Titel
Der Staat. Entstehung, Typen und Organisationsstadien


Autor(en)
Breuer, Stefan
Erschienen
Reinbek 1998: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
DM 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Schlak

Zum gesicherten Bestand wissenschaftlicher Aufklärung darf man zählen, daß der Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern die politische Ordnungsform beschreibt, die Europa sich in der frühen Neuzeit gegeben hat.
Daß unsere Vorstellungen von einem institutionell eingehegten Politischen nicht auf die Lebensformen vergangener Zeiten übertragen werden können, leuchtet uns auf den ersten Blick ein. Fremd mutet heute an, daß im 19. Jahrhundert mit relativer Unbekümmertheit politische Begriffe in ferne Epochen hineingelesen wurden. Auch in gelehrten Kreisen wurde mit großer Selbstverständlichkeit vom Staat der Polis oder vom Staat des Mittelalters gesprochen. Man befand sich im Zeichen begriffsgeschichtlicher Unschuld. Es provozierte kaum Widerspruch, daß die emphatischen Selbstbeschreibungen der modernen Welt verbindlichen Anspruch für die ganze Geschichte anmeldeten.
Erst Otto Brunners Land und Herrschaft (1939) zwang zu einer methodischen Reflexion, die zu einer grundlegenden Neubewertung des Mittelalters führte. Brunners Entdeckung der Relativität neuzeitlicher Begriffe fiel zusammen mit der Beseitigung des liberalen, bürgerlichen Verfassungsstaates durch die Nationalsozialisten. Brunner hat stets betont, daß es nicht Aufgabe des Historikers ist, antiquarisches Wissen zu vermitteln, sondern daß es ihm zukommt, in der Geschichte Tendenzen ausfindig zu machen, die auch noch die Gegenwart bestimmen. Heute irritiert zu Recht, in welchem Maß Brunner seine methodische Grundsatzfrage entwickelte aus der Konfrontation mit dem liberalen und bürgerlichen Rechtsstaat. Auch dem ideologiekritisch wenig geschärften Leser drängt sich die Vermutung auf, daß sich hinter seinem Bild des alteuropäischen Zusammenhanges die Sehnsucht nach Überwindung der Trennungen und Ausdifferenzierungen der modernen Gesellschaft stand.
An den grundlegenden begriffsgeschichtlichen Einsichten Brunners kommt die Geschichtswissenschaft aber kaum vorbei. Methodische Progressivität und weltanschauliche Liberalität müssen, wie zuletzt in der Debatte um die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus zur Genüge angemerkt wurde, eben nicht zwangsläufig miteinander verbunden sein. Seit Brunner wissen wir, daß das Mittelalter nicht mit der für die Moderne konstitutiven Unterscheidung von formalem Verfassungsstaat und liberaler Bürgergesellschaft beschreibbar ist. Der souveräne, das Politische monopolisierende Staat ist ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff.
Nun garantiert der Wissenschaftspluralismus, daß auch vom Erkenntnisfortschritt überholte Einsichten weiter tradiert werden. Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts fällt noch in so manches Lehrbuch der Geschichts- und Politikwissenschaft. In einem propädeutischen Buch über Entstehung, Typen und Organisationsstadien des Staates verläuft sich der Hamburger Soziologe Stefan Breuer in den großen Spuren Max Webers.
In Max Webers Soziologie hat der Staat einen geschichtlich-konkreten Sinn. Wenn Weber den Patrimonialstaat, Feudalstaat oder Ständestaat beschreibt, vermeidet er darum auch stets ideenpolitische Assoziationen, die sich aus einem Allgemeinbegriff ergeben würden. Der moderne Staat ist für Weber eine Manifestation des okzidentalen Rationalismus. In seinen staats-soziologischen Überlegungen unterscheidet Weber diesen auf bürokratischer Organisation beruhenden, vom Fachbeamtentum getragenden rationalen Anstaltsstaat grundlegend von Herrschaftsorganisationen vergangener Zeiten. Webers Definition des Staates korrespondiert mit der Allgemeinen Staatslehre, die dem Staat aus juristischer Sicht drei Kriterien zuschrieb: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. "Der Staat ist", schreibt der Großsoziologe in sei-nen letzten Lebensjahren, "diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines be-stimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht."
