Titel
Anthropologie. Geschichte - Kultur - Philosophie


Autor(en)
Wulf, Christoph
Reihe
rororo enzyklopädie 55664
Erschienen
Reinbeck 2004: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Historische (Kultur-)Anthropologie sei das, „was diejenigen Leute, die behaupten, Historische (Kultur-)Anthropologie zu treiben, gerade machen“, so hat es Wolfgang Reinhard in seiner kürzlich erschienenen Überblicksdarstellung über die Lebensformen Europas nicht ohne Ironie formuliert.1 Tatsächlich ist historische Anthropologie ein weites Feld. Dementsprechend vielfältig sind die Herangehensweisen derjenigen, die das Label für ihre Arbeiten verwenden. Christoph Wulf, Mitglied des in Berlin beheimateten Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie und Herausgeber der Zeitschrift Paragrana2 sowie anderer einschlägiger Reihen und Sammelbände 3, versteht darunter etwas anderes als die meisten Fachhistoriker. Strikt unterscheidet er in seiner Einführung zwischen „Anthropologie in der Geschichtswissenschaft“ und „Historischer Anthropologie“. Dabei bleibt Wulf dem Leser eine genaue Abgrenzung beider Gegenstände schuldig: freimütig räumt er ein, dass die von ihm favorisierte „Historische Anthropologie [...] keine Fachwissenschaft und kein in sich geschlossenes Feld der Forschung“ sei. Ihre Untersuchungen überschritten Disziplingrenzen und versuchten, „in inhaltlicher und methodischer Hinsicht neue Formen des Wissens zu schaffen“ (S. 105). Inwiefern ein solcher Anspruch nicht auch für die so genannte Anthropologie in der Geschichtswissenschaft gilt, sei dahingestellt. Wulf erweist sich jedenfalls als flexibel genug, nicht nur philosophische, sondern auch biologische, ethnologische und historische Perspektiven in seinen Ausführungen zu berücksichtigen.

Das schlägt sich schon im Aufbau des Buches nieder: genau die Hälfte der Darstellung ist den „Paradigmen der Anthropologie“ (S. 19-135) gewidmet. Im ersten Kapitel dieses Teils skizziert Wulf auf anschauliche Weise die Grundlagen der Evolution und der Hominisation (S. 19-42). Ausführungen zur biologischen Verhaltensforschung sucht man indes hier wie auch in den folgenden Teilen fast vergebens. Man braucht kein Anhänger der von Irenäus Eibl-Eibesfeldt kanonisierten ethologischen Thesen zu sein 4, um dieses Manko zu kritisieren. Schließlich muss man sich mit der biologischen Anthropologie intensiv auseinandersetzen, will man die These einer grundsätzlichen und möglichst weit reichenden Wandelbarkeit menschlichen Verhaltens verifizieren. Es wäre nicht nur vermessen, sondern auch unklug, die von der Genetik ausgehenden Herausforderungen zu ignorieren, zumal diese zurzeit in der öffentlichen Meinung auf große Konjunktur stößt.

Im zweiten, der Philosophischen Anthropologie gewidmeten Kapitel (S. 43-64) lässt Wulf die Arbeiten von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen Revue passieren, um zutreffenderweise zu dem Urteil zu gelangen, dass ihnen aufgrund ihres Interesse an dem Menschen die „historische und kulturelle Vielfalt der Menschen“ entgehe (S. 64). Der Versuch, eine kohärente Konzeption des Menschen zu entwickeln, unterscheide die Philosophische Anthropologie von der Geschichtswissenschaft, die dem „Reichtum menschlicher Lebensformen“ aufgeschlossener gegenüber eingestellt sei. Deren Ergebnisse und Forschung fasst Wulf auf systematische und instruktive Weise zusammen (S. 65-82). Gleiches gilt für das Kapitel zur Kulturanthropologie (S. 83-104). Wulf schließt diesen ersten Teil mit einer Darstellung seines Verständnisses von Historischer Anthropologie ab (S. 105-135). Hierin bezieht er sich vor allem auf diejenigen „Untersuchungen zu menschlichen Grundverhältnissen“, die im Umfeld des Berliner Zentrums entstanden sind: Arbeiten etwa zur „Wiederkehr des Körpers“ und zum „Schwinden der Sinne“, zur „erloschenen Seele“, zum Heiligen, zum „Schein des Schönen“, zum „Schicksal der Liebe“ und zur „sterbenden Zeit“.

