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Titel
Sachunterricht konkret. Geschichtsbezogenes Lernen im Sachunterricht


Herausgeber
Michalik, Kerstin
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Hasberg, Seminar für Geschichte und für Philosophie, Universität zu Köln

Geschichtsbezogenes Lernen lautet der Titel eines an Unterrichtspraktiker gerichteten Sammelbandes, den jüngst die Hamburger Sachunterrichtsdidaktikerin Michalik vorgelegt hat. Geschichtsbezogenes Lernen – der Titel macht den Geschichtsdidaktiker stutzig: Was hat er unter auf Geschichte bezogenem Lernen zu verstehen?

Im einleitenden Kapitel klärt ihn die Herausgeberin auf. Denn in der Überschrift dieses Abschnitts weicht das „geschichtsbezogene“ kommentarlos dem „historischen“ Lernen. Geschichtsbezogenes und historisches Lernen sind offenkundig Synonyme. Nach dem Lamento über die Nichtberücksichtigung des Sachunterrichts in der geschichtsdidaktischen Literatur zwischen 1980-1995 wird ein weiteres Mal die Verfrühungsthese zurückgewiesen, die sich aufgrund neuerer entwicklungspsychologischer Einsichten zum bereichspezifischen Lernen nicht halten lasse und zudem nicht den Postulaten der an der Förderung reflektierten Geschichtsbewusstseins ausgerichteten Geschichtsdidaktik entspreche. Über die Einsicht, dass deren Forderung in den existierenden Lehrplänen für den Sachunterricht kaum Berücksichtigung fänden, werden neue Inhalte und Formen des historischen Lernens im Sachunterricht, gar ein „Profil eines neuen Kanons historischen Lernens“ (S. 21) vorgeschlagen. Insgesamt gehen die Vorschläge allerdings nicht über das in der Geschichtsdidaktik Etablierte hinaus. Ganz so neu und innovativ ist der von Michalik propagierte „Ansatz […], historisches Lernen auf aktuelle gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen aus dem Erfahrungshorizont von Grundschulkindern zu beziehen“ (S. 22), eben nicht. Seine geschichtstheoretische Geltung ist längst unumstritten und in verschiedensten Schattierungen der Geschichtsdidaktik allgegenwärtig. Solche Verzerrungen in der wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung bleiben auch angesichts der anvisierten Leserschaft ärgerlich.

Dass der Sachunterricht sich ausweislich der Lehrpläne „weitgehend noch in den Bahnen der traditionellen Heimatkunde“ bewege (S. 11), kann derjenige nicht nachvollziehen, der das Spranger’sche Konzept der Heimatkunde und die (natur-) wissenschaftliche Mutation des Heimat- zum Sachkundeunterricht im Laufe der 1970er-Jahre kennt.

Dass Zeit- und Geschichtsbewusstsein nicht in einem rein konsekutiven Verhältnis stehen, wird heute niemand mehr bestreiten. Dass dennoch das Eine das Andere bedingt, ebenso wenig. Dem wird auch im Pandel’schen Konzept des Geschichtsbewusstseins Rechnung getragen, dem Michalik sich ohne Begründung anschließt, ohne alternative Modelle zur Kenntnis zu nehmen.

Dass die Verfrühungsthese, die besagt, vor Abschluss der Adoleszenz sei historisches Denken im strengen Sinne nicht möglich, durch H. Roths Schrift von 1955 befestigt wurde, ist zweifellos richtig. Nur der Begründer derselben ist er nicht. Wie sonst hätte H. Ebeling sie bereits in die erste Auflage seiner Methodik aufnehmen können und nicht erst in die auf der Stufenlehre Roths aufbauenden späteren Auflagen. Es ist nicht einmal Roths zweifelhaftes Verdienst, die Verfrühungstheorie empirisch unterfüttert zu haben – dies hatte bereits K. Sonntag in seiner Untersuchung von 1933 getan.

