Titel
Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity


Autor(en)
Müller, Jan-Werner
Erschienen
New Haven/London 2000: Yale University Press
Anzahl Seiten
Preis
€ 30,02
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Scheibe, Freiburg Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität

Mit der jüngsten Debatte um die "68er" ist offenkundig geworden, was in der historischen Forschung seit Jahren unübersehbar ist: daß die Bundesrepublik der Jahre vor 1989 dabei ist, in das Stadium der Geschichtlichkeit einzutreten. Zur Historisierung der "intellectual history" der Bundesrepublik hat der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, fellow of All Souls College, Oxford, jetzt einen wichtigen Beitrag geleistet. In seiner Dissertation "Another Country: German Intellectuals, Unification and National Identity" wirft er nach einer knappen Dekade den Blick zurück auf die Debatten um die deutsche Einheit in der ersten Hälfte der 90er Jahre, zugleich aber auf weite Strecken der intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik. Wie reagierten die westdeutschen Intellektuellen, auf die sich die Studie trotz des irreführenden Untertitels sinnvollerweise beschränkt, auf die Herausforderung der deutschen Einheit? Welche Konzepte nationaler Identität vertraten sie, und in welcher Beziehung standen diese zur nationalsozialistischen Vergangenheit?

Daß die westdeutschen Intellektuellen und insbesondere die Linke in ihrer Mehrheit keine zukunftsweisenden konzeptuellen Antworten auf die Herausforderung der deutschen Vereinigung geben konnten, ist Müllers zentrale These: "Generally, however, the Left was trapped in debates of the past, and arguably lacked the political and moral criteria for judging and reacting to a radically changed situation. By rejecting the concept and language of nationhood altogether they arguably missed yet another opportunity in German history to link the ‚new' Germany with the ideas of civil society and popular sovereignty, which had played crucial roles in the East German and East European revolutions." (16) Trotz seiner skeptischen Einschätzung reproduziert Müller jedoch nicht das zeitgenössische Urteil vom "Versagen der Intellektuellen" 1, sondern führt die Positionen auf ihre bundesrepublikanische Vorgeschichte zurück. Die Verbindung von Einheitsdebatten und intellektueller Geschichte der alten Bundesrepublik ist die große Stärke des Buches.

In vier Einzelanalysen und vier synthetisierende Kapitel gegliedert, bilden Generationseinheiten und politische Lager das Raster der Analyse, Schriften und öffentliche Stellungnahmen dienen als Quellenbasis. In der ersten Hälfte des Buches wendet sich Müller der linken und linksliberalen Seite des politischen Spektrums zu, wobei Günter Grass und Jürgen Habermas jeweils eigene Kapitel gewidmet sind. In den Mittelpunkt rücken vor allem jene Ende der 20er Jahre geborenen Intellektuellen, die teils als "Flakhelfer-", teils als "HJ-Generation" firmieren und die von Müller in Anknüpfung an Helmut Schelskys bekanntes Buch als Angehörige der "skeptischen Generation" bezeichnet werden. 2

In der Forschung ist die Bedeutung dieser Generation für die Geschichte der Bundesrepublik inzwischen vielfach betont worden. Auch wenn sich die Historiker unter ihnen zuletzt kritischen Fragen stellen mußten, besteht doch kein Zweifel, daß es Vertreter dieser Generation waren, die nach 1945 maßgeblich zur Wiederbelebung demokratischer Traditionen beitrugen. 3 Müller hebt ebenfalls die Prägung der linken und linksliberalen Intellektuellen der Generation durch die Diskreditierung des Nationalsozialismus hervor. Angesichts der defizitären Demokratie und der NS-Kontinuitäten verstanden sich diese als Begründer und Verteidiger der noch unfertigen neuen Republik gegen eine autoritäre, antidemokratische Mehrheit in der Gesellschaft und gegen eine konservative Regierung. Aus ihren Minderheitenpositionen in den 50ern und frühen 60ern heraus wuchs ihnen eine Modellfunktion als "demokratische Bürger" zu; sie trugen, so Müller, dazu bei, das demokratische Defizit der NS-Nachfolgegesellschaft zu mindern.

