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Titel
Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns


Herausgeber
Harth, Dietrich; Schenk, Gerrit Jasper
Erschienen
Heidelberg 2004: Synchron Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dariuš Zifonun, Fachgruppe Soziologie, Universität Konstanz

Der von Dietrich Harth und Gerrit Jasper Schenk herausgegebene Band legt Zeugnis ab von der Vor- und Frühphase des Heidelberger Sonderforschungsbereiches (SFB) „Ritualdynamik“ (http://www.ritualdynamik.uni-hd.de). Insofern ist die Sammlung weniger Leistungsschau des Forschungsverbundes als vielmehr Dokumentation des kollektiven Orientierungsprozesses der beteiligten WissenschaftlerInnen. Sie umfasst Beiträge, die größtenteils im Wintersemester 2000/01 im Rahmen einer Ringvorlesung vorgetragen wurden. Der SFB hat es sich zur Aufgabe gemacht, so dessen Sprecher Axel Michaels im Vorwort, einen Beitrag zu einer noch zu begründenden „Ritualwissenschaft“ zu leisten (S. 9). Gerrit Jasper Schenk expliziert in seiner Einleitung (S. 11-26) die spezifische, gemeinsame Perspektive der Heidelberger Forscher: Es soll um die Prozessdimension des Rituellen gehen, die im Titel „Ritualdynamik“, den Buch und SFB teilen, prägnant zum Ausdruck kommt. Die WissenschaftlerInnen unterscheiden als Resultat ihrer mehrjährigen Beratungen und Diskussionen drei Aspekte dieser Dynamik: Erstens die Eigendynamik von Ritualen, die sie als „Strukturdynamik“ bezeichnen, zweitens die historischen Veränderungen, die Rituale erfahren („Geschichtsdynamik“), sowie schließlich drittens die Außenwirkung von Ritualen auf die Gesellschaft und die Dynamik, die durch Rituale initiiert wird („Sozialdynamik“) (S. 23).

An dieser pointiert und präzise formulierten Programmatik werden sich die Leistungen des SFB messen lassen können – nicht jedoch die Beiträge des vorliegenden Buches, die der Formulierung des genannten Programms vorausgingen bzw. mit deren Hilfe es zu seiner Formulierung kam. Warum dann publizieren, also öffentlich machen, was interner Meinungsbildung diente und – im Programm – „aufgehoben“ ist? Müssen sich Außenstehende für das Werden eines kollektiven Forschungsvorhabens interessieren? Sie müssen es nicht – und dennoch ist die Herausgabe des Bandes verdienstvoll, da er Texte auf hohem Niveau präsentiert und vielfältige Anregungen bietet.

Michael Stausberg rekonstruiert in seinem Beitrag (S. 29-48) die Vernetzung von Ritualistik und Religionswissenschaft. Während Schenk einführend „Performanz“ als Referenzkonzept diskutiert, stellt Stausberg in seiner aufschlussreichen Begriffsgeschichte „Ritual“ in den Kontext von „Ritus“, „Mythos“, „Zeremonie“, „Symbol“, aber auch „Handeln“ und „Praxis“. Stausberg unternimmt des Weiteren eine (äußerst) kritische Rekonstruktion der Ritualforschung innerhalb wie außerhalb der Religionswissenschaft. Hervorzuheben sind die Ausführungen über William Robertson Smith, Victor Turner und Mary Douglas.