Der aufgrund dieser Themenvielfalt entstehende Eindruck eines Mangels an strenger Systematik wird durch den Aufbau des zweiten Teils eher noch bestärkt. Die darin ausführlicher vorgestellten „Themenfelder Historischer Anthropologie“ lassen eine stringente Strukturierung des Gesamtstoffs vermissen. Sie handeln vom „Körper als Herausforderung“ (S. 137-155), von den „mimetischen Grundlagen kulturellen Lernens“ (S. 156-172), den „Theorien und Praktiken des Performativen“ (S. 173-190), der „Wiederentdeckung der Rituale“ (S. 191-209), der „Sprache zwischen Universalität und Partikularität“ (S. 210-226) sowie den Komplexen Bild/Imagination (S. 227-249) und Tod/Alterität (S. 250-259). Der Verzicht auf eine strenge Systematik scheint dabei durchaus beabsichtigt zu sein. Offensichtlich sträubt sich Wulf bewusst gegen den Anspruch auf ein vollständiges Erfassen der einschlägigen Begriffe, Aspekte und Methoden. Gewissermaßen resultiert diese Verweigerung aus Wulfs programmatisch erklärter Absicht, sein Forschungsgebiet nicht abgrenzen zu wollen. Vielmehr möchte er sich „von den Prinzipien der offenen Frage und der Unergründlichkeit, der Komplexität und der ‚Exzentrizität‘ leiten“ lassen (S. 128).

Der sich angesichts solcher Absichtserklärungen aufdrängende Verdacht einer „esoterischen“, primär an den Bedürfnissen von Fachleuten orientierten Grundhaltung des Buches erhärtet sich bei der Lektüre einiger Passagen und Kapitel. Etwa bei den Ausführungen zur Geschlechterforschung, einem zentralen Thema historischer Anthropologie, das hier im Kontext performativer Theorien und Praktiken auf gerade einmal drei Seiten abgehandelt wird (S. 188-190). Nicht nur einschlägige Termini, sondern auch einflussreiche Methoden und Deutungen werden hier als bekannt vorausgesetzt – ein Vorgehen, das sich mit dem dezidiert enzyklopädischen Anspruch der Reihe kaum verträgt.

Auch zum zentralen Thema der historischen Anthropologie, zum menschlichen Wandel, wünschte man sich an mehreren Stellen des Buches konkretere Ausführungen und anschaulichere Beispiele. Etwa im Zusammenhang menschlicher Wahrnehmung: zutreffend betont Wulf deren kulturelle Voraussetzungen und verweist auf die Veränderungen der visuellen Wahrnehmung, einst durch die Verschriftlichung, heute durch die neuen Medien (S. 244f.). Worin sich dieser Wandel manifestiert(e) und welche Folgen damit einhergehen (und -gingen), darüber erfährt man leider kaum etwas. Stattdessen suggeriert Wulf immer wieder, dass es gerade im Zusammenhang menschlicher Erkenntnisfähigkeit so etwas wie anthropologische Konstanten gebe: nur in Ausschnitten sei „sich der Mensch zugänglich“, insgesamt bleibe „er sich notwendig verborgen“ (S. 272). Dass ungeachtet dessen eine systematische Herangehensweise Früchte trägt, zeigt dagegen das kompakt gestaltete Kapitel zum Ritual. Auch die knappen Ausführungen über Tod und Alterität zeugen von der Kompetenz des Verfassers, ein zentrales Thema historischer Anthropologie so aufzubereiten, dass es den an eine Einführung gestellten Erwartungen gerecht wird.

Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Kapiteln spiegeln sich in der sprachlichen Gestaltung. Dem im Klappentext erhobenen Anspruch des Buches, „anthropologisches Grundwissen in konzentrierter, allgemein verständlicher Form“ zu präsentieren, werden viele, aber nicht alle Kapitel gerecht. Hinzu kommen einige Redundanzen, die dem Lektorat des Verlages offensichtlich entgangen sind (etwa die Ausführungen zur Sprache auf S. 153f. und S. 210). Kurzum: das Buch hinterlässt keinen ganz einheitlichen Eindruck. Über weite Strecken kann es dem Geschichtswissenschaftler von Nutzen sein. Andere Abschnitte dagegen werden dem vom Reihenherausgeber verfolgten Ziel, enzyklopädische Einführungen zu veröffentlichen, nicht immer ganz gerecht. Gerade angehende Historiker, die sich in das Themenfeld Historische Anthropologie einarbeiten wollen, werden daher vermutlich nicht umhinkommen, eine der anderen aktuellen Einführungen hinzuzuziehen.5

Anmerkungen:
1 Reinhard, Wolfgang, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 9.
2 Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie (seit 1992).
3 Etwa: Wulf, Christoph, Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997.
4 Siehe Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, Vierkirchen-Pasenbach 1984.
5 Etwa Dressel, Gert, Historische Anthropologie. Eine Einführung, mit einem Vorwort von Michael Mitterauer, Wien 1996; Tanner, Jakob, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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