Andererseits benennt Müller die "blind spots" der Linken, sowohl der skeptischen Generation als auch der "68er", die sich mit der Wiedervereinigung zeigen sollten. Ähnlich wie zuletzt Heinrich August Winkler 4 urteilt er, daß diese es letztlich nicht verstanden hätten, Freiheit und Einheit, Demokratie und Nation zusammenzudenken. Die Fehlurteile führt Müller erstens auf das Festhalten an der Utopie eines demokratisch-sozialistischen Dritten Weges, eines "another country", auf das der Buchtitel anspielt, zurück (126 ff). Zweitens habe der negative Rekurs auf den Nationalsozialismus und auf den Holocaust insbesondere zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Idee der Nation geführt, so daß ein deutscher Nationalstaat von Habermas und erst recht von Grass nur als Gefahr für die demokratischen Errungenschaften der Bundesrepublik begriffen worden sei, ohne daß alternative Identitätskonzepte - etwa der "Kulturnation" oder des "postnationalen Verfassungspatriotismus" - sich als tragfähig erwiesen hätten. Gefangen in der Vergangenheit, so Müllers Fazit, sei die Linke zukunftweisende Antworten weitgehend schuldig geblieben.

In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich Müller Martin Walser, Karl Heinz Bohrer und der jüngeren Neuen Rechten zu, die durch ihre - ganz unterschiedlich begründete - Bejahung der Nation gewissermaßen als Antipoden der Linken auftreten. Walsers scheinbarem Schwenk nach rechts zum Trotz verweist Müller auf Kontinuitätslinien in dessen Denken seit den 60er Jahren: als Anwalt des Kleinbürgertums und Verteidiger des nationalen und historischen Bewußtseins. Nach einem Kapitel über Karl Heinz Bohrers ästhetisch begründete Kritik der alten Bundesrepublik, deren Sonderweg mit der deutschen Einheit zu einem Ende zu kommen schien, untersucht Müller die Positionen von Konservativen und der jungen Neuen Rechten, die das politische Vakuum auf der Linken zu füllen suchten. Bei allen, differenziert dargestellten Unterschieden seien sich diese einig gewesen in der Forderung nach einer innen- wie außenpolitisch "selbstbewußten Nation", der Relativierung der NS-Vergangenheit unter dem Schlagwort der "Normalisierung" und der Frontstellung gegen die vermeintliche linke Diskurshegemonie. Zugleich betont Müller die Begrenztheit der wiederbelebten etatistischen und nationalen Konzepte und die negative Fixierung der Neuen Rechten auf die "68er". Ungeachtet der Realität rechter Gewalt sei die Neue Rechte ideologisch gescheitert.

Welche Identität wird das vereinte Deutschland letztlich entwickeln? Müllers abschließendes Urteil bleibt ambivalent: Der unbestreitbaren Demokratisierung der Bundesrepublik seit den 50er Jahren, nicht zuletzt durch die kritischen Einsprüche der linken und liberalen Intellektuellen, stünden die illiberalen Folgen einer "culture of suspicion" entgegen: das Lagerdenken und die moralische Verdammung des Gegners, die politische Vereinnahmung der Geschichte und der Mangel an Gegenwartsbezug. So liegen Müllers Sympathien bei jenen "liberal institutionalists" wie Ralf Dahrendorf oder Christian Meier, die die Chance sahen, erstmals Demokratie und nationale Einheit gemeinsam zu verwirklichen, und er mahnt die Entwicklung einer liberalen Streitkultur an, die neuen politischen Herausforderungen mit Realitätssinn begegnet.

Mit "Another Country" ist Müller ein beeindruckendes Buch gelungen, das differenziert in der Interpretation und pointiert in Synthese und Urteil die intellektuellen Debatten um "nationale Identität" in den 90er Jahren untersucht und überzeugend mit der westdeutschen, post-nationalsozialistischen Vorgeschichte in Verbindung setzt. Dennoch seien einige problematische Aspekte genannt.

Zunächst ist die Übernahme des Begriffs der "skeptischen Generation" von Schelsky irreführend, weil dieser ursprünglich einen unpolitischen Pragmatismus widerspiegeln sollte. Müller deutet ihn dagegen im Sinne einer aufklärerisch-kritischen Haltung um, wie sie autobiographisch bereits der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen vertreten hat. 5 Obwohl Müller dieses begriffliche Problem selbst anspricht (8, FN 24) und obwohl sich statt dessen etwa der von Dirk Moses vorgeschlagene Begriff der "45er" 6 anböte, hält Müller an Schelskys Terminus fest.

Darüber hinaus wird nicht immer klar, wen Müller zum Kreis der Intellektuellen der "skeptischen Generation" zählt. Einerseits scheint er ihre linken Vertreter, insbesondere der Gruppe 47, zu meinen (40 ff, 46 f, 259 f). Andererseits werden beispielsweise auch Wilhelm Hennis und Hermann Lübbe, Karl Dietrich Bracher und Thomas Nipperdey, Ralf Dahrendorf und Kurt Sontheimer erwähnt, ohne daß ihre Position expliziert wird. Die Differenzen innerhalb dieser Generation, die in den 50ern noch von der gemeinsamen Frontstellung gegen antidemokratische Kontinuitäten verdeckt wurden, in den 60er Jahren aber zunehmend und mit der Studentenbewegung vollständig aufbrachen, hätten mehr Aufmerksamkeit verdient.