Schließlich ist zu bezweifeln, dass die Geschichtsdidaktik nach 1980, nunmehr auf J. Piagets gestützt, die Verfrühungsthese aufrechterhalten habe. Der Niederschlag, den Piagets Lehre in J. Rohlfes’ Kompendium gefunden hat, ist dafür allein kein Beleg. Wo an der Verfrühungsthese in modifizierter Form festgehalten wird (z.B. H.-J. Pandel), ist die Begründung eine andere: nämlich neue empirische Befunde.

Die Abstinenz der Geschichtsdidaktik gegenüber dem historischen Lernen im Sachunterricht scheint nach 1970 nicht auf entwicklungspsychologische Vorbehalte zu beruhen, sondern darin begründet zu liegen, dass die Disziplin sich im Rahmen ihres Paradigmawechsels und der darauf folgenden Neukonstitution vornehmlich theoretischen Fragen zuwandte. Dass dabei Aspekte des historischen Lernens im Sachunterricht zu keinem Zeitpunkt völlig ausgeblendet wurden, belegen Aufsätze (H. Günther-Arndt, J. Huhn u.a.), welche die Verfasserin zum Teil in ihr Literaturverzeichnis aufgenommen hat.

Dass das historische Lernen im Sachunterricht trotz allem einer neuen Leitlinie bedarf, die dem ganzheitlichen Anspruch des Unterrichtsfachs gerecht wird und gleichzeitig eine Vorstufe des Geschichtsunterrichts in den Sekundarstufen sein kann, dürfte nicht strittig sein. Konsens dürfte auch darüber erzielbar sein, dass eine stärkere Anlehnung an die im Sachunterricht gebündelten Fächer und ihre didaktischen Anteile dazu nützlich ist. Was aber heißt es, wenn Michalik betont, historisches Lernen zeichne sich „durch ganz spezifische Lernpotenziale und Erkenntnischancen aus, die nicht durch andere Lerngegenstände ersetzt werden können“? (S. 17) Unberücksichtigt bleibt dabei der Umstand, dass historisches Lernen im Fächerverbund Sachunterricht primär als Prinzip oder Perspektive auftritt.

Hier liegt ein grundsätzliches Missverständnis, das nicht nur die konzeptionelle Einleitung, sondern weite Teile des Bandes durchzieht: Geschichte ist kein re-konstruierbarer Sachverhalt, der als vergangene Wirklichkeit erfahren werden kann (S. 20). Geschichte ist Konstrukt. Historisches Lernen heißt, diesen Konstruktcharakter zu erfassen, um die durch Geschichte beschriebene vergangene Wirklichkeit und die daraus entfließenden Sinnbildungsangebote in ihrer Fragilität erfassen zu können. Dazu bedarf es der Beherrschung entsprechender Methoden (besser: fachspezifischer Arbeitsweisen). Während „die Förderung arbeitsmethodischer Kompetenzen“ als ein „wesentliches Element historischen Lernens“ propagiert wird, bleibt unerkundet, in welchem Verhältnis die zu vermittelnden fachspezifischen Arbeitsweisen zu den zu vermittelnden fachspezifischen Erkenntnissen stehen. Methoden besitzen immer nur instrumentellen Charakter. Insofern der Methodenorientierung laut Einleitung bei der Neukonstituierung erhebliches Gewicht zugemessen wird, muss es als ein konzeptioneller Makel erscheinen, dass dieser Aspekt keine stärkere Ausdifferenzierung findet, etwa in Hinsicht auf die Methodenkompetenzen allgemeinerer Art (z.B. Informationsbeschaffung etc.), die im Integrationsfach Sachunterricht ihre eigene Berechtigung haben und in den nachfolgenden unterrichtspraktischen Artikeln eine nachhaltige Rolle spielen.

