J. Paul: Das "Tier"-Konstrukt - und die Geburt des Rassismus

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Titel
Das "Tier"-Konstrukt - und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments


Autor(en)
Paul, Jobst
Reihe
Edition des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 2
Erschienen
Münster 2004: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Oliver Sobich, Bremen

Die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren ist aus der politischen Rhetorik, wie der Alltagssprache des 19. und 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken; und wenig deutet bisher darauf hin, dass sich dies im 21. Jahrhundert ändern wird. Ob es um die Verunglimpfung politischer Widersacher, die Rechtfertigung kolonialer Gewalt gegen ‘schwarze Bestien’ oder um die Illustration des antisemitischen Vernichtungswunsches durch sein breit gefächertes Schädlings-Vokabular geht - Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verfolgung und Vernichtung sind häufig, ja fast immer mit dem Absprechen des Mensch-Seins für die Opfer verbunden. Dass das geschieht, ist bekannt; wie es geschieht und warum es funktioniert, ist hingegen Gegenstand häufiger Diskussion in den Sozialwissenschaften. Von ihrem Ausgang hängt ab, ob und wie sich Dehumanisierung von Menschen mit all ihren brutalen Folgen verhindern ließe. Insoweit ist das Buch des Pädagogen und langjährigen Mitarbeiters des DISS, Jobst Paul, über die „sprachlich-kulturellen Voraussetzungen“ von Ausgrenzung und Stigmatisierung gleichermaßen von wissenschaftlicher Aktualität und politischer Relevanz.

Paul hat sich mit der neueren Rassismus-Diskussion intensiv auseinandergesetzt.1 Dass Rassismus weder ein individualpsychologisches oder minoritäres Problem noch eine anthropologische Konstante ist, ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Der Autor hat zudem ein politisches Interesse; er will bei allem wissenschaftlichen Anspruch parteiisch für die Opfer von Dehumanisierung sein. Es lässt sich Schlimmeres vorstellen.

Der inhaltliche Kern des Buchs ist äußerst faszinierend. Überzeugend weist Paul nach, dass der Vorstellung vom bedrohlichen Anderen das Bild eines vertierten Menschen unterlegt ist, eines „Nur-Körpers, eines Reiz-Reaktionswesens“ (S. 76). Nicht nur die unmittelbare Gleichsetzung mit Tieren, sondern fast alle Teile des „Alltagsvokabulars der Herabsetzung“, die sich zumeist mit unkontrollierter Sexualität, gieriger Ernährung, körperlichen Ausscheidungen, mangelnder oder bloß instrumenteller Intelligenz beschäftigen, beruhen auf der Unterstellung eines Wesens, dem es an Selbstbeherrschung, Reflexionsvermögen und Moral gebricht und das deswegen unberechenbar und tendenziell gefährlich ist - kurzum eines (Raub-)Tiers. Damit formuliert Paul in bisher nicht dagewesener Klarheit, was Hunderte von Büchern über Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit und andere Ausgrenzungsideologien ahnen ließen, beschrieben, aber nicht systematisch analysierten.

Wäre der Autor damit bloß zufrieden gewesen. Er hätte dann den jeweiligen Anteil dieses „Tier-Konstrukts“ an verschiedenen Ausgrenzungsdiskursen der Moderne ermitteln, ihre konkreten Ausformungen jeweils in den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext setzen und gegenläufige Tendenzen und alternative Bilderwelten damit vermitteln können. Die Frage, wer wann unter welchen Umständen mit welchen Begründungen welche Vorstellungen übernommen hat (oder nicht), wäre Aufgabe genug. Leider versucht Paul anderes und mehr. Mitgerissen von seiner bemerkenswerten Entdeckung, glaubt Paul, den Universalschlüssel zur Erklärung von Ausgrenzung und Stigmatisierung entdeckt zu haben. Das soll nun ausgerechnet der binäre Dualismus des abendländischen Denkens sein, der das Tier-Konstrukt überhaupt erst ermöglicht habe. Dieser Dualismus habe sich als hellenistisches Erbe im Christentum gegen den jüdischen Monismus durchgesetzt, was Paul zudem noch für die Springquelle des Antisemitismus hält. Diese etwas grobschlächtige Reduktion von Aristoteles, Thomas von Aquin, Karl Marx und Carl Schmitt auf ihre allerabstrakteste Gemeinsamkeit ist nicht überzeugend und inhaltlich sehr angreifbar.

Paul ist zusätzlich der Ansicht, für diese Legitimationen sozialer Exklusion seien „moderne Kategorien wie Nation, Volk oder Rasse“ (S. 257) bedeutungslos. Das hat eine gewisse Folgerichtigkeit: Da dem Autor alles Diskurs ist, kennt er auch keinen Kontext, in dem dieser stattfinden könnte und argumentiert entsprechend ahistorisch.2 Große Männer machen große Diskurse, die dann von oben nach unten sickern, und so passiert dann Geschichte.3 Damit vergibt sich das Buch die Chance, das ‘Tier’-Konstrukt mit der Angst vor der ‘Degeneration’ des eigenen Volkes und sozialdarwinistischen Konkurrenzvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, und zu zeigen, wie dies in einer Zeit wachsender internationaler Spannungen ein so machtvolles Phantasma wie die „jüdische Weltverschwörung“ ermöglichte. Paul hat, weil er Rassismus auf negative Urteile reduziert, auch nur eine leichte Ahnung, das es eine positive Benutzung von Tier-Bildern zur Selbstcharakterisierung geben könnte - immerhin soll Adolf Hitlers pädagogisches Ziel gewesen sein, dass das „herrliche, freie Raubtier“ wieder aus den Augen der Jugend blitze.4

Sehr unbefriedigend sind auch die Teile über Antisemitismus. Wiewohl er seine Ratlosigkeit lang und ermüdend zu Protokoll gibt, hält Paul sich für berufen, die Ergebnisse der Antisemitismus-Forschung der letzten zwanzig Jahre ad acta zu legen, verbunden mit einer Kritik an Goldhagen, die ans Alberne grenzt.5 Dass die assoziative Verknüpfung von Juden mit Geld in kapitalistischen Gesellschaften eine neue Qualität erhält, der mit dem ‘Tier’-Konstrukt nicht im Entferntesten beizukommen ist, hätte Paul von Adorno/Horkheimer oder vom Adorno-Schüler Detlev Claussen 6 erfahren können. Dies hätte freilich die bruchlose Kontinuität zwischen christlichem Antijudaismus und modernen Antisemitismus, wurzelnd in der Antike, einigermaßen in Frage gestellt. Der Aufbau des Buchs scheint zunächst ganz überzeugend: Nachdem in der Einleitung das analytische Handwerkszeug ausgebreitet wird, entwickelt Paul seine zentrale Idee. Im Weiteren will er zeigen, dass sie ein untrennbarer Teil des „gesamten westlich abendländischen Moraldiskurses“ (S. 49, i.O. teilweise kursiv) ist, dies soll an den verschiedensten „Diskursebenen“ dargestellt werden: Dem Alltagsvokabular, der philosophischen Tradition und der modernen Wissenschaft. Doch bei der Darstellung verzettelt sich der Autor, weil er alles erklären will.

Das Buch zerfällt in Teile von höchst unterschiedlicher Qualität. Hat man sich durch das wolkig-poststrukturalistische Einleitungskapitel gequält, wird man von der bestechenden Formulierung der zentralen These gefangen genommen. Wenn Paul dann an kurzen Textbeispielen - so disparaten Quellen wie Voltaire, dem australischen Philosophen Peter Singer, dem ‘Nationalsozialistischen Führungsstab der Wehrmacht’ und dem Landgericht Paderborn - zeigen will, wie weit verbreitet das ‘Tier’-Konstrukt ist, mäandert der Text vor sich hin. Freundlich ausgedrückt, wirken zudem die Interpretationen ein wenig herangetragen an die Texte.7 Es ist nicht hilfreich, wenn Paul jedwede biologistische Deutung auf das ‘Tier’-Konstrukt herunterzubrechen sucht. Daneben stehen inhaltlich wie stilistisch hervorragende Einzelanalysen: Die Darstellung der Las Casas-Sepùlveda-Kontroverse 1550 über das Recht der spanischen Krone die Indianer zu versklaven, gehört mit zum Besten, was in deutscher Sprache dazu erschienen ist. Die Analyse der Berichterstattung über den Massenmord in Ruanda, die „ethnische Konflikte“ zu einer Art Naturkonstante Afrikas verklärt(e), ist ebenso überzeugend, wie die kritische Auseinandersetzung mit bevölkerungswissenschaftlichen Allgemeinplätzen.

Trotz aller Kritik ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Rassismus-Diskussion, dem weiteste Verbreitung zu wünschen ist. Die unbestreitbaren Schwächen sollten ebenso wie die inspirierenden Teile des Buchs ein Auftakt für weitere Forschungen sein. Ein guter Anfang ist dafür getan.

Anmerkungen:
1 Dennoch fehlt zum Schaden der Arbeit die Auseinandersetzung mit einigen wichtigen Darstellungen, etwa dem Eintrag über „Rasse“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen, dem Standardwerk „Rassenideologien“ von Patrik von zur Mühlen oder Mark Terkessides Buch über die „Psychologie des Rassismus“.
2 So spricht Paul allen Ernstes bei einer Quelle aus dem Jahr 1550 von „völkischem Nationalismus“ (S. 173).
3 Vgl. dazu den Abschnitt „Wissen von oben“ (S. 55ff.).
4 Dieses Zitat aus den „Tischgesprächen“ findet sich bei Hofer, Walter (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1957, Dok. 46, S.88. Dieser Satz wird durch ähnliche in „Mein Kampf“ gestützt. Paul deutet an einigen Stellen an, dass das Absprechen des Mensch-Seins des Gegners von einer Selbst-Naturalisierung begleitet ist (S. 106).
5 Die Ergebnisse der Reichstagswahlen vom November 1932 sind keine Widerlegung des von Goldhagen festgestellten antisemitischen Massenkonsenses, wie Paul unter Berufung auf Yehuda Bauer behauptet (S. 10).
6 Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 3., Frankfurt am Main 1997, S. 197ff.; Claussen, Detlef, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1987.
7 Gerade wenn der Autor erklärt, nicht „über die großen, meist umstrittenen ‘Linien’ der Geistes- und Kulturgeschichte“, sondern nur über „konkrete Texte“ (S. 63) könne das Ausgrenzungskonstrukt decodiert werden, hätte er deutlich sorgfältiger Inhalt und eigene Projektion trennen müssen. Paul hat guten Grund, vor diesem Abschnitt um „Verständnis“ (S. 97) zu bitten.

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