Geschichte eines Erinnerungsortes: Mythos Rütli

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Titel
Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes


Herausgeber
Kreis, Georg; Wiget, Josef
Erschienen
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zsolt Keller, Seminar für allgemeine und schweizerische Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die vorliegende Publikation von Georg Kreis beschäftigt sich mit einer in der Innerschweiz gelegenen Bergwiese von 62’230 Quadratmetern Grösse. Auf den ersten Blick also nichts Spektakuläres. Doch der Fokus seines Interesses gilt der so genannten Rütliwiese oder schlicht: dem Rütli. Von den sagenumwobenen Ereignissen, die sich auf dieser Wiese zugetragen haben sollen, weiss auch „Baedeker’s Schweiz“ aus dem Jahr 1893 zu berichten: „Bei Brunnen beginnt der südl. Arm des Sees, der Urner See. 1/4 St. weiter, unterhalb Seelisberg, liegt 8 Min. über dem See die Bergwiese Rütli oder Grütli, wo nach der Sage beim Tagesgrauen des 8. November 1307 dreiunddreißig Männer aus Uri, Schwyz und Unterwalden den Bund zur Befreiung des Landes von habsburgischer Herrschaft schlossen. Die drei Quellen, welche in einem baumbepflanzten Rodel aus einer künstlichen Steinwand rieseln, sollen die Stelle bezeichnen, wo Werner Stauffacher von Steinen in Schwyz, Erny (Arnold) an der Halden von Melchtal in Unterwalden, und Walter Fürst von Attinghausen in Uri den Eid leisteten.“ 1 Im Zentrum des Geschehens auf dem Rütli stand der die Eidgenossenschaft begründende Eid, der so genannte „Rütlischwur“. Auch wenn das Schwören als ein nicht nur in der Eidgenossenschaft verbreitetes Phänomen erachtet wurde, bildeten das Rütli und das Schwören im Gründungsmythos der Eidgenossenschaft eine derart verschmolzene Einheit, dass im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Rütli nur gerade dieser Moment in Verbindung gebracht wurde und der Schwur diesen speziellen Ort vom „Rest“ der Geschichte abkoppelte. Der Eid symbolisierte „die metaphysische Verankerung des Staates und stand in der alten Ordnung am Angelpunkt von Religiösem und Weltlichem, Kirche und Staat und Gott“ (S. 168).

Der Rütlischwur wurde gleichsam zum Initiationspunkt der Schweizer Geschichte und zum Kulminationsort patriotischer Gefühle konstruiert. Von hier aus entfalten sich die Szenen der Geschichte der Eidgenossen. So ist mit dem Rütli und seiner Umgebung auch der Nationalheld und Tyrannenmörder Wilhelm Tell verbunden. Auch wenn die moderne Forschung in den 1970er-Jahren nicht müde wurde, sowohl Wilhelm Tell als auch den Rütlischwur als nationale Mythen zu entlarven und zu dekonstruieren, büsste das Rütli sein patriotisches Ambiente nicht ein. Davon zeugt u.a. die von Jahr zu Jahr grösser werdende Schar der BesucherInnen der auf der Rütliwiese durchgeführten Bundesfeier zum 1. August. Nach wie vor hat diese Wiese – so Kreis – gewisse „Züge einer Pilgerstätte, eines Ortes der Erbauung und der Erneuerung höherer oder tiefer angesiedelten Gewissheiten“ (S. 17).

Das Rütli ist bis dato ein Ort des Politischen geblieben. Sei es als missbrauchte Bühne für Nationalkonservative und Rechtsradikale, deren provokative Teilnahme an der Bundesfeier in jüngster Zeit schweizweit vermehrte Beachtung in der Presse fand. Oder sei es als Ort der politischen Avantgarde: In der Nacht auf den 1. August 1996 tauschten Studierende der Universität Freiburg/Schweiz die Schweizerfahne gegen die Europafahne aus. Nur der kühne Einsatz des Pächtersohnes der Familie, die mit der Bewirtschaftung der Rütliwiese betraut war, konnte verhindern, dass der Nationalfeiertag unter einem „falschen“ Zeichen stattfand.