Für Breuer dagegen ist der Staat ein Idealtypus. An diesem Idealtypus werden die Herrschaftsorganisationen aller Kulturen und Perioden der Weltgeschichte, von Mesopotamien bis Maastricht, in einem kursorischen Überblick gemessen. Weicht nun eine individu-elle historische Erscheinung stark vom Typus ab, so wird dadurch für Breuer nicht die Aussagekraft der idealtypische Methode gemindert. Denn den "Zweck der idealtypischen Begriffsbildung" sieht Breuer mit Weber darin, "nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen." Wenn es Breuer aber vor allem darum geht, Abweichungen und Differenzen zu markieren, warum hält er dann an einem Allgemeinbegriff des Staates fest, der nie ganz frei von retrospektiven Sug-gestionen bleiben kann? Wollte sich vielleicht hier eine begriffsgeschichtlich recht fragwür-dige Methode mit der Zitationsautorität Max Webers gegen wissenschaftliche Kritik immuni-sieren?
Daß dem methodenbewußten Breuer die begriffsgeschichtlichen Lektionen entgangen sein könnten, scheint kaum vorstellbar. Hatte Breuer doch in seinen Büchern über die Konservative Revolution und das Dichterreich Stefan Georges in Anlehnung an den kürzlich verstorbenen Philosophen Panajotis Kondylis mit viel begriffsgeschichtlichem Feingefühl herausgearbeitet, daß die vom voluntaristischen und ästhetitizistischen Geist der Moderne infizierten Evokationen des Geheimen Deutschland nicht mit dem an den alteuropäischen Adel gebun-denen Weltanschauungsbegriff des Konservativismus zu fassen sind.
Wenn Breuer nun in seinem neuesten Buche die Verbindung von Begriff und konkreter, geschichtlicher Gestalt aufkündigt, dann aus einem einfachen Grunde. Nicht in der über das Gewaltmonopol gewonnenen Souveränität sieht Breuer das entscheidene Kriterium des modernen Staates, sondern in der Umstellung des Legitimitätsgrundes. "Daß der Staat die Durch-setzung seiner Anordnungen erzwingt und dies mittels legitimer physischer Gewalt tut," po-lemisiert Breuer gegen die herrschende Staatsrechtslehre, "gehört zum Begriff des Staates schlechthin und ist keine Besonderheit des modernen Staates." (161)
Ob Max Weber einfach zugestimmt hätte, wenn Legitimitätstypen auf Staaten übertragen werden, scheint zumindest fraglich. Breuer kennt einen charismatischen Staat für die Antike, einen traditionalen Staat für das Mittelalter und einen rationalen Staat für die Moderne. Die antike Polis und das mittelalterliche Reich sind für Breuer Staaten. Mit dieser bunten Vielfalt von Staaten wird dann wohl die babylonische Sprachverwirrung über den Staat nur neu gespeist werden.
So manch überraschende Erkenntnis kann man aus dem stilistisch locker geschriebenden Buch dennoch ziehen. Daß sich der Nationalsozialismus vom italienischen Faschismus nicht nur durch seinen genoziden Charakter unterschied, sondern vor allem durch seine Organisationsform, hat die inflationäre Formel des Faschismus bislang eher verdeckt. Breuer knüpft hier an Überlegungen sozialdemokratischer Emigranten an, die schon in den 30er Jahren dem Nationalsozialismus den Ehrentitel des Leviathan streitig machten.
