Titel
Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850-1900)


Autor(en)
Hess, Volker
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Campus Verlag
Anzahl Seiten
339 S., 22 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Stolberg, Seminar für GEschichte der Medizin, TU München

Vom Hauptstrom der Geschichtswissenschaften bislang weitgehend unbemerkt hat sich die Wissenschaftsgeschichtsschreibung in den letzten Jahren tiefgreifend gewandelt. Neben die herkömmliche Frage nach den "grossen Entdeckern" und ihrem Beitrag zur fortschreitenden Erkenntnis von Mensch und Natur trat zunehmend die Analyse der Entstehungs- und Durchsetzungsbedingungen wissenschaftlicher Theorien und Praktiken im jeweiligen zeitgenössischen Kontext. Die Entwicklung und der Erfolg einzelner Methoden und Deutungen, so die Ausgangsthese, läßt sich nicht einfach dadurch erklären, daß sie die Wirklichkeit (nach heutiger Einschätzung) genauer beschreiben als andere. Ethnographische Untersuchungen der konkreten wissenschaftlichen Forschungspraxis in Natur oder Labor und die (im weiteren Sinne) sozialkonstruktivistische Einordnung in die jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zeigen vielmehr die vielfältigen Einflüsse, die bei der Entstehung und Durchsetzung einer wissenschaftlichen "Tatsache" wirksam werden. Die Auswirkungen institutioneller Strukturen, politischer und kultureller Präferenzen und der mehr oder minder erfolgreichen öffentlichen Selbstdarstellung sind dabei ebenso zu beachten wie Netzwerke unter den Wissenschaftlern selbst, in denen die Anerkennung wissenschaftlicher Tatsachen und die Autorität ihrer Vertreter ausgehandelt werden, oder auch die jeweils verfügbaren oder bevorzugten Forschungspraktiken und Instrumente, die den Bereich möglicher Methoden und Resultate von vornherein einengen.

Mit der vorliegenden, aus einer Habilitationsschrift hervorgegangenen Arbeit über die Geschichte des Fiebermessens von 1850 bis 1900 legt Volker Hess die exemplarische Untersuchung der Entwicklung und Durchsetzung einer besonders erfolgreichen neuen wissenschaftlichen Methode vor, einer Methode, die sich wie wenige andere auch in der Alltagswelt der Laien durchsetzen konnte. Die Untersuchung setzt ein mit einem breiten, vorwiegend auf die Sekundärliteratur gegründeten Überblick über den Fieberbegriff der älteren Medizin. Hess betont hier die überragende Bedeutung eines qualitativen Wärmebegriffs, wie er herkömmlichen Konzepten einer spezifischen Lebenswärme (calidum innatum) und einer fiebererzeugenden "fremden" Wärme eigen war. Eine bloss quantitative Messung der Körpertemperatur mit dem Thermometer, obschon vereinzelt geübt, versprach hier nur ergänzenden Aufschluss. Im Rahmen der mechanistischen Körpermodelle des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts galt gar weithin nicht die Hitze, sondern der beschleunigte Blutumlauf als das kennzeichnende Merkmal eines Fiebers; schliesslich gab es auch "kalte" Fieber, und das Frösteln war ein bekanntes Fiebersymptom. Hess verortet diesen historischen Fieberbegriff in der vorherrschenden Struktur der Arzt-Patienten-Beziehung, in der die wohlhabenden, gebildeten Kranken damals eine vergleichsweise starke Stellung hatten. Diese Konstellation habe solche Krankheitskonzepte und speziell Fiebertheorien gefördert, die dem subjektiven Empfinden des Patienten grössere Bedeutung zubilligten als einer objektivierenden instrumentellen Messung.

