N. Karafyllis u.a. (Hgg.): De-Marginalisierungen

Titel
De-Marginalisierungen. Geschenkschrift für Gisela Engel zum 60. Geburtstag


Autor(en)
Karafyllis, Nicole; Krohmer, Tobias; Schirrmeister, Albert
Erschienen
Berlin 2004: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 18,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Cescutti, IFK - Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften,Wien

Die insgesamt neun Beiträge dieses lesenswerten Bandes rücken die Ränder des wissenschaftlichen, historischen, literarischen, kulturellen, sozialen und politischen Bewusstseins seit der Frühen Neuzeit ins Zentrum ihres Interesses und ihrer Analyse: die Marginalien im engeren und im weiteren Sinn des Begriffs und dazu – dezidiert kultur- und gesellschaftskritisch – die Mechanismen des Marginalisierens. In den neun inhaltlich und methodisch sehr unterschiedlichen Fallstudien schreiben HistorikerInnen, WissenschaftshistorikerInnen, Kunst- und LiteraturwissenschafterInnen an den Rändern ihrer Disziplinen entlang, und diese Grenzgänge geraten – und dies ist auch der Anspruch des Bandes – durchwegs selbstreflexiv und transdisziplinär. Dieser Anspruch ist nicht nur den BeiträgerInnen gemeinsam, sondern verbindet diese auch mit der Jubilarin, der dieser Band zugedacht ist: mit Gisela Engel vom Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit der Universität Frankfurt.

Alle Beiträge haben einen starken historischen Schwerpunkt – es gibt keinen, der nicht mindestens 100 Jahre in die Vergangenheit sondiert – und dennoch beziehen sich alle durchwegs auf Fragestellungen und/oder Probleme der Gegenwart; dass die historische Kontextualisierung von Problemfeldern, die von geschichtswissenschaftlichen Grundsatzfragen über die Entwicklung wissenschaftlicher Terminologien zur Parallelität von Welt- und Geschlechterordnung und zur Frage „Was ist Leben?“ reichen, den BeiträgerInnen trotz des knapp bemessenen Raums – so viel sei hier vorweggenommen –, sehr gut gelingt, empfiehlt den Band der spezialisierten Fach-Öffentlichkeit genauso wie einem interessierten studentischen Publikum, das sich zu den behandelten Themen ein Problembewusstsein und eine erste Orientierung verschaffen will. Alle Beiträge verfügen über ein kurz und bündig gehaltenes Literaturverzeichnis, das für alle, die das Thema vertiefen wollen, die zentralen neueren Monografien – so vorhanden – nachweist.

Den Auftakt bilden zwei Beiträge mit geschichtsphilosophischer Adressierung. Albert Schirrmeister eröffnet den Band mit „Johann Huizingas Homo ludens: Kulturgeschichte, Kulturkritik und Kultur als Aufgabe“ – mit der Auseinandersetzung mit einem viel zitierten, aber wenig gelesenen und historiografisch noch weniger genutzten Klassiker also. Schirrmeister versucht, Huizingas Essay in seine diskursiven Kontexte wieder einzuordnen, ihn dadurch zu demarginalisieren sowie für „eine analytisch geprägte moderne Kulturwissenschaft zu operationalisieren“ (S. 12). Am Ende belässt Schirrmeister Homo ludens als „irritierende Marginalie“, plädiert aber dafür, Huizingas Blick auf die doppelten Bedeutungen von Handlungen, also auf das „als ob“, zu übernehmen – wenn auch mit verschiedenen „Up-dates“ im Hinblick auf eine strenge Revision des Begriffs „Spiel“; Huizingas ahistorisches und metaphysisch aufgeladenes Konzept von Kultur als Spiel zur Ordnung der Welt, das – so legt Schirrmeister im Vergleich mit dem Ansatz Adornos überzeugend dar – in seinem Harmonisierungsbestreben und in seinem ethischen Anspruch der konservativen Kulturkritik seiner Zeit verpflichtet ist, entspreche der „epochalen Grundaufgabe“ (Schirrmeister im Anschluss an Heinz-Dieter Kittsteiner) des 20. Jahrhunderts, nämlich der Auseinandersetzung mit der „Masse“, der modernen Industriegesellschaft und ihrem Verhältnis zur Kultur.

