Th. Köcher: Die Auseinandersetzung des DGB mit dem NS

Cover
Titel
"Aus der Vergangenheit lernen – für die Zukunft arbeiten!"?. Die Auseinandersetzung des DGB mit dem Nationalsozialismus in den 50er und 60er Jahren


Autor(en)
Köcher, Thomas
Reihe
Schriftenreihe Hans Böckler Stiftung
Erschienen
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schmitz, Bad Soden

Die Auseinandersetzung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit der 1950er und frühen 1960er-Jahre hat Thomas Köcher in seiner Dissertation untersucht, die in der Schriftenreihe der Hans Böckler Stiftung veröffentlicht wurde. Als Titel wählte er die Aussage des DGB-Vorsitzenden Ludwig Rosenberg „Aus der Vergangenheit lernen – für die Zukunft arbeiten!“, die er allerdings neben dem Ausrufezeichen mit einem Fragezeichen versieht. Köcher hat zu den Themen Entnazifizierung, Wiedergutmachung, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Israel und Widerstand vom DGB herausgegebene Zeitungen, DGB-Vorstandsakten und Nachlässe führender Gewerkschaftsfunktionäre ausgewertet. Die wichtigste Materialbasis seiner Studie ist die DGB-Presse, die zum Teil nur einige Jahre erschien: „Gewerkschaftszeitung“ bis 1947, „Der Bund“ bis 1949, „Welt der Arbeit“, „Die Quelle“, „Gewerkschaftliche Monatshefte“, „Aufwärts“. Weiterhin wurden Informations- und Nachrichtendienste des DGB durchgesehen.

Über den DGB liegen insgesamt viele Veröffentlichungen vor, jedoch fehlte es bisher an Literatur zu seiner „Vergangenheitsbewältigung“. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften distanzierten sich nachdrücklich vom nationalsozialistischen Regime, aber zunächst fand keine tiefere Auseinandersetzung statt. Köcher macht in diesem Zusammenhang auf einen Aspekt aufmerksam, den er nicht näher untersucht, obwohl er gerade heute von großem Interesse ist: „Die Klientel des DGB [...] blieb [...] dieselbe wie in der Zeit zwischen 1933 und 1945, so dass die kommunikativen Tabus zumindest ansatzweise dieselben wie in der übrigen Bevölkerung waren. In diesem Spannungsfeld – zwischen notwendiger Legitimation und Involviertheit der eigenen Klientel – bewegte sich der DGB und musste an ausgewiesenen Punkten zur Vergangenheit Stellung beziehen. Die Ausgangslage wurde dadurch verschärft, dass der DGB auch außerhalb der eigenen Organisation, im gesellschaftspolitischen Bereich der Bundesrepublik und als Vertreter der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung im Ausland, eine bedeutende Rolle einnahm. [...] Trotzdem stand die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht auf der Prioritätenliste des DGB.“ (S. 10) Die ungeklärten Forschungsfragen zur gewerkschaftlichen „Vergangenheitsbewältigung“ können mit Köchers Arbeit nicht vollständig beantwortet werden. Er bezeichnet seine Untersuchung als „einen Mosaikstein in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“ (S. 16).

Methodisch knüpft Köcher an Halbwachs’ Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ an1 und versteht seine Arbeit darüber hinaus als Diskursanalyse. „Wie konstituiert sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis des DGB? Im Einklang mit Regine Robin2 kann vom DGB als einer Gruppe gesprochen werden, die sich in ihrem kollektiven Gedächtnis einen Gedächtnisroman erarbeitet. Auf einem Gedächtnisroman basiert ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzung des DGB mit dem Nationalsozialismus. Da Erinnerung an Kommunikation gebunden ist, stellt sich die Frage nach den Inhalten der Kommunikation. Wie werden diese Erinnerungen benutzt? Kann von einer Verwertung der Vergangenheit im Zusammenhang mit einer Legitimation der eigenen Existenz gesprochen werden?“ (S. 24).

Nach dem umfangreichen Kapitel mit methodischen und inhaltlichen Fragestellungen wendet sich Köcher den einzelnen Untersuchungsfeldern zu und analysiert sie anhand eines einheitlichen formalen Schemas: Auf eine zeitgeschichtliche und inhaltliche Einführung in den jeweiligen Themenbereich folgen die Analyse der DGB-Positionen und eine bewertende Zusammenfassung, die im Schlusskapitel erneut aufgegriffen und zu einer Gesamtanalyse verdichtet wird. Köchers Antwort auf die Frage „Hat der DGB aus der Vergangenheit ‚gelernt’, um für die ‚Zukunft zu arbeiten’?“ (S. 187) fällt differenziert aus. „In bezug auf die Zeit des nationalsozialistischen Regimes und der rassisch-ideologischen Verbrechen an Millionen von Menschen hat der DGB [...] Konsequenzen gezogen und Weichen für die Zukunft gestellt. Die Neugründung als überparteiliche, überkonfessionelle Einheitsgewerkschaft war ein eindeutiges Signal für eine Neuorientierung der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung. [...] Auf organisatorischer Ebene wurde aus der Zersplitterung und Uneinigkeit der Jahre 1932/33 gelernt.“ (S. 187)

Zugleich kritisiert Köcher, „dass in allen Untersuchungsfeldern der Nationalsozialismus und erst recht die Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in das System keinen direkten Bezugspunkt für den DGB darstellte“ (S. 187). „Die Grundposition des DGB sah die Unschuld der deutschen Bevölkerung und insbesondere der eigenen, gewerkschaftlichen Klientel vor. Die Unschuldsvermutung war verbunden mit der Behauptung, die Mehrheit der Deutschen sei ‚antinazistisch’ gewesen. [...] Neben der Konzentration auf Hitler selbst sah die gewerkschaftliche Presse bestimmte Standesgruppen und gesellschaftliche Ebenen in der Verantwortung für den Nationalsozialismus.“ (S. 188) Die Kritik an den Führungseliten habe dazu gedient, „den wirtschaftspolitischen Forderungen des DGB Ausdruck zu verleihen“ (S. 189).

Fast nebenbei erwähnt Köcher einen besonderen Aspekt des Verhältnisses des DGB zum Nationalsozialismus. Es handelt sich um die Funktionäre, die nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 mit dem neuen System kooperierten und nach 1945 wiederum in den neuen Gewerkschaften arbeiten wollten. „Zwar wurde auch intern Schuld verhandelt, eine Signalwirkung nach außen bzw. in die Reihen der Organisation blieb hingegen aus. Eine Verbindung zwischen Funktionären der zerschlagenen Gewerkschaftsbewegung und der DAF oder dem nationalsozialistischen Regime fand öffentlich nicht statt.“ (S. 189) Die Lehren des DGB aus dem Nationalsozialismus waren neben der organisatorischen Neuausrichtung als Einheitsgewerkschaft das prinzipielle Bekenntnis zur Demokratie sowie der „Versuch, sie in der Bundesrepublik offen zu vertreten und zu verteidigen“ (S. 191).

Köchers Feststellung, dass diese Untersuchung die Auseinandersetzung des DGB mit dem Nationalsozialismus noch keineswegs erschöpfend analysiert, ist zutreffend. Weitere Forschungen unter besonderer Berücksichtigung der Einzelgewerkschaften und der Mitglieder sollten folgen; sie können auf Köchers Vorarbeit gut aufbauen.

Anmerkungen:
1 Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967 (zuerst posthum frz. 1950).
2 Robin, Regine, Kollektives Gedächtnis und ‚Gedächtnisroman’, in: KultuRRevolution 20 (1988), S. 45-48.

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