H. Schleier: Historisches Denken in der Krise ...

Titel
Historisches Denken in der Krise. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland


Autor(en)
Schleier, Hans
Reihe
Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 7
Erschienen
Göttingen 2000: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Lehrstuhl fuer Europaeische Kulturgeschichte, Universitaet Augsburg

Die historische Selbstvergewisserung neuer (oder auch vermeintlich neuer) Entwicklungen innerhalb der Wissenschaften ist ein nur allzu bekanntes Phänomen. Nicht nur dass die Notwendigkeit gesehen wird, sich in bestimmte Kontinuitätsstränge einzuordnen, um den eigenen Ansatz zu legitimieren; darüber hinaus zeigt sich auch ein gewisses Bewusstsein dafür, dass man keineswegs voraussetzungslos zu Werke geht, sondern immer schon auf den Schultern von Riesen steht. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es in den vergangenen Jahren, die eine deutliche Aufwertung der Kulturwissenschaften im Allgemeinen und der Kulturgeschichte im Besonderen erlebt haben, zu einer deutlichen Häufung von Darstellungen kam, die sich mit der Geschichte der Kulturwissenschaften oder der Kulturgeschichte beschäftigen.1 Das Buch von Hans Schleier, das im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen entstanden ist, lässt sich - mit gewissen Einschränkungen - in diesen Kontext einordnen.

Schleier stellt in das Zentrum seiner Abhandlung die Frage, wie sich die vielfach wahrgenommene "Krise um 1900" in Deutschland in den Geschichtswissenschaften auswirkte und wie sie vor allem die intensiven Diskussionen um Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte in diesem Zeitraum beeinflusste. Zur Behandlung dieses Problems bewegt sich Schleier von den Kontexten auf den Kern seiner Fragestellung zu, um von dort wiederum die Ränder seines eigentlichen Themas zu erkunden. Zunächst behandelt er die außer- und innerwissenschaftlichen Auslöser für das Krisenbewusstsein um 1900, bevor er auf die Situation der historischen Wissenschaften und die Diskussion um die Kulturgeschichte eingeht. Während diese Aspekte den größeren Teil des Buchs in Anspruch nehmen, befassen sich zwei kürzere Abschnitte mit weiteren kulturwissenschaftlichen Ansätzen außerhalb der Geschichtswissenschaft sowie dem Phänomen der Kultur- und Zivilisationskritik.

Auch wenn - um dies vorauszuschicken - Schleier in seinem Buch wenig Neues zutage fördert und kaum mit provokanten Thesen aufwartet, die einen anderen Blick auf dieses Steckenpferd der Historiographiegeschichte werfen würden, so gewährt dieser Aufbau doch eine gute Übersicht über die Geschichte der Geschichtsschreibung zwischen 1880 und 1930. Dadurch erweist sich diese flüssig geschriebene und gut lesbare Monographie als ein gelungener Einstieg für alle diejenigen, die sich bisher kaum dieses Themenbereichs angenommen haben.

Um den Rahmen seiner Abhandlung abzustecken, skizziert Schleier zunächst die Auslöser für das Krisenbewusstsein, das sich um 1900 in vielfacher Form manifestiert. Neben Imperialismus, Industrialisierung und "sozialer Frage" ist es vor allem die recht diffuse, aber überall empfundene Kulturkrise, die auch innerwissenschaftlich zu intensiven Diskussionen führt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften zeigt sich insofern ein ambivalentes Bild, als einerseits ein selbstsicherer Fachoptimismus vorherrscht, andererseits aber zahlreiche Unsicherheiten zu verzeichnen sind, die nicht zuletzt durch theoretische, methodische und inhaltliche Neuerungen ausgelöst werden. Denn es gelingt den Wissenschaften auf der einen Seite nur teilweise, auf die allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen zu reagieren, während auf der anderen Seite neue wissenschaftliche Disziplinen mit ihren Fragestellungen nicht unwesentlich zur Verunsicherung beitragen.

Die allgemeine Situation innerhalb der Geschichtswissenschaften in Deutschland in diesem Zeitraum ist nur allzu bekannt. Sie war wesentlich von der politischen Geschichtsschreibung geprägt, die sich vornehmlich auf die Themen "Staat" und "Nation" konzentrierte. Die Vorrangstellung, die die Politikgeschichte einnahm, war keineswegs unumstritten, allerdings auch nie wirklich gefährdet. Sie hatte sich vor allem gegen kulturhistorische Fragestellungen zu wehren, musste aber auch Abwehrkämpfe gegen den Positivismus, diverse Evolutionstheorien, und ökonomische Geschichtsauffassungen ausstehen.