Der bei Stausberg zugunsten der Ethnologie vernachlässigten soziologischen Ritualforschung widmet sich Uta Gerhardt in ihrer „soziologischen Skizze“ (S. 49-72). Sie unterscheidet dabei zwischen dem Repräsentationsritual, das der Herstellung und Darstellung (subjektiv empfundener) gesellschaftlicher Einheit diene, und dem Interaktionsritual, in dem sich die Handelnden wechselseitig ihrer Identität versicherten. Diese Unterscheidung ist nicht zuletzt deshalb hilfreich, da sich mit ihr ein vorschnelles In-Eins-Setzen der rituellen Sakralisierung von Gemeinschaft mit der Behandlung des Interaktionspartners als „geheiligtem Objekt“ vermeiden lässt. Allerdings überführt Gerhardt ihre typologische Unterscheidung in ein Modell dichotomer Weltbilder, in dem sie Repräsentationsrituale mit autoritären Gesellschaftsformen assoziiert und mit einer positivistischen Sozialforschung in Zusammenhang setzt, die „ein deterministisches Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum“ sehe (S. 66), während andererseits Interaktionsrituale Kennzeichen demokratischer Gesellschaften seien und im Rahmen einer verstehenden Soziologie behandelt würden. Mit dieser Dichotomisierung gerät Gerhardt nicht nur mit ihrer eigenen, zuvor veranschlagten Methodologie der Idealtypenbildung in Widerspruch, sondern verweigert sich einer für die Gesellschaftsdiagnose wesentlichen Einsicht: Beide Ritualtypen werden in unterschiedlichen, empirisch unterscheidbaren Gesellschaftsformen auf verschiedene Weise praktiziert und verschieden bewertet. Genau in dieser Einsicht liegt die Relevanz der Thesen vom Antiritualismus bei Mary Douglas und vom versteckten Ritualismus demokratischer Gegenwartsgesellschaften bei Hans-Georg Soeffner, die Gerhardt diskutiert, um sich dann der „demokratischen“ Bewertung anzuschließen.

Im ersten, theoretisch-konzeptionell ausgerichteten Teil des Bandes findet sich außerdem ein Beitrag von Christoph Wulf und Jörg Zirfas (S. 73-93), die aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive die Relevanz des Konzeptes der „Performativität“ für die Ritualforschung ausloten, sowie eine Erörterung des Verhältnisses von Ritual und sozialem Handeln, in der Dietrich Harth nochmals Begriffsarbeit leistet (S. 95-113).

Nicht sämtliche Beiträge der stärker empirisch orientierten Teile des Bandes können an dieser Stelle gewürdigt werden.1 Für HistorikerInnen besonders aufschlussreich dürften die Texte von Stefan Weinfurter (S. 117-137), Jan Assmann (S. 261-274) und Joachim Gentz (S. 307-337) sein. Weinfurter, dessen Beitrag sich in der zweiten, „Kulturen Europas“ gewidmeten Abteilung findet, demonstriert anhand des mittelalterlichen Rituals des Hundetragens die eigentümliche rituelle Spannung zwischen der einerseits festen Form des Rituals und dem anderseits historisch sich wandelnden sozialen Sinn – von der Ehrenstrafe zur Gerichtsstrafe (S. 121) –, den die Akteure mit ihm verbanden. In seiner Diskussion der Investitur (mit der symbolischen Handlung des Händereichens) erwähnt Weinfurter eher en passant eine weitere zentrale Dimension von Ritualen: die „Visualisierung der Ordnung“. Das Ritual mache „etwas mit den Sinnen erfahrbar, was im Grunde nicht sichtbar ist“ (S. 125). Aber auch in methodologischer Hinsicht finden sich in dem Beitrag wichtige Argumente. Weinfurter verweist darauf, dass der von ihm identifizierte Bedeutungswandel des Rituals nicht an dessen formalem Ablauf erkennbar, sondern allein durch eine Kontextanalyse zu entschlüsseln ist. Er macht damit die Grenzen eines rein induktiven Verfahrens kenntlich, verdeckt allerdings andere methodische Probleme, die der Diskussion harren: Woher wissen wir, welches die relevanten sozialen, rechtlichen und religiösen Kontexte sind, die wir zum Verstehen von Ritualen heranziehen müssen, wenn diese selbst darauf keine Hinweise enthalten? Und: Woher wissen wir, dass die Rituale diese Hinweise nicht doch enthielten, wenn uns als Daten allein historische Vertextungen zur Verfügung stehen, die Hinweise möglicherweise getilgt haben, welche in den primären Handlungen enthalten waren?