Daran schließt sich die Frage an, welche Bedeutung den "68ern" und den Veränderungen der westdeutschen Gesellschaft zukommt, für die diese Chiffre verkürzend steht. Müller verweist auf deren radikalisierende Wirkung und geringe argumentative Innovationskraft (48 ff, 149) und schenkt ihnen dementsprechend geringere Beachtung. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, daß die 68er nicht nur in den Einheitsdebatten präsent waren, sondern daß sich darüber hinaus die Bundesrepublik mit dieser Generation tiefreifend gewandelt hatte. Daß Müller ihnen wenig Aufmerksamkeit widmet, liegt offenbar auch darin begründet, daß er ebenso wie viele seiner Protagonisten der "skeptischen Generation" diesen Wandel nicht mitdenkt.

Jenseits der immanenten Betrachtung der Argumente wird klar, daß der Bezugsrahmen der Intellektuellen der "skeptischen Generation" das post-nationalsozialistische Deutschland war, dessen Demokratie auf schwachem gesellschaftlichem Fundament ruhte. Intellektuelle Kritik und beginnende Internalisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit in die politische Kultur der Bundesrepublik - wie es M. Rainer Lepsius genannt hat 7 - waren dialektisch bezogen auf die politische und gesellschaftliche Situation der 50er und frühen 60er Jahre.

Seit den siebziger Jahren, erst recht am Ende der 80er, entsprach die westdeutsche Gesellschaft jedoch nicht mehr der NS-Nachfolgegesellschaft. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht die Verkennung der erreichten demokratischen Stabilität durch viele Intellektuelle der "skeptischen Generation" wie der 68er eine wesentliche Ursache für deren tiefe Skepsis gegenüber einem deutschen Nationalstaat und dementsprechend gegenüber der Vereinigung 1989/90 war. Der alleinige Verweis auf argumentative Defizite - sei es eine übermächtige Fixierung auf den Nationalsozialismus oder die Suche nach einem "Dritten Weg" - muß oberflächlich bleiben, wenn nicht zugleich das Spannungsverhältnis zu den Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozessen in der westdeutschen Gesellschaft seit den 50er Jahren berücksichtigt wird. Trotz aller Kontextualisierungsbemühungen liegt hier eine weiche Flanke von Müllers primär hermeneutisch angelegter Arbeit.

Welche Verschiebungen der politisch-intellektuellen Tektonik lassen sich in der Geschichte der Bundesrepublik ausmachen? Welche Wechselwirkungen bestanden mit der gesellschaftlichen Transformation der 60er und 70er Jahre? Diese Fragen bleiben weiterhin ein Desiderat der Forschung. Wer sich jedoch in Zukunft mit der intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik beschäftigt, sollte das Buch von Jan-Werner Müller gelesen haben.

Anmerkungen:

1 Differenziert Andreas Huyssen: After the Wall: The Failure of German Intellectuals. In: ders.: Twighlight Memories: Marking Time in a Culture of Amnesia. New York / London 1995, S. 37-67, (zuerst 1992); Helmut Dubiel: Linke Trauerarbeit. In: Merkur 44 (1990), S. 482-491; polemisch Paul Noack: Deutschland, deine Intellektuellen. Die Kunst, sich ins Abseits zu stellen. Stuttgart / München 1991; Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 1990.

2 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf / Köln 1957.

3 Dirk Moses: The Forty-Fivers: A Generation Between Fascism and Democracy. In: German Politics and Society 17 (1999), S. 94-126; Sybille Hübner-Funk: Loyalität und Verblendung. Hitlers Garanten der Zukunft als Träger der zweiten deutschen Demokratie. Potsdam 1998; Clemens Albrecht et al.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main 1999, Kapitel 14; Paul Nolte: Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine lange Generation. In: Merkur 53 (1999), S. 413-432; Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Stuttgart / München 2000.

4 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 431 ff, 489 ff.

5 Martin Greiffenhagen: Jahrgang 1928. Aus einem unruhigen Leben. München 1988, S. 55.

6 Zuletzt auf dem Aachener Historikertag im September 2000: "Die 45er: Generationelle und intellektuelle Auseinandersetzungen um die Gründung der Republik".

7 M. Rainer Lepsius: Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des "Großdeutschen Reiches". In: Max Haller / Hans-Joachim Hoffmann-Novotny / Wolfgang Zapf (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages. Frankfurt am Main / New York 1989, S. 247-264.

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