Eine konsistente Basis, auf der diese Abschnitte hätten aufbauen können, wird durch die Einleitung also nicht gelegt. Was in dieser als Vorzug gepriesen wird, erweist sich bei der Lektüre durchaus als Nachteil. Denn weder an der Einleitung orientieren sich die insgesamt 12 unterrichtspraktischen Beispiele, die in ihrer Mehrzahl auf durchgeführten Unterricht zurückgehen, noch findet die geschichtsdidaktische Literatur ausweislich der Anmerklungen und Literaturhinweise nachhaltige Berücksichtigung. Legt man den in der Geschichtsdidaktik gängigen Lernbegriff (vgl. K.-E. Jeismann, J. Rüsen) zugrunde, befassen sich einige Beiträge nicht einmal mit historischem Lernen. Informationen werden in den überaus meisten Unterrichtsvorschlägen durch darstellende Medien – bis hin zur Geschichtserzählung (S. 112) – vermittelt. Wo bspw. oral history zur Anwendung kommt, dient auch sie allein der Informationsvermittlung. Hochgesteckte Ziele können gelegentlich durch den Unterrichtsvorschlag nicht realisiert werden (vgl. S. 43, 52). Operationen historischen Lernens spielen in ihnen eine untergeordnete Rolle. Es ist wie so häufig in unterrichtspraktischen Publikationen: durchgeführter Unterricht wird in rezeptologischer Manier zur Nachahmung empfohlen, vom konkreten Unterrichts abstrahierende Hinweise finden sich selten oder wenn, dann in normativem Duktus. Ausgenommen werden müssen von allen diesen Vorwürfen die beiden von Geschichtsdidaktikern verfassten Abschnitte. Insgesamt aber – sollen die negativen Züge des für den Praktiker in vielerlei Hinsicht anregenden Buches nicht überbetont werden – ist das in der Einleitung explizierte Ziel, Sachunterrichts- und Geschichtsdidaktik ins Gespräch zu bringen, noch nicht recht gelungen. Mag in den vorliegenden Bänden zum historischen Lernen im Sachunterricht (Reeken, Schreiber, Bergmann/Rohrbacher) der geschichtswissenschaftliche Aspekte allzu dominant im Vordergrund stehen – hier ist das Gegenteil der Fall!

Nicht zuletzt daran, dass die Synthese noch nicht recht gelungen ist, zeigt sich, dass die Überlegungen zum historischen Lernen im Sachunterricht noch nicht allzu weit gediehen sind. Weder die Herausgeberin noch einzelne Autoren scheinen eine dezidierte Vorstellung dazu zu besitzen. Doch: Wir wissen insgesamt noch allzu wenig über das historische Lernen, über seine Genese vor allem. Weder darüber wie Kinder historisch denken, noch ob das kindliche historische Denken mit den erkenntnistheoretisch ausgerichteten Entwürfen der Geschichtsdidaktik kompatibel ist, existieren forschungsbasierte Aussagen. Das allerdings wäre Voraussetzung für eine adressatengerechte Elementarisierung des historischen Erkenntnisprozesses – aber auch für die Einführung in fachspezifische Arbeitsweisen als Instrumente historischen Denken. Da in beiden Fragen die Forschung noch am Anfang steht bzw. eine gediegene Synthese der vorliegenden Ansätze nicht zur Verfügung steht, bleibt einstweilen im Dunkeln, in welcher Weise das historische Lernen im Primarbereich Voraussetzung und Grundlegung historischen Lernens im Sekundärbereich sein kann. Wenn es nicht um historisches Lernen an sich, sondern um historisches Lernen im Handlungszusammenhang Unterricht geht, dann empfiehlt sich, diesen Zusammenhang näher zu beleuchten, historisches Lernen gezielt in den Kontext des Sachunterrichts einzubetten, nicht zuletzt seine Kompatibilität mit dem Perspektivrahmen Sachunterricht zu überprüfen, der in den einzelnen Beiträge der vorliegenden Publikation weitgehend kritiklos als Richtschnur dient. Auf dieser vergleichsweise fundamentalen Ebene muss angesetzt werden, um Sachunterrichts- und Geschichtsdidaktik zusammenzuführen. Das konnte im Rahmen eines praxisorientierten Bandes schwerlich gelingen.

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