M. Caruso: Biopolitik im Klassenzimmer

Cover
Titel
Biopolitik im Klassenzimmer. Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869-1918)


Autor(en)
Caruso, Marcelo
Reihe
Bibliothek für Bildungsforschung
Erschienen
Weinheim 2003: Beltz Verlag
Anzahl Seiten
522 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Barth, Paris

Mit „Biopolitik im Klassenzimmer“ stellt sich Marcelo Caruso eine doppelte Aufgabe. Der Text, der im Wintersemester 2001/2002 an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen wurde, will zum einen die Unterrichtspraktiken in den Bayerischen Volksschulen nachzeichnen und zum anderen Michel Foucaults Konzept der Biopolitik an diesem Beispiel erläutern und überprüfen.

Caruso eröffnet seine Untersuchung daher mit einer ausführlichen und sehr gelungenen Zusammenfassung des Gouvernementabilitätsbegriffs Foucaults. Daraus leitet er seine These ab, „dass in den bayerischen Volksschulen eine Reihe von Veränderungen und Reformen eingeleitet wurde (sic!), die in sich die Züge eines neuen Regierungsstils des Volksschulwesens trugen“ (S. 16). Es geht Caruso nicht um die „rein technische Aufgabe der Schulpolitik“, sondern um „die spezifisch schulische Konkretisierung eines umfassenden Regierungsprogramms“ (S. 14).

Es fällt auf, dass der Autor keinen Bruch zwischen dem vor allem in „Überwachen und Strafen“ geprägten Begriff der Disziplinierung und dem später entwickelten Konzept der Biopolitik Foucaults feststellt. Biopolitik wird als eine auf den Disziplinen aufbauende Technik beschrieben, die diese ebenso weiterentwickelt wie im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit der Subjekte modifiziert. Daraus ergibt sich die Untersuchungsfrage, „ob die Charakterzüge dieser Art von Machtausübung und die sie begleitenden, maßgebenden Veränderungen im epistemologischen Umfeld des 19. Jahrhunderts auch in den Unterricht als Regierungssituation Eingang fanden“ (S. 38). Caruso will die Geschichte eines „expansiven Unterrichts“ schreiben und behauptet, dass „das Aufkommen der Biopolitik mit dem zu ihr gehörigen Wissen, nicht nur für Disziplinen, sondern auch für Regulierungstechnologien im allgemeinen ein Ordnungsangebot darstellte“ (S. 46).

Der Ausgangspunkt ist die erstmalige Einsetzung eines weltlichen Schulinspektors in München 1869; thematisiert wird die schleichende Zurückdrängung der Kirche aus der Schule. Eine der Hypothesen Carusos ist, dass „Protestantismus, aber insbesondere städtisches Milieu, fördernde Faktoren für die Erfindung und Verbreitung des regulierenden Unterrichts bildeten.“ (S. 52). Der Autor untersucht Unterweisungslogik und Subjektpolitik in den Bayerischen Volksschulen unter Berücksichtigung von konfessionellen und sozialen Strukturen (Vergleich Stadt-Land) als Resultat eines gesamtpolitischen Regierungsanliegens.

Caruso beginnt mit einer lesenswerten Schilderung des bayerischen Volksschulwesens im Spätabsolutismus. Bereits hier macht er die konfessionellen Grenzen als „Wasserscheide“ aus (S. 87). Diese ist für sein Vorhaben die Biopolitik im Rezeptionsverhalten der Lehrer sowie im Schulalltag selbst deutlich zu machen, entscheidend. Auf dieser Grundlage setzt nach beinahe 100 Seiten Carusos Erzählung von der „Erosion, Zurückdrängung und Beseitigung der kirchlichen Schulaufsicht“ ein (S. 92). Zunächst werden die Akteure der Biopolitik (Lehrer, Schulaufseher, Stadtschulräte, Kreisschulinspektoren) behandelt, wobei den Strategien der Geistlichen zur Wahrung ihrer Aufsichtshoheit ein besonderer Platz eingeräumt wird.

Beschrieben wird die allmähliche Bevorzugung von produktiven gegenüber rezeptiven Tätigkeiten, die als Kernelemente der Biopolitik erscheinen. Die curricularen Strukturen des vierten Kapitels, wobei der Begriff des Curriculums anschaulich anhand der neuesten angelsächsischen Forschungsliteratur herausgearbeitet wird, betreffen die Zurückdrängung des Schulgelds genauso wie die Frage nach der Abschaffung des achten Schuljahres. Caruso versucht Biopolitik gerade auch an den Lehrplänen festzumachen. Diese dienen ihm jedoch nicht dazu, die „Wirklichkeit der Schulunterweisung“ abzulesen, sondern die „Legitimität der Lehrplanarbeit“ zu beschreiben (S. 160). Der Autor kommt zu dem Ergebnis: „Die Lehrer wollten eine biologisch vorgestellte Regulierung und Leitung anstatt der mechanischen Kontrolle und Aufsicht.“ (S. 216)

