H. Schmidt: Die Selbstbehauptung Europas

Titel
Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert


Autor(en)
Schmidt, Helmut
Erschienen
Stuttgart/München 2000: Deutsche Verlags-Anstalt
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für Neue Politische Literatur und H-Soz-u-Kult von:
Brill, Heinz

SELBSTBEHAUPTUNG?

Die Regierungskonferenz in Nizza war vom Streit um die Neugewichtung der Stimmen und Mandate in den europäischen Institutionen bestimmt. Berliner Zugeständnisse bei der Stimmengewichtung im Ministerrat wurden durch das relative Gewicht Deutschlands im EU-Parlament kompensiert. Hinter den Neuregelungen der Abstimmungen steckte ein handfester Streit um Macht, Einfluß und Geld. Allen Akteuren war klar: Politisch funktioniert die EU nur bei balanciertem Gleichgewicht. Der aktuelle Streit gibt aber auch Anlaß zu der Frage: Warum ist der europäische Einigungsprozeß wichtig, und warum wollen wir eine immer engere Integration der europäischen Staaten? Auf diese grundlegenden Fragen versucht Helmut Schmidt mit seinem neuesten Buch eine Antwort zu geben.

Auf die Frage nach dem Ziel der EU resümiert Schmidt, daß zu Zeiten der Montanunion in den fünfziger Jahren und noch zu Zeiten des gemeinsamen Marktes bis ans Ende der achtziger Jahre sich niemand die Frage habe stellen müssen, wo denn die Grenzen Europas im Osten und im Südosten liegen; heute dagegen werde ernsthaft debattiert, ob nicht auch Teile des Balkans, ob eines Tages die Türkei oder gar Rußland, die Ukraine und Belarus zur EU gehören sollen. Einstweilen seien die Fragen nach der "Finalität" der EU ohne offizielle Antwort. Wohl aber gebe es seit den neunziger Jahren eine größere Zahl von Antwortversuchen.

Die Utopien, Visionen, Strategien oder auch Zielvorstellungen sind aber nicht deckungsgleich. Im Rahmen der Vielfalt der sich überlagernden Geometrien innerhalb der EU lassen sich nach Schmidt (wie auch in der einschlägigen Europa-Literatur) fünf unterschiedliche Ansätze ausmachen: 1.) Europa der Vaterländer (de Gaulle, Thatcher); 2.) Europa der konzentrischen Kreise (Delor-Konzept); 3.) Europa der differenzierten Integration; 4.) Europa der abgestuften Integration; 5.) Kerneuropa (Schäuble/Lamers-Papier).

Die Mehrzahl dieser Konzeptionen stammt von französischen Politikern. Mangels Konsens führte bisher keiner dieser Ansätze zu einer überzeugenden außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU, geschweige denn zu einem Weg der politischen Finalität des Integrationsprozesses.

Auch die Sicherheitspolitik der EU steht für Schmidt auf dem Prüfstand. Dies sowohl im Binnen- als auch im Außenverhältnis. Im Binnenverhältnis, was die "inneneuropäische Machtbalance" anbelangt; im Außenverhältnis stellt sich die Frage, wie die Beziehungen zu anderen Großräumen und Staaten gestaltet werden sollen. Geopolitische Interessen der EU wurden bisher nicht definiert. Bestimmt wurde nur die Form, in der diese wahrgenommen werden können. Die EU bildet auch in dieser Hinsicht eine große Herausforderung.

Für Schmidt ist es keine Frage, daß die innere Entwicklung der EU und ihre Haltung nach außen beeinflußt werden vom Verhalten der Weltmächte und der übrigen Staaten, von den Tendenzen der Weltwirtschaft, von geistigen und religiösen Strömungen in der Welt.

Nach Schmidt wird die EU die Grundlinien ihrer Politik gegenüber der geographisch eng benachbarten Weltmacht Rußland - und auch gegenüber der Ukraine und Belarus (Weißrußland) - unabhängig von den USA festlegen müssen. Gegenüber China dürfe sie sich nicht an einem kalten Krieg beteiligen - und den Amerikanern sollte dies rechtzeitig gesagt sein. In der Konsequenz bedeutet Schmidts Credo: die EU soll als eigenständiger Akteur "Weltpolitik" betreiben. Das Postulat "Europäische Union" gleich "Weltmacht" macht er sich jedoch nicht zu eigen.

Unmißverständlich plädiert Schmidt aus strategischen Gründen für eine größere Distanz zu den USA und, was die Erweiterung der EU betrifft, zu einer klaren Absage an die potentiellen Beitrittskandidaten Türkei, Rußland, Ukraine und Weißrußland. Als Begründung nennt Schmidt insbesondere geopolitische, kulturelle und demographische Faktoren.

Die Intention und den Inhalt seines Buches faßt Schmidt in zwanzig Thesen zusammen. Dabei erklärt er insbesondere die Selbsteinbindung Frankreichs und Deutschlands sowie deren engste Zusammenarbeit zur vorrangigen Notwendigkeit. Nur wenn Europa gemeinsam auftrete, habe es angesichts der globalen Herausforderung überhaupt eine Chance, im Konzert der Weltmächte gehört zu werden. Sollte der europäische Einigungsprozeß aber scheitern, würden die europäischen Staaten zu Randfiguren der Weltpolitik.

Fazit: Seit Jahrzehnten wächst Europa aus unterschiedlichen Motiven zusammen. Eines der Motive ist, daß nur ein Vereintes Europa sich auf Dauer im internationalen Spiel der Kräfte behaupten kann. Der Einigungsprozeß hat bereits viele positive Ergebnisse vorzuweisen, auf der anderen Seite aber auch deutlich gemacht, daß es aufgrund erheblicher Interessenunter- schiede nur ein "Europa der National-Staaten" geben kann. Schmidt bekennt in seinem Buch, daß er sich nie für einen Europa-Idealisten gehalten habe. Er war und bleibe aber ein engagierter Anhänger der europäischen Integration. Den Beweis dafür hat Schmidt mit seinem Buch erneut erbracht.

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Rezension hervorgegangen aus der Kooperation mit der Zeitschrift Neue Politische Literatur (NPL), Darmstadt (Redaktionelle Betreuung: Simone Gruen). http://www.ifs.tu-darmstadt.de/npl/
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