P. Bourdieu: Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft

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Titel
Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft, hg. von


Autor(en)
Bourdieu, Pierre
Herausgeber
Ohnacker, Elke; Schultheis, Franz
Erschienen
Anzahl Seiten
199 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus Kröger und Henning Marmulla, Schule für Historische Forschung, Universität Bielefeld

Der von Elke Ohnacker und Franz Schultheis herausgegebene Band hat den Anspruch, erstmals die „Arbeiten Pierre Bourdieus zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft“ zusammenzufassen (Klappentext). Diesem Anspruch werden Ohnacker und Schultheis nur mit einer gewichtigen Einschränkung gerecht. Das Werk Bourdieus, das man ohne Zaudern unübersichtlich nennen darf1, ist durchzogen vom Grundgedanken der Synthetisierung der beiden Disziplinen. Wie Bourdieu selbst in einem Gespräch mit Lutz Raphael einräumte (im vorliegenden Band, S. 98-125), hat er Zeit seines Lebens für eine „vereinigte Sozialwissenschaft“ gekämpft, „wobei Geschichte eine historische Soziologie der Vergangenheit und die Soziologie eine Sozialgeschichte der Gegenwart wäre“ (S. 104). Dementsprechend erfasst der schmale Band nicht alle Stellungnahmen, aber zentrale und das Verhältnis der beiden Disziplinen explizit thematisierende Artikel und Reden von sowie Gespräche mit Bourdieu. Mit Ausnahme von zwei Gesprächen liegen die Texte nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Der Band gliedert sich in drei Teile. Nach dem einführenden Vorwort von Ohnacker versammelt der erste Abschnitt unter der Überschrift „Historische Soziologie“ zwei sehr unterschiedliche Beiträge: einen lediglich vier Seiten umfassenden Artikel zur französischen Weber-Rezeption sowie einen gut zwanzigseitigen Aufsatz zur „Genese des bürokratischen Feldes“. Der zweite, wesentlich umfangreichere Abschnitt bündelt in der Hauptsache Gespräche zwischen „Historikern und Soziologen“ und ergänzt diese um ein Seminarmanuskript über die „Besonderheiten der Nationalgeschichte“. Eine Rede Bourdieus über „Teilnehmende Objektivierung“ bildet den dritten Abschnitt des Bandes. Dem folgt schließlich eine Nachbemerkung von Schultheis. Unabhängig von dieser Gliederung lassen sich drei zentrale, beinahe alle Beiträge durchziehende Themen ausmachen.

1. Selbstobjektivierung. Die zentrale Frage, auf die auch der Titel des Bandes verweist, lautet: Warum ist die oft geforderte und, glaubt man den Herausgebern, so selten eingelöste Interdisziplinarität schwierig? „Probleme der Interdisziplinarität [...] liegen [...] in der unterschiedlichen Feldstruktur verschiedener Disziplinen und Unterdisziplinen, der hieraus resultierenden Verschiebungen der Beziehung dieser Felder zu anderen, wie etwa der Medienöffentlichkeit sowie, last but not least, der historischen Genese der jeweiligen nationalen wissenschaftlichen Felder.“ (S. 11)2 Folgt man dieser Problemdiagnose, kann Bourdieu ein anregender Ideenspender zur Überwindung der Schwierigkeiten interdisziplinären Arbeitens sein. Der vorliegende Band thematisiert an verschiedenen Stellen das von Bourdieu immer wieder erhobene Postulat der „teilnehmenden Objektivierung“. In einem Vortrag, den Bourdieu im Jahr 2000 anlässlich der Verleihung der Huxley Memorial Medal hielt und der den Band abschließt, bringt er dieses Forschungsprogramm auf den Punkt: „Unter teilnehmender Objektivierung verstehe ich die Objektivierung des Subjekts der Objektivierung, das heißt des analysierenden Subjekts – kurz, des Forschers selbst.“ (S. 172) Mit diesem Programm ist die Hoffnung verbunden, dass sich Schwierigkeiten der Interdisziplinarität, aber auch Probleme der internationalen Kooperation und vergleichenden Geschichtswissenschaft dann abbauen lassen, wenn der Forscher reflektiert, „daß er Teil eines nationalen wissenschaftlichen Feldes, eines Gefüges von Traditionen, Denkmustern, Fragestellungen und geteilten Überzeugungen ist“ (S. 176). Was dieser Gedanke für die Geschichtswissenschaft bedeuten könnte, expliziert Bourdieu in dem Gespräch mit Lutz Raphael.3 Der Historiker müsse „methodisch und systematisch eine doppelte Historisierung [...] vollziehen. Erstens eine Historisierung des Subjekts der Geschichtsforschung, d.h. seiner Konzepte und Klassifikationsschemata, kurz, des historischen Wahrnehmungsvermögens des Forschers. [...] Zweitens eine Historisierung der analysierten ‚Daten’ und zunächst einmal der Dokumente mit dem Ziel, die historischen Kategorien herauszufinden [...]“ (S. 115). Viele Differenzen, die scheinbar wissenschaftlich begründet sind, können eher Ausdruck von Definitions- und Konkurrenzkämpfen im akademischen Feld sein. Eine dieser Differenzen stellt den zweiten zentralen Aspekt in der vorliegenden Textsammlung dar.

