1946 durchgeführt werden könne.

Tatsächlich gab es keinen formalen SMAD-Befehl, der zum Erlass von Bodenreformverordnungen aufrief. Allerdings waren beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern während der Besatzungszeit 40 Befehle und Anordnungen zur Durchführung der Bodenreform erlassen worden. Die SMA-Landesverwaltung kontrollierte die Aufteilung der Güter und setzte sie gegen Widerstände selbst aus den Reihen kommunistischer Funktionäre durch. Der damalige stellvertretende Politische Berater des Obersten SMAD-Chefs Wladimir S. Semjonow legte am 27. August 1945 einen Maßnahmenkatalog vor, der die Durchführung der Bodenreform „auf der Linie der SMAD“ gewährleisten sollte und die „inoffizielle“ Unterstützung der deutschen Organe durch die SMA-Länderverwaltungen empfahl. Das Fehlen eines zentralen Befehls sagt nichts über Initiative und Verantwortung aus. Aus dem Blickwinkel der Besatzungsmacht war es opportun, diese einschneidende Maßnahme nicht als besatzungshoheitlichen, sondern als deutschen Rechtssetzungsakt darzustellen.

In der Frage der Enteignungen im industriell-gewerblichen Bereich gingen tatsächlich deutsche Verordnungen auf Landesebene zentralen Regelungen durch die Besatzungsmacht voraus. In Mecklenburg-Vorpommern etwa wurden ab Ende August 1945 diverse Verordnungen erlassen, die die Beschlagnahme von Eigentum nazistisch belasteter Personen und Funktionsträger sowie solcher, die als Kriegsverbrecher identifiziert werden konnten, regelten. Die Zielrichtung dieser Maßnahmen war Sühne und Bestrafung und vorerst nicht ökonomische Verwertungskriterien, wie sie ab Frühjahr 1946 von der SMAD und der ihr unterstehenden zentralen deutschen Sequestrierungskommission im Hinblick auf den Aufbau eines landes-/„volks“-eigenen Sektors durchgesetzt wurden. In Mecklenburg-Vorpommern wurden zunächst selbst Kleinstobjekte beschlagnahmt, sofern sie Nazifunktionären gehörten, während als Rüstungsbetriebe identifizierbare Großbetriebe wie die Heinkel-Werke sogar durch die Sequestrierung „rutschten“, offenkundig weil man befürchtete, der Betrieb falle dann an „die Russen“. Diese Praxis musste auf Befehl der SMA geändert, die bisherigen Sequestrierungen entsprechend geprüft und den zentralen Richtlinien angepasst werden.

Kaum nachvollziehbar ist auch hier das Beharren auf einer „deutschrechtlichen Grundlage“ der Enteignungen (S. 117ff.). Zwar erfolgte die Enteignung der in der so genannten Liste A zusammengefassten Betriebe offiziell auf der Basis von Landesgesetzen – die sich aber auf vorangegangene SMA-Befehle bezogen! Im entsprechenden SMA-Befehl in Mecklenburg-Vorpommern vom 10.8.1946 wurde der Landespräsident u.a. verpflichtet, eine Verwaltungsstruktur über die in „Landesbesitz“ übergehenden Betriebe auszuarbeiten und der SMA vorzulegen, was am 31.8.1946 geschah. 2