Voraussetzung für die Durchsetzung des Fiebermessens im 19. Jahrhundert war, daß der herkömmliche Fieberbegriff - unter kreativer Weiterführung einzelner seiner Aspekte - "dekonstruiert" wurde, ein Prozess, den Hess mit der Physikalisierung herkömmlicher Auffassungen von Lebenswärme und dem Bedeutungsverlust einer ontologischen Einteilung der Fieber in vorgegebene Spezies in Verbindung bringt. In den Kliniken begannen die Ärzte systematisch die Körpertemperatur der Patienten zu erheben. Sie zeigten die geringe Variabilität der Körperwärme und, in einer Reihe von Arbeiten, deren messbare Vermehrung im Fieber. Über die verlässlichste Art, entsprechende Messdaten zu erheben, über ihre bevorzugte Darstellungsform, und vor allem über ihre klinische, diagnostische und therapeutische Relevanz war damit jedoch noch nicht entschieden. Wie sich die Temperaturmessung als Schlüssel zur Fieberdiagnose schliesslich innerhalb der medizinischen Wissenschaft und in der klinischen Praxis durchsetzte, verfolgt Hess im zweiten und umfangreichsten Kapitel seines Buches. Denn erst im Zuge dieses Prozesses, so Hess' Fazit, schuf die Temperaturmessung schliesslich einen "neuen Gegenstand, indem sie die bislang nur individuell beurteilbare Krankheitserfahrung von kalt und warm in die sichtbare Ausdehung einer Quecksilbersäule übersetzte"(S. 70).

Ausführlich würdigt Hess die jeweiligen thematischen und institutionellen Arbeitszusammenhänge der beteiligten Forscher. So formulierte Ludwig Traube präzise Arbeitsanweisungen, wie durch mehrfache Messungen über einen Zeitraum von etwa 25 bis 35 Minuten verlässliche Daten zu gewinnen waren. Er führte auch die graphische Darstellung als Fieberkurve ein und relativierte die Bedeutung der Pulsfrequenz als Fiebermerkmal. Das Thermometer diente ihm jedoch primär dazu, die Wirkungen von Digitalis auf messbar zu machen und so eine Brücke zwischen der (zunehmend renommierten) Laborforschung und der klinischen Empirie zu schlagen. Carl Wunderlich dagegen, mit dessen Namen die Einführung der Fiebermessung heute vor allem verbunden wird, zielte von vornherein auf die praktische klinische Anwendung, auch wenn die zu Grunde liegenden pathophysiologischen Prozesse unklar blieben.

Die Etablierung des neuen Verfahrung in Klinik und freier Praxis, in ihren sozialen kulturellen Voraussetzungen und ihren Wirkungen, verfolgen, auf deutlich schmälerer Quellenbasis, die beiden letzten Kapitel. Wie Hess hier am Beispiel von Leipzig und Berlin veranschaulicht, hatte sich das Krankenhaus seit dem 18. Jahrhundert von einer Verwahranstalt zu einer primär kurativ ausgerichteten Einrichtung gewandelt. Vorwiegend akut Kranke fanden nun Aufnahme, darunter viele Fieberleidende. Zudem waren es weitgehend Kranke aus den Unterschichten, denen die Ärzte, anders als der zahlungskräftigen privatärztlichen Klientel des 18. Jahrhunderts, die Beschwerlichkeit regelmässiger, rund halbstündiger Fiebermessungen leichter zumuten konnten und die sich mit der Sprachlosigkeit eines weitgehend "objektivierten" Körpers eher abfanden. Widerstände sind jedenfalls in den ärztlichen Schriften nur ausnahmsweise überliefert. Die Betroffenen selbst kommen freilich in den Quellen kaum zu Wort. Gerade in dieser freiwilligen Annahme oder wenigstens Duldung einer Praxis, die die subjektiven Empfindungen des Kranken entwertete, sieht Hess jedoch, in Foucaultscher Tradition, das Spezifische eines neuen Machtverhältnisses. Er beschreibt das Fiebermessen als eine "neue Form von Gewalt", die "aus der kontrollierten und regelgerechten Ausübung des Messens selbst erwuchs" und die "der Machtassymmetrie ihrer Wissenstechniken entsprang".(S. 237) Diesen Prozess schätzt Hess als um so wirkmächtiger ein, als sich das neue Messverfahren bald auch auf breiter Ebene im Alltag durchsetzte und, den ärztlichen Schilderungen zufolge, von den Kranken selbst sogar mit Nachdruck gefordert wurde. Die Patienten machten sich damit die "medizinische Objektivierung" ihres Körpers zu eigen und billigten der "physiologisch definierten Normaltemperatur eine normative Bedeutung zu" (S. 246), die durch die staatliche Prüfung und Beglaubigung der Thermometer eine zusätzliche Dimension gewann. Damit eröffnete das Fiebermessen den Kranken andererseits auch neue Möglichkeiten einer Selbstdiagnose, die von der Beurteilung durch ärztliche Experten weitgehend unabhängig war.