Nahtlos an den Beitrag Schirrmeisters schließt sich ausgehend von der Frage „Geschichte der Sieger?“ Johannes Süßmann mit einer Auseinandersetzung mit Walter Benjamins These von der Parteilichkeit des Historismus. Schade, dass Süßmann – bewusst – auf eine Analyse der Deutungsmuster, die Benjamin der Formulierung seiner These zugrunde legt (das „Bordell des Historismus“), verzichtet. Vielmehr unternimmt er eine Analyse von Benjamins „Historismus“-Begriff und stellt sich die Frage, „ob Benjamins Opposition von Historismus und Materialismus aufrechterhalten werden kann“ (S. 29). Die Fassungen, die Benjamin dem Historismus und dem historischen Materialismus gibt, decken sich – so Süßmann – in vielerlei Hinsicht: Beide sind parteilich, beide betreiben Geschichte als Kampf in der Gegenwart, beide ringen mit einer (allerdings je verschiedenen) Form des Konformismus, beide schreiben eine Geschichte der Erfolgreichen, der Sieger. Auch Süßmann gibt Benjamins Thesen und besonders seiner theologischen Überformung des historischen Materialismus ihren zeithistorischen Kontext zurück und weist auf diese Weise Lektüre-Schwierigkeiten nach: „Wo Sozialdemokratie und Historismus gesagt wird, ist eigentlich der orthodoxe historische Materialismus gemeint. Und wo historischer Materialismus gesagt wird, ist dessen Neufassung durch Benjamin gemeint, die strukturell dem eigentlichen Materialismus gleicht. Die Etiketten bedeuten das genaue Gegenteil von dem, was sie sagen.“ (S. 41)

„Mitte und Rand“ heißt Barbara Hoffmanns Beitrag, in dem sie „von der Grundlage geschichtswissenschaftlicher Forschung, von der historischen Quelle“ ausgeht. An einem Dokument aus Leipzig von 1643 zu einem stadtbürgerlichen Konflikt zur Zeit der schwedischen Stadtherrschaft über die Verteilung der Kriegslasten zeigt Hoffmann, wie die Bürgerschaft zur Kontrolle des Stadtrates einen eigenen Ausschuss wählte, um Verteilungsgerechtigkeit zu erwirken: Eigennutz und Gemeinwohl lesen sich darin nicht als einander ausschließende Motive, sondern „gehörten im Verständnis der Bürgerschaft im 17. Jahrhundert zusammen“ (S. 58). Hoffmann zeigt auch, dass dieser Ausschuss jahrhundertelang im Leipziger Gedächtnis blieb, obwohl ihn die – vom Rat gesteuerte – Chronik und mit ihr die Historiografie marginalisierte oder ignorierte.

Es folgen zwei Beiträge zur Pädagogik und ihrer Geschichte: Brita Rang befasst sich unter dem Titel „On the treshold. Zur Präsenz der Jugend in der Frühen Neuzeit“ mit den aus historischer Perspektive unbefriedigenden Aussagen der modernen deutschsprachigen Jugendforschung, die in ihrem reichlich ahistorischen Begriff von „Jugend“ soziale Differenzierungen ebenso ignoriert wie geschlechtliche und plädiert für analytisch-theoretische Konzepte, „die geschichtliche Formen von Jugend mit den sie modifizierenden Prägungen gleichsam in ihrer Prozeßhaftigkeit zu kennzeichnen vermögen und insofern dem kulturell variablen Charakter von Adoleszenz und der sie mitkonstituierenden Geschlechterunterschiede Ausdruck geben“ (S. 62f) Rang identifiziert in Victor W. Turners ethnologisch-anthropologischem Konzept der „liminality“ einen brauchbaren Zugang zu „Jugend“, der auf feste zeitliche oder sachliche Eckpunkte und andere falsche Homogenitäten und Normierungen verzichtet und der Vielfalt des Problems gerecht wird. Auch die Frage nach den Geschlechterverhältnissen lässt sich nach Rang im begrifflichen Kontext von Liminalität diskutieren: Geschlechterdifferenz als „Grenzvorstellung“ und „liminales Konzept“, das den „Zwischenraum zwischen psychischen, somatischen und sozialen Dimensionen besetzt“ (S. 74).

Birgit Marx schreibt über „Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns als Impuls für sozialpädagogisches Handeln“ und fragt nach der Habermas-Rezeption in der empirischen Sozialforschung, die längst ein Handlungsprofil für die Soziale Arbeit entwickelt hat, das weit über die theoretischen Impulse von Habermas hinausgeht, „das aber im Sinne von Habermas kommunikationsorientiert lebensweltliche Zusammenhänge sichtbar macht und diese stützt“ (S. 97) und vor allem in den Arbeiten von Hans Thiersch zu finden sei.