2. Objektivismus und Subjektivismus – die falsche Alternative. In Bourdieus Gespräch mit dem französischen Historiker Roger Chartier („Wer macht Geschichte, wer macht Geschichten?“) diskutieren die beiden den von Bourdieu als „falsch“ bezeichneten Widerspruch zwischen Strukturalismus und Phänomenologie, zwischen Struktur und Akteur, zwischen Objektivismus und Subjektivismus – ein Widerspruch, der die Sozialwissenschaften (und damit auch die Geschichtswissenschaft) durchziehe. Bourdieu gibt zu bedenken, dass es politische Auseinandersetzungen seien, die über solche Dichotomien in das wissenschaftliche Feld hineinreichten. Einmal mehr verdeutlicht Bourdieu an dieser Stelle sein kultursoziologisches Hauptprogramm: Pascals Diktum, „die Welt erfaßt mich, aber ich erfasse sie“ (S. 71), wendet er auf seinen Gesprächspartner an, um den „Unsinn“ der falschen Alternative zwischen Objektivismus und Subjektivismus zu veranschaulichen. Es gehe „darum, den Standpunkt von Roger Chartier bezüglich der Geschichte zu erfassen, aber man muß den Standpunkt Roger Chartiers im Raum der Historiker kennen, der gleichzeitig die objektive Wahrheit Roger Chartiers und eines der Prinzipien seiner subjektiven Repräsentation ist“ (S. 72).

3. Internationale Kooperation und historischer Vergleich. Einen dritten thematischen Schwerpunkt bildet die Frage der Internationalität, sowohl auf die Forschungstätigkeit als auch auf die Gegenstände bezogen. An mehreren Stellen diagnostiziert Bourdieu zu wenig internationale Kooperation und zu wenig vergleichende Geschichtswissenschaft (insbesondere im Gespräch mit Jürgen Kocka, Hartmut Kaelble und Christophe Charle, S. 86-93).4

Diese zentralen Themen des Bandes sind sowohl für Soziologen als auch für Historiker von großem Interesse. Gleichwohl hinterlässt die Zusammenstellung von insgesamt neun Beiträgen einen zwiespältigen Eindruck und provoziert zwei kritische Einwände. Ohnacker schreibt in ihrem Vorwort, Bourdieu habe sich „ausgiebig und differenziert mit dem Verhältnis von Geschichte und Soziologie und den Möglichkeiten und strukturellen Problemen interdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit auseinandergesetzt“ (S. 7). Dem kann man einerseits folgen, andererseits aber auch fragen, ob der Begriff der „Interdisziplinarität“ das Bourdieusche Arbeiten wirklich zutreffend erfasst. Ist sein Zugriff nicht vielmehr – gerade vor dem Hintergrund der von ihm angestrebten „vereinigten Sozialwissenschaft“ – als ein transdisziplinärer zu betrachten, wie Loïc J.D. Wacquant jüngst plausibel vorgeschlagen hat?5

Zweitens ist unklar, an wen sich das Buch richten soll. Für Leser, die in erster Linie an dem Problem der Interdisziplinarität am Beispiel des Verhältnisses von Soziologie und Geschichtswissenschaft interessiert sind, bietet der Band zu wenig. Was jeweils unter „Geschichtswissenschaft“ und was unter „Soziologie“ zu verstehen ist, wird allenfalls punktuell beleuchtet. Die Frage nach den potenziellen Grenzen der Kooperation wird nicht aufgeworfen. Dies ist keine Marginalie: Disziplinäre Ausdifferenzierung ist ja keineswegs ein erkenntnishemmendes Hindernis, sondern ermöglicht ganz im Gegenteil schärfere Fragestellungen und ein Operieren mit präzisen Begriffen. Erst vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach Inter- bzw. Transdisziplinarität überhaupt sinnvoll.

Anmerkungen:
1 Eine Zusammenstellung von 1.800 Publikationen (Bücher, Aufsätze, sonstige mündliche und verschriftlichte Beiträge inklusive Radio und TV, graue Literatur sowie Übersetzungen) gibt es bei „HyperBourdieu“: <http://www.iwp.uni-linz.ac.at/lxe/sektktf/bb/HyperBourdieu.html>.
2 Wie bereits verschiedentlich betont worden ist, hat Bourdieu sein Konzept des „Feldes“ offenbar in Anlehnung an Max Webers Vorstellung von geschlossenen, einer Eigengesetzlichkeit folgenden Wertsphären und Lebensordnungen entwickelt. In diesem Sinne differenziert Bourdieu Gesellschaft in relativ autonome Felder.
3 Erstmals in Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 62-89.
4 An dieses Gespräch schließt sich eine Zusammenfassung einer Göttinger Tagung aus dem Jahr 1994 an (S. 93-97). Der Gehalt dieses Beitrages für den Sammelband ist nicht einsichtig: Eine Zusammenstellung der damaligen historischen Forschungsarbeiten der Teilnehmenden ist für das Problem des vorliegenden Buches von keinerlei Interesse.
5 Wacquant, Loïc J.D., Eine Grammatik der Praxis im Handeln, in: Papilloud, Christian, Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds, Bielefeld 2003, S. 107-111, hier S. 108.

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