Die Studie von Georg Kreis spürt der Rütliwiese als „lieu de mémoire“ aus mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Perspektive nach. Er will die Generationen zuvor betriebene „Historisierung der Vergangenheit selbst historisieren und zu einem Reflexionsgegenstand machen“ (S. 75). Dies gelingt ihm, indem er die Geschichte und die Funktion des Rütli akribisch mit Text- und reichhaltigem Bildmaterial nachzeichnet und sein lokalhistorisches Kolorit aufzeigt. Da Quellenkritik auch zugleich Kultur- und Traditionskritik ist, werden seine Zeilen zu einer Art Spiegelbild der Nation – zu einer Galerie verschiedener Geschichtsbilder des Konstrukts „Eidgenossenschaft“.

Es liegt in der Logik des Mythos, dass er sich selbst perpetuiert. So konnte aus dem Rütli-Mythos leicht ein neuer entstehen: Der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, versammelte am 25. Juli 1940 nach der Kapitulation Frankreichs 400 bis 600 seiner Offiziere auf dem Rütli und bediente sich der patriotischen Erhabenheit, die das Rütli umgab. Im so genannten "Rütli-Rapport" schwor er seine Offiziere auf das Réduit national, den Rückzug der Armee in das Voralpen- und Alpengebiet ein. Mit seinen Worten schuf Guisan aber gleichzeitig einen neuen Mythos. Je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr entwickelte sich der „Rütli-Rapport“ zu einem wichtigen Bezugspunkt für Veteranentreffen. Am 1. September 1989 erinnerte die Schweizer Armee in der „Diamant“-Feier auf dem Rütli an die Mobilisation der Schweizer Armee. Der deutsche Autor Ralf Langejürgen 2 setzte 1993 die zukunftsoffene Kooperationshaltung der EU der in der Schweiz vorherrschenden Alleingang Mentalität resp. den so genannten Reduitgeist gegenüber und setzte Letzteres mit dem Rütli gleich. Doch Weltoffenheit und „Rütli“ schliessen sich nicht aus. Sie sind keine unüberbrückbaren Gegensätze. So galt der Rütlibund in der Völkerbundsdebatte von 1920 als Vorbild des Systems kollektiver Sicherheit.

Sprachlich diente das Rütli als eine Art Code, um einem historischen Ereignis den Nimbus des Neuanfangs, der Neuschöpfung oder der Einigung zu geben. So wurde die 1815 geschlossene Heilige Allianz als das Rütli der reaktionären Monarchen gedeutet oder die Gemeinde Unterbäch im Kanton Wallis, die 1957 unerlaubterweise Frauen an die Urne liess, als „Frauen-Rütli“ 3 bezeichnet. Nach 1956 vertrat ein Zeitungsleser nach der Ungarnkrise die Meinung, Europa solle jetzt die Schweiz zum Vorbild nehmen und sich zu einem „europäischen Rütli“ aufraffen (S. 44).