Tobias Krohmer bietet – nachträglich zum Kant-Jubiläum – präzise Lektüre statt biografistischer Spekulation zu einem für Kant vielleicht marginalen Thema: „Sex und reine Vernunft. Zur moralischen Bewertung des wechselseitigen Gebrauchs der Geschlechtsorgane bei Kant“. Krohmer startet bei Kants kategorischer Verurteilung homosexueller Handlungen im ersten Teil der „Metaphysik der Sitten“ und bei seiner Billigung heterosexueller Handlungen in der Ehe. Kants Verurteilung von Homosexualität beruht nach Krohmer auf seiner Verurteilung von sexuellen Handlungen überhaupt. Krohmer bemüht sich um den Nachweis, dass es nach Kants formalistisch-abstrakten Verständnis von Autonomie nicht grundsätzlich moralisch illegitim sei, einer Instrumentalisierung durch eine sexuelle – hetero- und homosexuelle – Handlung zuzustimmen. Er handelt das Problem mit philosophischem, nicht historischen Instrumentarium ab – was die Rezensentin befremdet, ist das Fehlen jeglicher Referenz auf die zeitgenössische Sexualmoral nicht nur des Bürgertums, sondern auch der christlichen Kirchen, der Kant eindeutig verpflichtet ist.

Daran schließt sich nicht zufällig Nicole C. Karafyllis’ Beitrag „Der Blumenkönig Carl von Linné und das System der Natur“ über das Ineinandergreifen von Klassifikation, Nomenklatur und Sexualität in der Systematisierungsarbeit Linnés, die es ermöglichen sollte, „den göttlichen Schöpfungsplan erkennen zu können“ (S. 117), und dabei auf Sexualmerkmale aufbaut (was ihn letzten Endes auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher brachte). Die Dichotomie von Männlichem und Weiblichem erweist sich bei Linnè als „Ursystem“ (S. 124). Im Vergleich mit der Entstehung von Nomenklaturen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Chemie skizziert Karafyllis die Ausdifferenzierung von lateinisch-wissenschaftlichem Wissen und trivialsprachigem Alltagswissen. Die Geschlechterdifferenz wird dabei zur Deutungsfolie für Welt-Ordnung, für „die Ordnung in der bisher ungeordneten Welt des Lebenden“. Karafyllis schließt mit Reflexionen zum Verhältnis von Name und menschlicher Existenz angesichts der Tatsache, dass der Namensgeber Linné heute gewissermaßen „namenlos“ und so gut wie vergessen ist.

„Kiss of Death – Kiss of Life. Untote Betrachtungen über die conditio vampirica” – so der Titel des ersten literaturwissenschaftlichen Beitrags aus der Feder von Susanne Scholz, in dem sie – anhand von Bram Stokers „Dracula“ (1897) und Anne Rices „Interview with the Vampire“ (1997) – die conditio vampirica der conditio humana annähert: Während Stoker einen Bruderbund in einer – freilich höchst ambivalenten – zivilisatorischen Mission zu Expurgation des Bösen ausschickt, des Bösen, des verworfenen Anderen, das zielsicher in das Zentrum der patriarchalisch-imperialistischen Logik trifft, steht bei Rice der Vampir nicht „nicht mehr für das verworfene Andere der symbolischen Ordnung, sondern für das imaginär-prospektiv zu Erreichende: Sie sind nicht mitten unter uns, sondern schon längst in uns“ (S. 147).

Auch der Beitrag von Katja Kailer handelt vom Rand zwischen „Leben“ und „Tod“. Sie schließt den Band mit „Monster zwischen schlechter Gesellschaft und krankem Gehirn: die Transformation des Frankenstein’schen Monsters von Subjekt zum Objekt“, in dem sie die filmische Figuration des Frankensteinschen Monsters von 1931 – gespielt von Boris Karloff, produziert von James Whale – dem Monster aus Mary Shelleys Frankenstein-Roman gegenüberstellt. Sie zeigt, wie das Monster in den Figurationen der 1920er und 1930er-Jahre den Status als Subjekt, den es bei Mary Shelley noch hatte, verliert, und zwar bis in die Art seines finalen Todes hinein, der bei Shelley noch ein Freitod ist und im Film von James Whale dann eine Hinrichtung. Kailer stellt dies in den Kontext der jeweiligen zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussionen, das heißt in den frühen 1930ern eines „sich zuspitzenden gehirn-deterministischen Wissenschaftsverständnisses und Weltbildes“ (S. 160).

Eine Bibliografie der Jubilarin rundet diesen Band ab, der vermeintlich Disparates und/oder Marginales zu einem anregenden Ganzen verbindet – und die Ansprüche, die seine HerausgeberInnen in der Einleitung formulieren, von vorn bis hinten einlöst.

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