B. Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Scientiae et artes

Cover
Titel
Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik


Herausgeber
Mahlmann-Bauer, Barbara
Reihe
Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 38
Erschienen
Wiesbaden 2004: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
2 Bde., 1136 S.
Preis
€ 159,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Fuchs, Forschungsbibliothek Gotha

In diesen beiden voluminösen Bänden sind die Beiträge des 10. Internationalen Wolfenbütteler Barockkongresses aus dem Jahr 2000 veröffentlicht. Der Umfang ließ eine zeitnahe Publikation der Tagungsbeiträge offensichtlich nicht zu. Thema des Kongresses war die frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte in einer zweifachen Perspektive: Zum einen die Entwicklung der Wissenschaften selbst, zum anderen ihr Einfluss auf die Kunst. Dabei standen die Technik- und Naturwissenschaften im Vordergrund. Die verschiedenen, immerhin mehr als 50 Beiträge unterteilen sich in Plenarreferate und Vorträge, die in den sechs Sektionen gehalten wurden. Merkwürdigerweise werden allerdings nur vier Sektionen in Überblicksreferaten bzw. Einleitungen zusammengefasst. Bei solch einem großen Unternehmen wäre eine konsequente Teilzusammenfassung für den Leser eine Hilfe gewesen. Dagegen erleichtert ein Personenregister die Erschließung der beiden Bände.

Zu Beginn führt die Herausgeberin in einem programmatischen Beitrag in das Thema ein. Das zentrale Anliegen des Kongresses bestand in der Untersuchung der Verarbeitung von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen durch die frühneuzeitlichen Gelehrten. Durch diese Prozesse wurde eine Grundbestimmung der europäischen Geschichte strukturell in Frage gestellt, nämlich die Autorität der antiken theologischen und profanen Autoritäten. Über die in den jeweiligen Fachdiskursen geführten Aneignungsbemühungen behandelte die Tagung auch die Auswirkungen dieser Wissenschaftsprozesse auf die Künste (Literatur, Kunst und Musik, wie der Untertitel sagt). Allerdings werden in den Beiträgen nur am Rande die Einflüsse wissenschaftsinterner Veränderungsprozesse auf die verschiedenen Kunstfelder berücksichtigt. Ganz im Vordergrund stehen die Interpretationen wissenschaftlicher Veränderungsprozesse, einzelne Wissenschaftler sowie diskursinterne Veränderungsprozesse.

In ihrem einleitenden Aufsatz konstatiert die Herausgeberin als allgemeines Ergebnis der verschiedenen Beiträge zwei Naturbegriffe in der Frühen Neuzeit: Zum einen ein Verständnis von Natur als mechanisch manipulierbare „res extensa“, zum anderen die Interpretation der Natur als „intima rerum“, in der Gott oder ein belebendes Prinzip präsent sei und dadurch das Eigentliche der Natur ausmache. Das Existierende besaß einen transzendenten Seinsgrund. Danach wird das Begriffspaar „artes et scientiae“ in drei Konnotationen erläutert: Erstens stellten sie Termini aus der aristotelischen Philosophie dar, zweitens beschrieben sie das Verhältnis der traditionellen „artes liberales“ zu den höheren Fakultäten an den Universitäten und drittens stand diese Formel für das Verhältnis der Wissenschaften zu den handwerklichen und schönen Künsten. Letztendlich sind aber nur wenige Beiträge tatsächlich dem Verhältnis von „artes“ und „scientiae“ gewidmet.

Die Beiträge des Sammelbandes können hier nicht einzeln aufgezählt, geschweige denn vorgestellt werden. Deshalb sollen nur einige allgemeine Beobachtungen angemerkt werden. Nach den sehr disparaten Plenarreferaten, die wiederum den Sektionsthemen zugeordnet werden können, werden zentrale Themen der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte in sechs Sektionen behandelt. Die erste Sektion bietet Vorträge zu dem Wissenschaftsfeld Astronomie, Astrologie und Kosmologie, das von den einschneidenden Entdeckungen und Hypothesen von Kopernikus bis Newton sowie dem andauernden Konflikt zwischen mathematisch-hypothetischem und physikalisch-empirischem Weltsystem geprägt wurde. Von hier aus wurden Fragen nach der Wirksamkeit neuer kosmologischer Vorstellungen auf verschiedene Bereiche, vom Theater über die Religion bis zur Bedeutung für die Interpretation von Naturphänomenen wie beispielsweise Kometenerscheinungen gestellt.

Der zweite Bereich zu Physik, Geografie, Geogonie und Naturgeschichte thematisiert die dramatischen Wandlungen im Weltbild des 17. Jahrhundert, wie sie auch für die Astronomie zu beobachten sind. Gerade die im Vergleich zu anderen Wissenschaftsfeldern umstürzenden Veränderungen in der Physik verweisen auf die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit in der Entwicklung von Wissensaneignung und Wissensschöpfung. In der Physik wurde im 17. Jahrhundert die aristotelische Tradition von radikalen Neuerungen abgelöst: „Neue Bewegungslehre, Umbruch in der Elemententheorie, beginnende Mathematisierung – zugleich Wiederkehr des Atomismus, hermetisch-magische Vorstellungen, eine Flut von auszuwertenden empirischen Daten, das ist die neue Unübersichtlichkeit in der Physik.“ (S. 447) Die Geografie hingegen hatte ihren entscheidenden Schub durch die Entdeckungen des 16. Jahrhunderts erhalten, während die Geogonie (Erdentstehung) noch längere Zeit von der Schöpfungsgeschichte der Bibel geprägt wurde. In der Naturgeschichte (historia naturalis) wurde die Variabilität der Natur beschrieben, die dann wiederum Versuchen der Systematisierung unterworfen wurde, paradigmatisch in Naturalienkabinetten und Wunderkammern.