Hess' Arbeit besticht durch die detaillierte geographisch und institutionell verortete Analyse von Medizin und Wissenschaft als lokaler Praxis. Das setzt eine entsprechende geographische Beschränkung voraus und mutet dem Leser in der Darstellung der wissenschaftlichen Debatten und der jeweiligen lokalen Verhältnisse gewisse Längen zu. Doch nur so kann die Vielfalt der Einflüsse auf die Genese, spezifische Ausgestaltung und Durchsetzung dieser neuen Praxis umfassend gewürdigt werden.

Grundlegende Einwände, das liegt in ihrer Natur, fordern dagegen Hess' provokante Thesen zur "normalisierenden" kulturellen Wirkung des Fiebermessens heraus. Zum einen stellt sich die Frage, ob Hess die objektivierende und normierende Wirkkraft des Fiebermessens nicht stark überschätzt. Waren die Ärzte und/oder die Kranken selbst wirklich so oft im Zweifel, ob ein Fieber vorlag, so daß das Thermometer zum objektiven Massstab wurde? Über zahlreiche nicht-fieberhafte Krankheiten erlaubte das Fiebermessen zudem doch ohnehin keine Aussage. Konnte die objektivierende Messung der Körpertemperatur und ihre Beurteilung anhand von Normalwerten gar die alltägliche Körpererfahrung der Zeitgenossen, in Krankheit und Gesundheit wirklich nennenswert beeinflussen, auch im Vergleich zu anderen zeitgleichen, weit umfassenderen sozio-kulturellen Veränderungen wie der Entstehung einer Massengesellschaft oder der Industrialisierung? Einen schlüssigen empirischen Nachweis der postulierten Wirkungen bleibt Hess jedenfalls schuldig.

Zum anderen bleibt unklar, selbst wenn man solche Wirkungen unterstellt, wie Bedeutung und Wirkungen des Fiebermessens im Vergleich zu anderen, auch älteren objektivierenden Diagnoseverfahren einzuschätzen sind. Hess erwähnt selbst die grosse Verbreitung des Pulstastens als ein jahrhundertelang anerkanntes Diagnoseverfahren gerade bei Fieber. Neben der Prüfung der Pulsqualitäten stand hier auch die quantifizierende Messung der Pulsfrequenz und deren Erhöhung galt, wie erwähnt, lange Zeit sogar als das eigentliche Merkmal eines Fiebers. Selbst spezielle Messinstrumente wurden entwickelt: im frühen 18. Jahrhundert liess sich der englische Arzt John Floyer eigens tragbare Puls-Uhren anfertigen, die ihm die sekundengenaue Messung der Pulsfrequenz erlauben sollten. Anhand von systematischen Pulsmessungen suchte er dann genaue, zahlenmässige Korrelationen zwischen unterschiedlich starken Pulsbeschleunigungen und einzelnen Krankheiten aufzuzeigen. 1

Lange vor der Einführung des Fiebermessens erlaubte die Pulsdiagnose also eine "Objektivierung" von Krankheitsphänomenen, mass und normierte körperliche Prozesse und machte die ärztliche Diagnostik ein Stück weit von den subjektiven Symptomschilderungen der Kranken unabhängig. Vergleichbares gilt auch für andere anerkannte objektivierende Diagnoseverfahren der älteren Medizin wie das manülle Abtasten oder das Beschauen von Urin, Stuhl oder Blut, das, zumindest in Süddeutschland, auch in der Praxis der zahlreichen ländlichen Laienbehandler eine überragende Rolle spielte. Und wie später das Fieberthermometer eröffneten solche Verfahren andererseits auch - nachweislich genutzte - Möglichkeiten einer Selbstdiagnose. Noch in solchen kritischen Nachfragen zeigt sich freilich auch das Potential, das die historische Untersuchung eines auf den ersten Blick so unscheinbaren Gegenstands wie des Fieberthermometers und seiner praktischen Anwendung für sehr viel weiter reichende kultur- und wissenschaftshistorische Fragestellungen birgt.

Anmerkung:
1 John Floyer, The physician's pulse watch, or an essay to explain the old art of feeling the pulse, and to improve it by the help of a pulse-watch, London 1707.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension