B. Faulenbach u.a.: Zweierlei Geschichte

Titel
Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewußtsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland


Autor(en)
Faulenbach, Bernd; Leo, Annette; Weberskirch, Klaus
Erschienen
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Philipp Sternberg

Sonderlich originell ist der Titel nicht: "Zweierlei Geschichte" haben Bernd Faulenbach, Annette Leo und Klaus Weberskirch ihre gemeinsame Veröffentlichung genannt. Damit stehen sie in einer langen Reihe ähnlich klingender Titel, die den Ursachen der Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen auf den Grund gehen wollen. Aber es liegt wohl in der Natur der Sache, dass Autoren, die sich im Spannungsfeld der trennenden und verbindenden Elemente zwischen Ost und West bewegen, das "Zweierlei" oder das "Doppelte" herausstellen wollen.

Die Studie, kürzlich von Wolfgang Thierse im Kulturforum der Sozialdemokratie vorgestellt, ist zunächst einmal eine Fleißarbeit. Auf der Suche nach "Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland", so der Untertitel, führten die drei Herausgeber insgesamt 92 intensive Interviews mit Arbeitern in Dortmund, Bochum, Hennigsdorf bei Berlin und Frankfurt/Oder. Mit Hoesch in Dortmund und dem Stahlwerk Hennigsdorf wurden zwei "alte Industrien" gegenübergestellt, mit Nokia in Bochum und dem Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder zwei Firmen der neueren Elektronikbranche. Gefragt wurde unter Anderem nach der persönlichen Lebensgeschichte, der Erinnerung an bestimmte Daten wie der "Wende" 1989/90 oder dem Mauerbau 1961, dem Blick auf die Tradition der Arbeiterbewegung, der Bewertung des Nationalsozialismus und der identitätsstiftenden Rolle von Geschichte allgemein.

Die drei Historiker schaffen sich also ihre Quellen selbst - doch anders als beispielsweise Lutz Niethammer in den oral history-Projekten der 1980er wollen Faulenbach, Leo und Weberskirch nicht nur die persönlichen Ansichten und Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein dokumentieren, sondern auch mit vorgegebenen Kategorien interpretieren. Wie hängen persönliche Prägungen, biographische Brüche und die Bewertung historischer Prozesse miteinander zusammen?

Eine ehrgeizige Fragestellung, mit der die Autoren jedoch nur teilweise erfolgreich waren. Zu oft wiederholen sich auf den 465 Seiten ähnliche Aussagen, zu bemüht und teilweise banal wirkt der Zwang zur wissenschaftlichen Umschreibung der Zitatpassagen, dem die Autoren leider immer wieder erliegen. Dennoch ist das Buch stellenweise sehr spannend zu lesen: Der erste Teil stellt west-östliche "Parallelbiographien" vor, geteilt nach einem Generationsschema, das zwischen "Kriegsgeneration", "HJ/FDJ-Generation" und den Nachkriegsgenerationen der in den 1940ern und 1950ern Geborenen unterscheidet. Bei den Älteren, die den Krieg als Soldaten miterlebt haben, überwiegen hier die Gemeinsamkeiten, wogegen bei denjenigen, die durch den Wiederaufbau in zwei feindlichen Systemen geprägt wurden, die Gegensätze am stärksten sind.

Alarmierend sind zwei Ergebnisse der Studie: Sehr deutlich wird die Fixierung vieler gelernter DDR-Bürger auf Homogenität und Sicherheit, die ihnen oft wichtiger erscheinen als die Freiheiten einer demokratischen Gesellschaft. Der 1948 geborene Gerhard Ring drückt es so aus: "Früher wurde immer gesagt: Die DDR ist 'n Polizeistaat, überall wo man guckt sind Polizisten. Die Leute an sich war 'n aber geschützt und konnten den Polizisten auch auf der Straße ansprechen und der hat auch geholfen. Zur heutigen Zeit sieht die Freiheit der Menschen auch so aus, daß sie sich eben jegliche Freiheiten herausnehmen dürfen." Das parlamentarische System und die als übertrieben empfundene Konkurrenz zwischen den Parteien lehnen Ring und andere als zu kompliziert und unehrlich ab. Im Westen sind diese Erscheinungen nach fast 50jähriger Übung zwar selbstverständlich geworden - beunruhigend ist aber eine von fast allen Interviewpartnern vertretene Haltung, sich als Objekte staatlichen Handelns zu sehen, als Opfer nicht beeinflussbarer politisch-ökonomischer Prozesse. Das "autoritäre Erbe" (Thierse) der DDR und die gesamtdeutsche Abneigung gegen "die da oben" könnten so zu ernsthaften Problemen führen - eine sicherlich aktuelle Feststellung.

Fast schon überholt wirken dagegen andere Aussagen der bereits Mitte der 90er Jahre geführten Interviews - was kein Nachteil sein muss, betrachtet man diesen Band als Quellensammlung und historische Momentaufnahme. Annette Leo sieht hier sogar einen Vorteil: "Als wir die Interviews geführt haben, war die Auseinandersetzung zwischen Ost und West noch frischer, die Abgrenzung noch nicht so selbstverständlich wie heute."

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