Das Rütli ist in das kollektive Bildgedächtnis der Eidgenossenschaft eingegangen. Die geistigen, aber auch konkreten Bilder, die das Rütli darstellten, sind vielfältig: Der Freiburger katholisch-konservative Literat Gonzague de Reynold verglich die Wiese mit einer Kirche nach dem Gottesdienst, wenn die Gläubigen gegangen und die Kerzen erloschen sind, die Orgel schweigt und die Kirche einen „besonderen Resonanzkörper“ (S. 18) darstellt. Doch auch die mannigfachen bildlichen Darstellungen der schwörenden Eidgenossen waren Veränderungen ausgesetzt, die mit der politischen und historischen Instrumentalisierung des Stoffes einhergingen. Als Hochkonjunktur des Rütlimotives bezeichnet Kreis das 18. Jahrhundert mit seiner patriotischen Aufklärungspublizistik. Das Neujahrsblatt der Universität Zürich zeigte 1765 die drei Eidgenossen nicht stramm schwörend, sondern staatsmännisch gestikulierend und debattierend. Die Rütlieidgenossen waren keine Zusammenrottung revolutionärer Rebellen, sondern nahezu eine ordentliche Versammlung mündiger Staatsbürger. Das Schwurszenario war Symbol für die Eintracht, die einheitstiftende Prudentia und Concordia (Vorsicht und Einigkeit). Bereits im 16. Jahrhundert haben Künstler gemerkt, dass die Leistung der Eintracht an Qualität und Intensität gewinnt, wenn die Konkordanzteilnehmer zusätzliche Differenzierung erfahren. So wurde die Szene durch das Betonen des Altersunterschiedes der Schwörenden zu einem Sinnbild des Generationenvertrages. In der Rütlifeier von 1907 gebrauchte Bundespräsident Eduard Müller das Rütli, um Einheit in der politischen und föderalistischen Vielfalt der Eidgenossenschaft einzufordern. Er sagte: „Die Männer vom Rütli huldigten ja zweifellos nicht in allem den gleichen Anschauungen. Walter Fürst, Werner Stauffacher und Arnold Anderhalden werden in manch einer Hinsicht als verschiedene Typen dargestellt. Aber sie waren von einem Gedanken beherrscht etc.“ (S. 160)

In der Helvetik (Helvetische Revolution 1793–1798 und Helvetische Republik 1798–1802) war das Schwurmotiv zwar präsent, wesentlich populärer war aber die Gestalt des Wilhelm Tell. 4 Obwohl der Eidgenosse Tell und die drei Rütlieidgenossen zwei verschiedene Welten darstellen, liess sich Tell auf künstlerischen Darstellungen bereits Mitte des 16. Jahrhunderts problemlos unter die schwörenden Eidgenossen mischen und nahm sogar die zentrale Position ein (S. 161). Friedrich Schiller gelang es mit seinem „Wilhelm Tell“ (1804 in Weimar uraufgeführt), eine sinnvolle literarische Verbindung der beiden Teilgeschichten herzustellen. Schiller, der nie in der Schweiz gewesen war, gruppierte seine verschiedenen Szenen rund um den Vierwaldstättersee und schuf damit in der Schweiz eine literarische Realität, die stärker war als die Wirklichkeit. Mit seinem Drama verband er die „Einzelgeschichte“ des Tyrannenmörders Wilhelm Tell und die Gruppengeschichte der Schwurszene (auch bei Schiller findet der Rütli-Schwur der Eidgenossen ohne Tell statt; die Tyrannenmacht soll im Kollektiv gebrochen werden). Die Befreiungskriege von 1814 machten das Deutsche Publikum für „Wilhelm Tell“ besonders empfänglich, da das Drama zeigte, was selbst ein kleines Volk gegen einen Unterdrücker vermag, „wenn der allgemeine Wille des Volkes den Krieg macht“ – so eine Formulierung aus dem Jahre 1818 (S. 154).

In den 1930er-Jahren wurde das Rütli in den Dienst der „Geistigen Landesverteidigung“ genommen, um die Sympathien einiger politischer Gruppierungen mit dem NS-Gedankengut abzuwehren. Die drei Rütli-Eidgenossen des „Wilhelm Tell“ standen nun für die innere Geschlossenheit und den unbrechbaren Willen zur Unabhängigkeit. Doch „die gleiche Substanz“ – so Kreis – „die da damals an Stärkung von ‚Wilhelm Tell’ auf die Schweiz ausging, irritierte den Herrscher des ‚Dritten Reiches’ zutiefst. Hitler veranlasste im Juni 1941 ein Verbot des Stücks, das auch eine Entfernung von Buchausgaben aus Schülerbibliotheken und von Zitaten aus Schulbüchern anstrebte“ (S. 42f.).