Das fünfte Kapitel behandelt die Diskussionen um die Ausstattung der Klassenzimmer. Die zunehmende materielle Verbesserung verdeutlicht für Caruso das Aufkommen der Biopolitik. Wandtafel, Heft und Schiefertafel, Rechen- und Lesemaschinen sowie geografische Karten verwandeln sich hier von den materiellen Trägern theoretischer Konzepte hin zu Zeichen einer Volksschule, „die zunehmend das biopolitische Mandat der Entwicklung und der Naturmäßigkeit als Grundformen der Regierbarkeit der Schülergruppe in konkrete Technologien für das Klassenzimmer umsetzte“ (S. 270). Das Aushängeschild dieses Prozesses war das Schulbuch. Immerhin kennzeichnen sich die 1880 und 1890er-Jahre durch eine zunehmende Vereinheitlichung der Lesebücher. Das Buch wurde in einer Unterrichtsform, die immer mehr auf selbstständige Teilnahme abzielte, zum Problem. Die Reformkräfte witterten die Gefahr, dass Bücher eher zur mechanischen Reproduktion denn zu eigenständiger Produktion Anlass geben könnten. Genauso wie bei der Gestaltung der Schulbänke war nicht der Schüler, sondern das Material selbst der Gegenstand der biopolitischen Intervention, weil – so Caruso – „dies der absolute, weil vom Leben definierte Maßstab in der Sache war“ (S. 316).

Dieser sich unter einem gewissen „Modernisierungsdruck“ (S. 319) durchsetzenden Verschiebung von Reproduktion zu Produktion wird vor allem im sechsten Kapitel Rechnung getragen. Biopolitik erweist sich hier als Wechsel von einem institutionell definierten Schüler hin zu einem nicht institutionell definierten Heranwachsenden. Als Quellen dienen Caruso insbesondere die Protokolle der Schulvisitationen, die – vor allem ab der Jahrhundertwende – eine Bewegung hin zu einer „zwangloseren Unterrichtsstimmung“ (S. 360) sichtbar machen. Caruso erteilt dabei nach eigener Aussage der älteren Forschungsliteratur, die den Augenmerk zumeist auf Drill und Disziplin in den Schulen lenkte, keine Absage. Er konstatiert eine Zurückdrängung und keine Abschaffung der Disziplinen, die vor allem in den Städten wirksam wurde, ohne die aus der spätabsolutistischen Zeit weiter bestehenden Strukturen völlig überlagern zu können.

Erst an dieser Stelle widmet sich Caruso der Praxis der einzelnen Unterrichtsfächer. Vor allem die Frage nach der Verwendung des Katechismus erwies sich bei der zunehmenden Verweltlichung der bayerischen Volksschulen als zentral. Caruso schreibt dabei dem Zeichenunterricht eine bedeutende Rolle zu. Er macht darin, und nicht etwa im Schulturnen, die „Schlüsselfigur der biopolitischen Intervention im Klassenzimmer“ aus (S. 447). In diesem letzten Kapitel wird Carusos These von der Verbreitung der Biopolitik als Steigerung des Enthusiasmus, der Anteilnahme und der organischen Entwicklung deutlich. Ein Zitat aus der Bayerischen Lehrerzeitung von 1907 bringt diese Reformbemühungen auf den Punkt: „Sie [der bayerische Minister Lutz] erwarten alles Heil in Erziehung und Unterricht von der methodischen Führung des Kindes durch den Lehrer; wir setzten unser Vertrauen in das Treiben und Drängen der kindlichen Kräfte nach eigener Erfahrung und eigener Entwicklung und sehen unsere Aufgabe darin, diese Eigenentwicklung verständnisvoll anzuregen, zu unterstützen, zu leiten und im Notfall zu korrigieren.“ (S. 465)

Wie der Autor einräumt, wird die eingehende Frage nach Verbindung und Verhältnis von pädagogischer und politischer Führung nicht wirklich beantwortet. Caruso macht deutlich, dass er die beschriebene Entwicklung keineswegs als Überstülpen regierungspolitischer Konzepte auf die Klassenzimmer missverstanden wissen will (S. 472). Auch beschreibt er keinen Siegeszug einer neuen Biopolitik über ältere Disziplinartechniken. Ihm geht es um einen schleichenden, je nach Konfession und Bevölkerungsdichte zu spezifizierenden Prozess einer Veränderung innerhalb der pastoralen Führungskultur, welche die Bayerischen Volksschulen zu Ende des 19. Jahrhunderts charakterisierte.

Marcelo Caruso hat eine akribisch recherchierte und auf einer profunden Kenntnis der Forschungsliteratur aufbauende Untersuchung vorgelegt. Dass diese an ihrem Ende nicht zu spektakulären Thesen ansetzt, sondern ihre Ergebnisse nüchtern in ihren Bezugsrahmen einordnet, ist nach Meinung des Rezensenten als eine weitere Stärke der Arbeit anzusehen. Dennoch können auch Kritikpunkte formuliert werden. Zwar überzeugt der methodische Bezug auf Foucault, doch werden dessen Thesen kaum kritisch hinterfragt. Nach der methodischen Einführung fällt der Name Foucault nur noch zwei Mal (S. 165, 364), und am Ende der Lektüre wird keine Aussage des französischen Philosophen modifiziert, relativiert oder abgeändert. So scheint es teilweise, als ob die bayerischen Volksschulen die Theorien Foucaults schlicht bestätigen würden. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die vom Autor betonte Wichtigkeit konfessioneller Grenzen, die nur schemenhaft hervortritt. Die Frage, wie eine solche in den bereits 500 Seiten langen und sehr ausführlichen Text hätte integriert werden können, findet allerdings keine unmittelbare Antwort. Gerade gegen Ende wird auch deutlich, dass die Frage, ob es hier um die Bestrebungen einer überschaubaren Gruppe von Reformern oder aber um eine durchsetzungsstarke Regierungsmaßnahme auf breiter politischer Ebene handelte, mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

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