Der dritte Komplex über Alchimie und „Magia naturalis“ thematisiert vermeintliche historische Verlierer im Wissenschaftsprozess der Neuzeit. Die Alchimie als Geheimwissenschaft wurde oftmals nur verschlüsselt präsentiert und stand mit einem Bein immer auf dem Gebiet des Magischen und damit auf gefährlichem Terrain. Sie wurde aber gerade von den Fürsten immer wieder gefördert, da sie sich reichen Gewinn von ihr versprachen. Grundsätzlich sind zwei Formen der alchimistischen „Transmutationskunst“ zu unterscheiden: Zum einen die medizinisch-pharmazeutische Suche nach der Universalmedizin, zum anderen die Suche nach Möglichkeiten stofflicher Verwandlung. Festgestellt wurde in verschiedenen Beiträgen eine hohe Attraktivität der Alchemie, gerade in ihrer paracelsistischen Form, da sie sich im Gegensatz zu den Buchwissenschaften, die weithin Wissen durch die Exegese autoritativer Texte herstellte, an diesen empirischen Defiziten abarbeitete. Insofern spielte die Alchimie eine gewisse Rolle für die Entwicklung empirischer Wissenschaftsmethodik. Auf religiösem Gebiet bedienten sich einige Pietisten zur sinnlichen Vergegenwärtigung des Allmächtigen alchimistischer Theorien.

Der vierte Themenkomplex ist der menschlichen Seele gewidmet, deren Erkenntnis- und Wahrnehmungsmöglichkeiten traditionell von der Philosophie untersucht wurden. Um 1600 allerdings konstituierte sich um diese Fragestellungen mit der Psychologie eine neue Wissenschaft. Psychologie und Anthropologie stehen dementsprechend im Mittelpunkt dieser Sektion. Prinzipiell scheint der Pietismus während dieses Kongresses, dem eine hohe Bedeutung bei der „Entdeckung des Individuums“ zugemessen wird, wenig Berücksichtigung gefunden zu haben. Geprägt wurden die Individualisierungsprozesse seit der Renaissance durch eine auf das Individuum zurück projizierte Selbstbewusstwerdung durch selbsttätige und nicht nur exegetische Erkenntnis (S. 752).

Im fünften Sektionsbereich zu Medizin und Krankheit finden sich in einem für das Barockzeitalter wichtigen Wissensfeld nur drei Beiträge. Vorgestellt werden in Italien miteinander konkurrierende Vorstellungen davon, was zur ärztlichen Kunst gehöre, ob sie ästhetische Aufgaben (Kosmetik) zu bearbeiten oder nur auf die Wiederherstellung des Kranken zu zielen hätte. Hier wirkte die Ästhetisierung des menschlichen Körpers in der Renaissance auf die den Ärzten zugewiesenen Aufgaben. Die beiden restlichen Beiträge sind eher der Vermittlung medizinischen Wissens gewidmet. Am Beispiel der Menstruation wird lebensweltliche Wahrnehmung und Erfahrung des Körpers konstatiert, „über die die Analyse der wissenschaftlichen Literatur allein nicht hinreichend Aufschluss geben kann“. (S. 931)

In der sechsten Sektion zu Entdeckungen und Welterfahrung werden vor allem vier Fragen thematisiert: der Charakter des Neuen im Gegensatz zum Alten, das Exotische als Alternative zum Herkömmlichen, Reiseberichte und Kosmografien, in denen die Entdeckungen präsentiert wurden sowie die Interpretation des Neuen in den verschiedenen Konfessionskulturen. Die Entdeckung der Neuen Welt war ein Prozess der Wissensaneignung. Sie revolutionierte die Naturwahrnehmung theoretisch und konkret in der Alten Welt und geriet in Konflikte mit der biblischen Offenbarung über die ethnologische und geografische Welt. Hier könnte nachgefragt werden, ob diese Entwicklungen nicht viel stärker vom Bekanntwerden der asiatischen Länder, vor allem Chinas, als von den Entdeckungen in Amerika beeinflusst wurden. Im Bereich der Entdeckungen spiegelte sich das für die Frühe Neuzeit so typische Nebeneinander von Gelesenem, Fabelhaften und Beobachteten wider (S. 995). Entgrenzung, Erfahrung, Aneignung und Vermittlung bestimmten die Auseinandersetzung mit dem Fremden.

Das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft durchzieht die meisten Beiträge wie ein roter Faden. Dabei gestaltete sich dieses Verhältnis viel weniger konfliktreich, der Fall Galilei lässt grüssen, sondern vielmehr als ein Prozess des Miteinanders, nicht des Gegeneinanders, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. An sich entspricht diese Beobachtung der theologischen und historischen Logik, da bis in das 18. Jahrhundert die Naturwissenschaft gerade die Großartigkeit der Schöpfung zu beweisen hatte. Naturerkenntnis galt ganz selbstverständlich als Quelle der Offenbarung neben der Bibel (im katholischen Bereich auch noch der kirchliche Tradition). Darüber hinaus zeigten viele Wissensfelder, prägnant die Alchimie, dass sich wissenschaftliches Denken nicht in einem linearen Prozess eines unaufhaltsamen Aufstiegs entwickelte.

Der Sammelband ist eine gleichsam großartige Heerschau der Leistungsfähigkeit und der Ergebnisse frühneuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte. Viele, die sich mit den angesprochenen wissenschaftshistorischen Fragestellungen beschäftigen, werden die beiden – realiter und metaphorisch gesprochen – gewichtigen Bänden mit Gewinn zur Hand nehmen.

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