Die Kritik an diesem Historismus ("im engeren Sinn" wie ihn Schleier in einer hilfreichen Differenzierung nennt) nahm bereits um 1900 vielfältige Formen an - erinnert sei nur an Nietzsches zweite unzeitgemäße Betrachtung. Besonders kontrovers gestaltete sich jedoch die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte, die, so Schleier, um 1900 ein wenig konturiertes Bild bot. Innerhalb kulturhistorischer Ansätze bestand nur eine ungefähre Einigkeit darüber, was Grundlagen des Faches sein sollten. Um die Entwicklung kulturhistorischer Fragestellungen im deutschen Sprachraum insgesamt besser beleuchten zu können, greift Schleier zeitlich bis zur Spätaufklärung zurück und gibt einen kurzen Überblick in die "Geschichte der Kulturgeschichte", der bis zu aktuellen Diskussionen reicht.

An die Darstellung wichtiger Vertreter der Kulturgeschichte um 1900 und deren zentrale Positionen schließt Schleier einige Erörterungen an, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen den historischen Wissenschaften und neuen wissenschaftlichen Ansätzen in der Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Soziologie und Geographie beschäftigen. Eine Betrachtung der Kultur- und Zivilisationskritik um 1900, die mit Spenglers "Untergang des Abendlandes" ihren öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt fand, beschließt das Buch.

Schleiers Buch, mit seinem Schwerpunkt auf kulturhistorischen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen im Zeitraum der vorletzten Jahrhundertwende, für eine Mailing-Liste zu rezensieren, die die Sozial- und Kulturgeschichte in den Mittelpunkt rückt, provoziert nahezu zwangsläufig die Frage, wie es der Autor mit der Kulturgeschichte neuen Typs hält. Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass sich Schleier mit seiner Monographie keineswegs als Fährtensucher im Bereich des "cultural turn" auf den Weg machen wollte. Vielmehr steht für ihn das historiographiegeschichtliche Interesse im Vordergrund. Doch nicht nur, dass er hier keine explizite Anbindung sucht, er begegnet derzeitigen Bestrebungen einer Erneuerung der Kulturgeschichte auch mit deutlichen Vorbehalten. Eher hält er es mit der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung, deren Gesellschaftsbegriff er einem ungenauen Kulturbegriff vorzieht. Dabei ist allerdings nicht ganz einsichtig, warum der keineswegs weniger problematische Gesellschaftsbegriff hier zu favorisieren ist, denn selbst gestandene Sozialwissenschaftler sind zuweilen versucht, die "Gesellschaft" gänzlich über Bord zu werfen.2 Auch weitere Einwände Schleiers, die sich vor allem gegen das angebliche "Verschwinden des Sozialen" im kulturwissenschaftlichen Diskurs richten, lassen sich angesichts der Arbeiten der "Neuen Kulturgeschichte" kaum aufrecht erhalten. Erinnert sei hier nur an die Ergebnisse der Geschlechtergeschichte oder auch an die Neuansätze einer Kulturgeschichte des Politischen. Warum sich Schleier in diesem Zusammenhang an Wehlers wortreiche Replik auf die "Herausforderung der Kulturgeschichte" anlehnt, ist nicht ganz verständlich.3 Schließlich müsste er aufgrund seiner eigenen Forschungen zur Abdrängung der Kulturgeschichte durch die Vertreter der politischen Geschichte um 1900 um die Mechanismen wissen, die innerhalb wissenschaftlicher Institutionen eingesetzt werden, um unliebsame Konkurrenz im "Kampf um die Meinungsführerschaft"4 loszuwerden.

Doch um es hier zu keinen Missverständnissen kommen zu lassen: Dies sind in der Tat Fragen, die Schleier nur am Rande beschäftigen und das Vergnügen, das die Lektüre dieses Buches bereitet, höchstens peripher trüben können. Denn insgesamt kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es sich hier um eine gelungene Darstellung zur Geschichte der Geschichtsschreibung, und insbesondere der Kulturgeschichte handelt.

Anmerkungen:

1 Beispielhaft seien genannt Gerald Diesener (Hg.), Karl Lamprecht weiterdenken. Universal- und Kulturgeschichte heute, Leipzig 1993; Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Realität, Köln/Weimar/Wien 1994; Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000.

2 "It may seem an odd position for a sociologist to adopt; but if I could, I would abolish the concept of ‚society' altogether." Michael Mann, The sources of social power, Bd. 1: A history of power from the beginning to A.D. 1760, Cambridge 1986, S. 2.

3 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998. Ein Entgegnung darauf von Christine Tauber, In den Staub mit allen Feinden Bielefelds, in: Frankfurt Allgemeine Zeitung, 8. Mai 1999.

4 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 10.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension