P. Alheit u.a.: Die vergessene 'Autonomie' der Arbeiter

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Titel
Die vergessene 'Autonomie' der Arbeiter. Eine Studie zum frühen Scheitern der DDR am Beispiel der Neptunwerft


Autor(en)
Alheit, Peter; Haack, Hanna
Erschienen
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit der deutschen Vereinigung von 1990 erfahre auch die Vergangenheit eine Neuinterpretation, heißt es im Vorwort zu diesem Band. Wer es vermeiden wolle, in eine Siegerpose zu verfallen, sei beim „Umschreiben der Zeitgeschichte [...] auf äußerste Sorgfalt und zurückhaltende Rekonstruktion angewiesen“ (S. 9). Dagegen ist wohl nichts einzuwenden. Alheit und Haack setzen sich in dieser Hinsicht hohe Maßstäbe und versprechen überraschende Einblicke: „In sorgfältigen Detailuntersuchungen des Alltags der Menschen, der Arbeitsprozesse, der Geschlechterverhältnisse, des Wohnens und der freien Zeit, im Ernstnehmen ihrer Lebenspläne, ihrer individuellen Hoffnungen und Enttäuschungen versuchen wir zu zeigen, dass das erste und einzige ‚sozialistische Projekt’ auf deutschem Boden weniger an der falschen Idee zugrunde geht als vielmehr an den kleinen Problemen des täglichen Lebens: Der Fehlorganisation der Arbeit, der absurden ‚Pädagogisierung’ und Kontrolle des öffentlichen Lebens und an der sinkenden Bereitschaft der Akteure selbst, für jenes Projekt gesellschaftliche und politische Verantwortung zu übernehmen. Erstaunlich ist, dass gerade die Arbeiter, also die ideologisch privilegierte Klasse des ‚Arbeiter- und Bauernstaates’, den Grundstein zu seinem ökonomischen Niedergang gelegt haben.“ (S. 11)

Was hier als Leitmotiv oder auch als Kernthese aufscheint, wird am Beispiel der Rostocker Neptun-Werft ausgeführt. Im Hinblick auf ein experimentelles Vorgängerprojekt erlege man sich dabei aber „reflexive Bescheidenheit“ (S. 9) auf, heißt es. Das mag angemessen erscheinen, denn tatsächlich geht das anzuzeigende Buch auf ein Projekt zurück, das den Wandel proletarischer Milieus in den 1950er-Jahren des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand hatte. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war man dem Problem im Rahmen eines Vergleichs der Bremer Weser AG und der Neptun-Werft Rostock nachgegangen. Das Ergebnis wurde 1999 veröffentlicht.1 Zwei ost- und westdeutsche Forschungsteams hatten sich damals ans Werk gemacht, auch Peter Alheit und Hanna Haack gehörten dazu. Wenn beide fünf Jahre darauf eine separate Untersuchung zum Arbeitermilieu der Rostocker Neptun-Werft vorlegen, muss es gute Gründe geben. Sie liegen, wie es scheint, im Befund eines schon frühen Niedergangs der DDR. Die Ursachen für das Scheitern des sozialistischen Experiments müsse man in seinen Anfängen suchen. Freilich sei die Analyse nicht als „politisch-moralische Anklage“ gemeint, vielmehr wolle man sich „um ein historisches und soziologisches Verständnis des Niedergangs“ bemühen (S. 11).

Alheit und Haack nähern sich ihrem, wie sie hervorheben, begrenzten, aber auch komplexen Untersuchungsgegenstand über mehrere Stufen. Im ersten Teil des Bandes versuchen sie die sozialgeschichtlich relevanten Dimensionen des Werftarbeitermilieus auszuleuchten. Im zweiten Teil bemühen sie sich um eine soziologische Rekonstruktion dieses Milieus als Erfahrungsraum und Lebenswelt. Hierbei stützen sie sich sehr stark auf autobiografische Erzählungen ehemaliger Rostocker Werftarbeiter. Der abschließende dritte Teil dient einer Zusammenfassung der Ergebnisse und enthält eine Systematisierung der Analyseergebnisse. Das entspricht im Wesentlichen auch der Anlage des Vorgängerprojektes, nur dass hier der Vergleich mit der Bremer Weser AG entfällt.2

Der erste Teil unter dem Titel „Das Arbeitermilieu als sozialer Ort: Sozialgeschichtliche Rekonstruktion eines Werftarbeitermilieus in der frühen DDR“ umfasst drei Kapitel. Im ersten wird das Milieu als Topos, als „konjunktiver Erfahrungsraum“ und unter dem Modernisierungsaspekt beleuchtet. Es geht hierbei in erster Linie um die Erschließung eines methodischen Zugangs. Das zweite Kapitel resümiert die Geschichte der Neptunwerft und beleuchtet die seit 1945 bis in die 1950er-Jahre eingetretenen Veränderungen in den betrieblichen Machtverhältnissen und in der Belegschaftsentwicklung. Beschrieben werden Arbeitsabläufe und die Arbeitshaltung des Beschäftigten, schließlich werden auch Konfliktszenarien ins Bild gerückt. Das außerbetriebliche Milieu der Neptunwerft ist Gegenstand des dritten Kapitels. Es handelt von Wohn-, Familien- und Geschlechterverhältnissen, vom Einkommen der Arbeiterfamilien und ihrer Freizeit.