Lisse vernachlässigt zu stark die Prozesshaftigkeit der Gesamtproblematik. Unzweifelhaft war die Transformation in Richtung „volksdemokratisches“ Modell 1948 in eine forcierte Phase eingetreten und in grundlegenden Bereichen weit fortgeschritten. Aber 1945 war dies noch nicht so. Die Behauptung, die gelenkte NS-Wirtschaft sei eine gute Ausgangsbasis für die Errichtung einer „gütergelenkten sozialistischen Planwirtschaft nach sowjetischem Modell“ gewesen (S. 91, 155), suggeriert eine Kontinuitätslinie, die nicht gegeben war. Die wirtschaftlichen Realitäten der ersten drei Nachkriegsjahre, vor allem der ökonomische Partikularismus der SMA-Landesverwaltungen und extrem kurze, ein Vierteljahr umfassende Planungszeiträume, hatten mit einer „Planwirtschaft nach sowjetischem Modell“ wenig zu tun. Der SMAD-Befehl Nr. 9 vom Juli 1945, den Lisse als Beleg heranzieht, steht für die Notwendigkeit des Wiederaufbaus gerade auch aus Versorgungs- und Reparationsinteressen der Besatzungsmacht, ein Ziel das durch konkurrierende sowjetische Organe mit ungezügelten Demontagen gefährdet wurde. Auch in dieser Hinsicht fällt Lisse hinter dem Forschungsstand zurück, wenn er die „Beute-, Reparations- und Demontagepolitik“ als Beispiel für die Effizienz der SMAD ansieht (S. 33). 3

Auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiet kann von einem „erheblichen Einfluss“ deutscher Verwaltungen auf sowjetische Entscheidungen keine Rede sein. Die „ersten Schritte totalitärer Machtergreifung“ (S. 18) im Bereich des Bankenwesens beruhten ausschließlich auf Rechtsakten der Besatzungsmacht. Auch später diktierte die SMAD in Finanz- und Haushaltspolitik bei formaler Einhaltung parlamentarischer Abläufe in den Landtagen. Problematisch in Lisses Arbeit ist die mangelnde Differenzierung dessen, was als „deutsche Verwaltungsstellen“ anzusehen ist. Was für die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) ab 1948 gilt, trifft nicht auf die Länder weder vor und erst recht nicht nach 1948 zu. Deutsche Rechtsetzungsakte auf Landesebene wurden im Rahmen eines umfassenden Weisungs-, Bestätigungs- und Kontrollsystems der Besatzungsmacht erlassen. In diesem System gab es Lücken – die Bodenreform und spätestens ab Frühjahr 1946 auch die Sequestrierungen und Enteignungen im Industriebereich zählten dazu nicht.

Der Verweis auf die Auswertung „erstmals zugänglicher deutscher Dokumente“ mutet in einer 2003 veröffentlichten Arbeit eigentümlich an. Die im Quellenverzeichnis aufgelisteten Bestände verschiedener Landesarchive und des Bundesarchivs waren wohl kaum erst kürzlich einsehbar. Mag die Nichteinbeziehung sowjetischer Quellen aus arbeitsökonomischen Gründen nachvollziehbar sein, so ist der Verzicht auf die Auswertung der Bestände von KPD/SED im zonalen und Landesmaßstab ein die Solidität der Quellenbasis einschränkendes Manko. Wenig nachvollziehbar ist auch, warum in der Frage der Bodenreform das neben der Provinz Brandenburg am meisten gutswirtschaftlich geprägte Land – Mecklenburg-Vorpommern – quellenmäßig in die Untersuchung nicht einbezogen worden ist.

Es sei dahingestellt, ob man unter juristischen Gesichtspunkten Lisses Argumentation folgen kann, unter Kriterien einer historischen Analyse liefert er jedenfalls keine erweiternden Erkenntnisse über das hierarchische Kompetenzgeflecht zwischen Besatzungsmacht und deutscher Verwaltung.

Anmerkungen:
1 Zu ersterem Creuzberger, Stefan, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Weimar 1996; letzteres bei Melis, Damian van, Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945- 1948, München 1999.
2 Die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern unter sowjetischer Besatzung 1945 bis 1949, Band 1: Die ernannte Landesverwaltung, Mai 1945 bis Dezember 1946, hrsg. von Müller, Werner; Röpcke, Andreas, eingeleitet und bearbeitet von Detlev Brunner, Bremen 2003, S. 549f.
3 Karlsch, Rainer; Laufer, Jochen; M. v. Sattler, Friederike (Hgg.), Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944-1949. Hintergründe, Ziele und Wirkungen, Berlin 2002.

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