Zum Ende des Buches drängt sich dem Rezensenten die Vermutung auf, daß es hier nicht um eine historische Rekonstruktion von Legitimitätstypen geht, sondern die Legitimität des Staates verteidigt werden soll. Eine Polemik ist stets eine gute Schreibhilfe. Und an Apologeten der selbstorganisierten Gesellschaft ist ja auch kein Mangel. Es sind ja beileibe nicht nur Konservative, die den Zerfall klassischer Staatssemantik diagnostiziert haben. Für die im Wissenschaftssystem in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Systemtheorie ist der Staat schon längst nicht mehr ein zentraler Handlungsfaktor der Politik, sondern nur noch die em-phatische Selbstbeschreibung des politischen Systems. L`état est mort. Für Breuer ist der Staat, wie er in den letzten Zeilen schreibt, auch entzaubert, aber noch lange nicht tot. Wer sollte denn sonst der Ökonomisierung des Politischen wehren?
An der Schwelle zur europäischen Moderne um 1800 wurde im aufgeklärten Preußen bei der Eindeutschung des Französischen Akademiewörterbuchs die Neuprägung contrerévolutionnaire mit Staatsfeind übersetzt. Wie so viele Grundbegriffe der modernen Welt geriet auch der Staat in der Sattelzeit (Koselleck) unter das Vorgebot der Revolution. Wer den Staat achte, heißt es einige Jahre später bei den Junghegelianern, muß revolutionär sein. Mit dem Staat meinte man hier natürlich nicht den abstrakten Staat sui generis, aber auch nicht den ganz konkreten preußischen Anstaltsstaat, sondern den wahren Vernunftstaat. In den ersten Jahren des langen 19. Jahrhunderts konvergierten die Wortfelder von Staat und Revolution. Erst un-ser Jahrhundert, das Zeitalter der Ideologien mit seinen revolutionären Bürgerkriegsparteien, ließ diesen Bezug vergessen.
Nun scheinen aber die geschichtsphilosophischen Erwartungen, die ein fortschrittsgläubiges 19. Jahrhundert auf den Staat legte, zurückzukehren. Die so oft beschriebene Neue Unübersichtlichkeit markiert sich nicht zuletzt in den vielen Legitimitätstiteln, mit denen einstmals erklärte Zivilgesellschaftler den Staat umkleiden. Längst schickt sich die Frage an den Intel-lektuellen, ob er den Staat liebe, und man kann hier viel Überraschendes von der Ästhetik des Staates hören, wenn auch beim familienbewußten Bundespräsidenten ein lebensweltliches Bekenntnis noch immer nicht auszuschließen ist. Das kälteste aller kalten Ungeheuer hat seinen Schrecken verloren. Unbehagen bereitet nicht die "Freiheitlich-demokratische Grundordnung", die schon seit geraumer Zeit nicht mehr kleingeschrieben wird, wohl aber die Beschleunigungen und Mobilmachungen der technisch-industriellen Welt. Nicht der stets prä-sente Repressionsapparat wird mehr gefürchtet, sondern die Raumverdränger des globalen Kapitals. Im feuilletonistischen Selbstgespräch ist der Staatsfeind so schon längst wieder der Industrielobbyist als Konterrevolutionär. Forsch fragte dann auch kürzlich eine Streitschrift gegen den Vulgärliberalismus: Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co.? Die neuentdeckte, linke Liebe zum Leviathan verwundert nicht, sind wir doch alle, wie Jürgen Habermas einmal feststellte, Zeitgenossen der Junghegelianer ge-blieben.
Zu den neuesten Wiederentdeckungen der linksliberalen Intelligenz der Bundesrepublik auf ihrem Wege westlicher Läuterung scheint die vom Wesen und Wert staatlicher Institutionen zu gehören. Daß dieser Gedanke begriffen werden konnte, ohne das junghegelianische Erbe zu verraten, eröffnet einem Stefan Breuers Gewaltmarsch durch die historischen Zeiten.

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