„Das Arbeitermilieu als Erfahrungsraum: Qualitative Typologien von Milieubiographien in einem ostdeutschen Arbeitermilieu“ ist der zweite Teil des Bandes mit den Kapiteln vier und fünf betitelt. Gegenstand des ersteren sind vier „Akteurstypologien“, nämlich die „neuen Protagonisten“, die „neuen Integrierten“, die „Doppelarbeiterin“ und die „neuen Randständigen“. Man kann das mit Leitungspersonal, engagierter Facharbeiterschaft, erwerbstätigen Frauen mit Familienverpflichtungen und als fremd Wahrgenommene mit mangelnder sozialer Vernetzung übersetzen. Anhand von Interviews werden so genannte „Ankerfälle“ präsentiert, die als typologisch konstitutiv gelten können. Beachtung scheinen besonders die „neuen Integrierten“ zu verdienen, denn sie seien „die entscheidenden Akteure beim Aufbau eines autonomen Arbeitermilieus in der DDR, aber ihre Aktivität ist nicht politisch, sondern pragmatisch motiviert“ (S. 373). An solchen Stellen wird die Problematik des hier verwendeten Autonomiebegriffs sichtbar. Wenige Zeilen später ist z.B. von „der faktischen Durchsetzung innerbetrieblicher Autonomie der Brigaden“ die Rede. Das nimmt auf eine Tendenz Bezug, die um 1960 zu Konflikten und Kontroversen geführt hatte, der man aber mit dem Begriff der Autonomie wohl kaum gerecht wird. Überdies zeigt das Beispiel, dass die Interviewten wie ihre Interviewer und Interpreten den Zeitrahmen der Untersuchung, die frühe DDR, vor allem also die 1950er-Jahre, immer wieder sprengen.

Im fünften Kapitel geht es um „Bewegungen im ‚Milieuraum’ der Neptunwerft. Knapp wird auf Retraditionalisierungstendenzen im Milieu verwiesen, um dann, ebenso apodiktisch, auf „einen deutlichen Autonomiegewinn der untersten Produktionseinheiten“ und gleichzeitig „einen sukzessiven Zerfall der Produktivitätsstandards“ zu verweisen (S. 421). Das sind interessante, wenngleich nicht unumstrittene Ansätze, die leider nicht eingehender verfolgt werden. Ein Exkurs verspricht „Literarische Spuren eines ostdeutschen ‚Gegenmilieus’“, geht aber nur auf Buch und Film „Spur der Steine“ ein.

Das den Schlussteil bildende sechste Kapitel bündelt die zuvor ausgebreiteten Befunde in der These vom Entstehen eines autonomen Arbeitermilieus in der Neptunwerft. Doch dieses habe sich als modernisierungsresistent erwiesen. Absurderweise sei der „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR an seiner „Arbeiterklasse“ gescheitert. Die These ist griffig, aber wohl zu einfach. Dass die deutschen Arbeitermilieus nach 1945 in die „Systemdynamik“ 1950er-Jahre eine beginnende Erosion des westdeutschen Arbeitermilieus konstatiert wird. Aber dass sich dagegen das ostdeutsche Nachkriegsarbeitermilieu stabilisiert habe, und zwar nicht systemkonform, sondern gegenkulturell, will nicht recht einleuchten. Obwohl ideologisch gehätschelt, habe sich das „Arbeitermilieu der DDR ‚anti-etatistisch’ verselbständigt und den wirtschaftlichen Rationalitäten einer zentralen Planwirtschaft“ entzogen (S. 443). Die Arbeiterschaft sei so zum „entscheidenden Protagonisten des ökonomischen Niedergangs der DDR - weit vor der Wende“ (S. 445) - geworden. Damit bleiben wichtige institutionelle Faktoren der DDR-Gesellschaft und ihrer Wirtschaft ausgeklammert. Wären also, so ließe sich im Umkehrschluss fragen, Parteidiktatur und zentralisierte Wirtschaftsplanung prächtig gediehen, wenn nur die Arbeiter mitgespielt hätten? Dies kann man wohl nicht ernsthaft behaupten. Eine im Ansatz diskutable These hebelt sich mit solchen Argumenten selbst aus. Gleichwohl enthält das Buch anregende, vielfach auch kontrovers zu beurteilende Positionen und leistet so einen interessanten Diskussionsbeitrag zur deutschen Arbeitergeschichte der Nachkriegszeit. Der Band enthält Abbildungen und ein Literaturverzeichnis.

Damit könnte es sein Bewenden haben, wenn nicht die eingangs erwähnte Studie „Gebrochene Modernisierung: Der langsame Wandel proletarischer Milieus“ wäre. Ein Textvergleich zeigt nämlich in weiten Passagen viele wortwörtliche Übereinstimmungen. Hier und da fallen Ergänzungen und Aktualisierungen auf, dennoch dürften Leser der „Gebrochenen Modernisierung“ ein nicht sehr lustiges Déjà-vu-Erlebnis haben.

Anmerkungen:
1 Alheit, Peter; Haack, Hanna; Hofschen, Heinz-Gerd; Meyer-Braun, Renate, Gebrochene Modernisierung. Der langsame Wandel proletarischer Milieus. Eine exemplarische Vergleichsstudie ost- und westdeutscher Arbeitermilieus in den 1950er Jahren, 2 Bde., Bremen 1999.
2 Ebd., Bd. 1, S. 5.

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