Es ist wohl eine helvetische Besonderheit, dass das Rütli bis auf den heutigen Tag sakraler Hain und ein gewöhnlicher Bauernbetrieb zu gleich ist. 1858/59 wurde von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) eine nationale Sammlung durchgeführt, um die Wiese käuflich zu erwerben. Der Grund, den Dekan Friedrich Haefelin für den Kauf nannte, war einfach: Das Rütli sollte vor der „Profanisierung“ geschützt werden. 1860 übergab die Gesellschaft das Rütli dem Bundesrat als „unveräusserliches Nationalheiligtum“. Dieser gab es der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Verwaltung wieder zurück, die hierzu eine spezielle Rütlikommission einsetzte. Mit dem Kauf des Rütli war die moderne und noch junge Schweiz im Prozess des nation bulding zu einem identitätsstiftenden Ort gekommen, der fortan ihre Identität prägte. Wie virulent die drohende kommerzielle oder gar spleenige Nutzung des Rütli war, zeigte sich fünf Jahre später, als König Ludwig II. von Bayern – von einer Aufführung des „Wilhelm Tell“ in München entzückt – die Wiese kaufen wollte, um darauf ein Schloss errichten zu lassen (S. 109). Die Rütlikommission wachte seit 1860 über dieses kleine Flecken Land und verweigerte verschiedenen Gruppierungen die Nutzung. Es gehört in die Konsequenz des republikanischen Kleinstaates, dass das Rütli nie zum nationalen Pantheon erhoben wurde und „denkmalfrei“ blieb. Zwar wurde 1884 ein markantes Zwillingsdenkmal aus Gotthardgranit für den Dichter und Komponisten des Rütliliedes aufgestellt, dieses wurde jedoch 1967 wieder abgebaut – und entsorgt (S. 111). Das Rütli ist nicht nur ein „lieu de mémoire“ sondern gehörte seit dem 18. Jahrhundert in die Kategorie des „chef-lieu“ der Touristensprache. Es war ein Ort, den man auf seinem Tour d’Europe oder Tour de Suisse auf jeden Fall besichtigen sollte. Kreis weist darauf hin, dass man die Romantik und späte Romanisierung der Vergangenheit im Kontext der Moderne mit ihrem beschleunigten Wandel sehen muss. „Modernisierung, kann man sagen, erzeugt zwangsläufig Widersprüche und Spannungen, geht nicht ohne Konflikte ab. Zur Entschädigung dieser wird mit Rückgriffen auf die Geschichte Gemeinsamkeit und Gemeinschaft beschworen.“ (S. 105)

Die Studie vereint acht Beiträge (zwei davon stammen aus der Feder von Josef Wiget), die den Mythos des Rütli von verschiedener Seite be- und ausleuchten. Auch wenn die einzelnen Kapitel in sich geschlossene Texte darstellen, entsteht durch die Lektüre ein abgerundetes Gesamtbild, das es dem Leser überlässt, sein Rütli zu konstruieren.

Auf den am Schluss des Buches angebrachten Hinweis des Zürcher Literaturhistorikers Peter von Matt, der das vorliegende Werk akzentuiert als Untersuchung eines „Endspiels der Tradition“ bezeichnete, bemerkt Georg Kreis: „Es ist Endspiel jener Art, wie man beifügen kann, das sich in einem lange dauernden Endzustand befindet und wohl noch einige Zeit nicht zu Ende sein wird.“ (S. 187)

Anmerkungen:
1 Baedeker, Karl, Die Schweiz nebst den Angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol, in: Handbuch für Reisende, Leipzig 1893, S. 78.
2 Langejürgen, Ralf, Die Eidgenossenschaft zwischen Rütli und EWR. Der Versuch einer Neuorientierung der Schweizer Europapolitik, Chur 1993.
3 Der Tourismusverein wirbt heute noch mit folgendem Slogan: „Uterbäch Wallis – Rütli der Schweizer Frau“ (vgl. http://www.unterbaech.ch).
4 Zur Person und seiner Wirkung siehe u.a.: Frisch, Max, Wilhelm Tell für die Schule, Frankfurt am Main 1971; Bergier, Jean-François, Guillaume Tell, Paris 1988 (dt. 1990: Wilhelm Tell. Realität und Mythos).

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