Im Sammelband finden sich zwei unterschiedliche Strategien des Umgangs mit der methodischen Problematik einer historiografischen Ritualforschung, die bei Weinfurter anklingt. Jan Assmann – sein Beitrag ist im dritten Teil über „Kulturen des östlichen Mittelmeers“ untergebracht – bedient sich der vorliegenden Textquellen des Alten Ägypten zur Ermittlung des symbolischen Gehaltes von Totenriten. Dessen Rekonstruktion erlaubt ihm dann den Rückschluss auf zentrale Aspekte ägyptischer Kosmologie, die er zum einen in der „dreiteiligen Unterscheidung von Lebenswelt, Totenwelt und Elysium“ (S. 271) – im Gegensatz zur in anderen Religionen üblichen Zweiteilung – und zum anderen im „symbiotischen Weltverhältnis“ (S. 273) verortet, das es für die Ägypter zentral machte, „nicht aus der Kreisläufigkeit der Natur und des kosmischen Lebens herauszufallen“ (S. 273) – ein Weltverhältnis, das Assmann mit dem abendländischen kontrastiert.

Joachim Gentz hingegen versucht im vierten Abschnitt über „Kulturen Asiens“, erst gar nicht das historisch verlorene Ritual in den Blick zu bekommen, sondern fokussiert auf die Ritentheorien, die sich aus den Texten der chinesischen Frühzeit extrahieren lassen. Fruchtbar wird diese Forschungsstrategie, da Gentz zu zeigen vermag, dass mit ihrer Hilfe nicht nur Idealisierungen ritueller Ordnung zu Tage treten, sondern dass in den Texten auch die idealtypischen Abweichungen von der Ordnung impliziert sind. Die Theorierekonstruktion erlaubt es so, ein lebendiges Bild des Gesellschaftssystems zu erlangen, dessen Legitimation im Ritual verhandelt wurde.

Hinzuweisen ist schließlich auf den wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag Ulrike Brunottes, in dem diese sich der Ritualkonzeptionen bei Durkheim, Freud und Nietzsche annimmt (S. 139-152). Brunotte führt vor Augen, wie die soziale Krisenwahrnehmung der Autoren der vorletzten Jahrhundertwende und insbesondere ihre Sicht der als entwertet betrachteten rationalistischen europäischen Tradition mit dem Studium außereuropäischer und (vermeintlicher) Urformen der Vergemeinschaftung einherging, die rituell geprägt waren. Brunotte verdeutlicht, dass das ausgehende 19. Jahrhundert die „Colonial Opportunities“2 seiner Zeit auch zur Entwicklung neuer Modelle der Gesellschaftsgründung „zu Hause“ nutzte.

Ob aus dem postulierten Projekt einer Ritualwissenschaft etwas wird, mag man bezweifeln. Georg Simmel hat darauf hingewiesen, dass derartige Neugründungen sich nicht allein durch die Bündelung zuvor getrennter Beobachtungsperspektiven auf einen bekannten Gegenstand legitimieren lassen, sondern dieser einer „neuen Abstraktion und Zusammenordnung“ unterworfen werden müsse.3 Eine solche scheint mir nicht erkennbar und wohl auch nicht vonnöten. Unabhängig davon ist die Ritualforschung ein prosperierender Forschungszweig, zu dem der vorliegende Sammelband einen wertvollen Beitrag leistet.

Anmerkungen:
1 Es seien zumindest die Autoren der Beiträge benannt, die keine Berücksichtigung finden: Marcus Imbsweiler, Franz Maciejewski, Inga Pinhard, Burckhard Dücker, Gerd Theissen, Angelos Chaniotis, Klaus-Peter Köpping, William S. Sax, Ute Hüsken, Axel Michaels.
2 Wright, Gwendolyn, Colonial Opportunities, in: Dies., The Politics of Design in French Colonial Urbanism, Chicago 1991, S. 53-83.
3 Simmel, Georg, Das Problem der Soziologie, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 1-31, hier S. 4.

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