R. Ohliger u.a. (Hgg.): European Encounters

Cover
Titel
European Encounters. Migrants, migration and European societies since 1945


Herausgeber
Ohliger, Rainer; Schönwälder, Karen; Triadafilopoulos,Triadafilos
Reihe
Research in Migration and Ethnic Relations Series
Erschienen
Aldershot 2003: Ashgate
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
$ 89.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Pfau, Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig Email:

Einem weiterem Sammelband gegenüber, der sich mit der europäischen Migration seit 1945 beschäftigt, scheint Skepsis geboten zu sein. Ist doch dieses Feld nicht nur im Überblick vor allem in den 1990er Jahren schon relativ gut beforscht worden 1. Der vorliegende Band kann sich aber sehr wohl durch neue zeithistorische Zugänge und Erkenntnisse profilieren. Erstens greifen viele der Autorinnen und Autoren auf neue Archivalien zurück, entweder solche, die aus Fristgründen erst jüngst freigegeben wurden oder solche, die aus bisher in der Migrationsforschung nicht oder wenig genutzten Archiven stammen. Zweitens finden sich in dem Band eine Reihe von Studien vor allem zu osteuropäischen Ländern und ihren jeweiligen Migrantinnen und Migranten, die bisher auf der Agenda der migrationshistoriographischen Auseinandersetzung kaum zu finden waren. Drittens wird methodisch, zielend auf eine europäische integrierte Migrationsgeschichte, in vielen Fällen eine vergleichende Perspektive gewählt. Viertens sind die meisten Beiträge explizit und oder implizit genderorientiert. Der Einleitung, welche die Hauptformen der europäischen Migration nach 1945 und das wissenschaftliche Programm des Buches aufführt, folgen drei thematische Blöcke. Diese Dreiteilung des Bandes in die Bereiche Migrationserfahrung, Migration als soziopolitische Herausforderung und Migration und Identität mag an sich sinnvoll sein, wird aber vor allem im ersten Teile kaum von den entsprechenden Aufsätzen gestützt.

Der erste Teil des Bandes beschreibt nämlich neben ‚Erfahrungen’, vor allem staatliche Strategien bezüglich Migration, wenn sich zum Beispiel Rainer Ohliger und C?t?lin Turliuc mit der nationalen Homogenisierung durch „ethnische Entmischung“ durch gezielte und teilweise brutalisierte Bevölkerungs- und Migrationspolitik beschäftigen. Vertieft untersucht wird dieser Prozess am Bespiel von Deutschen und Juden, über Jahre die größten Minderheiten in Rumänien. Auf der Basis neu zugänglicher Akten bringen Anne von Oswald, Karen Schönwälder und Barbara Sonnenberger eine Reihe vermeintlich gesicherter Wissensbestände über Deutschland als Einwanderungsland für „Gastarbeiter“ zu Fall. Aber auch hier steht die „Erfahrung“ nicht im Vordergrund. War die dominante wissenschaftliche Wahrnehmung bisher die, dass ein relativ mächtiger, aber jenseits der Frage des Arbeitskräftebedarfs wenig planvoller Staat technokratisch reaktiv den weitgehend ohnmächtigen Migrantinnen und Migranten gegenüberstand, so differenziert die Autorinnengruppen auf beiden Seiten. So erkennt sie zum Beispiel in der faktischen Nichtimplementierung des Rotationsprinzips für „Gastarbeiter“ einen Ansatz differenzierterer Migrationspolitik. Auf der Seite der migrantischen Arbeitskräfte vergrößerten Vertragsbrüche, Jobwechsel, wilde Streiks etc., die Handlungsspielräume. Auch das Bild des jungen männlichen Arbeitsmigranten hält der empirischen Prüfung nur bedingt stand. ‚Er’ war im Schnitt wesentlich älter als heute angenommen wird und ‚sie’ kam nicht vor allem im Rahmen des Familiennachzugs, sondern stellte 1973 fast jede dritte migrantische Arbeitskraft. An diese Befunde schließen Umut Erel und Elenore Kofman an, wenn sie einerseits generell die Gender-Blindheit in weiten Teilen der Migrationsforschung kritisieren und ebenfalls das Klischee der niedrigqualifizierten migrantischen Arbeiterin zurückweisen, wenn sie einfordern, dass Beschäftigung in einem patriarchal und ethnifiziert organisierten Arbeitsmarkt nicht mit tatsächlicher Qualifikation verwechselt werden dürfe. In ihrer vergleichenden Fallstudie über zwei Frauen in Großbritannien und in Deutschland zeigen sie darüber hinaus, wie Migrationsbedingungen die Wege in qualifizierte Beschäftigung verstellen oder begünstigen. Vertiefend kann hierzu auch der Aufsatz von Esra Erdem und Monika Mattes (aus dem zweiten Teil des Buches) gelesen werden, in dem argumentiert wird, dass der Arbeitskräftemängel der Nachkriegszeit die gender-spezifische Segmentierung des westdeutschen Arbeitsmarktes ‚gefährdet’ hätte und bis zum Anwerbestopp 1973 Migrantinnen hier stabilisierend eingesetzt wurden. Durch einen Vergleich des westeuropäischen Wanderungsgeschehens mit dem Estlands kommt Hill Kulu zu interessanten Ergebnissen. Wie die meisten europäischen Regionen, so war auch der baltische Raum lange Ausgangsregion von Migration. Und wie die Staaten Nord- und Westeuropas nach 1945 Zielländer der binneneuropäischen Arbeitsmigration wurden, so entwickelte sich Estland zum Ziel von binnensowjetischer Wanderung, teilweise bedingt durch ein erhebliches Wohlstandsgefälle.

Der zweite Teil des Bandes versammelt Beiträge, die sich expliziter mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Migration beschäftigen, indem zum Beispiel Wim Willems aus dem Fall Niederlande grundsätzliche Mechanismen strukturell verfehlter staatlicher Migrationspolitik ableitet oder Hallvard Tjelmeland nachzeichnet, wie die norwegische Gesellschaft ab den späten 1960er Jahren ihre kulturelle Homogenität und ihre sozialen Standards durch eine geringe Migration aus Pakistan gefährdet sah. Dieses Gefährdungsgefühl entdeckt Damir Skenderovic in der Schweiz schon seit der Zeit der 1920er Jahre, ein Paradox bildend zu der Tatsache, dass die Schweiz oft als Prototyp einer erfolgreichen multikulturellen Gesellschaft angeführt wird. Skenderovic führt dies unter anderem darauf zurück, dass es grade ein statisches Kulturverständnis ist, in welchem ‚andere’ als getrennt und ebenfalls statisch betrachte Kulturen Gefahren der „Überfremdung“ bergen würden. Die Konjunktur eines Diskurses über „engineered ethnic unmixing“ betrachtend, untersucht Triadafilos Triadafilopoulos die beiden bezüglich der Aufnahme als vorbildlich geltenden Beispiele: die Bevölkerungstransfers nach Griechenland in den 1920er Jahre und nach Deutschland nach 1945. Der genauere Blick zeigt in beiden Fällen Desintegration und politische Radikalisierung, was im Falle Griechenlands zu einem erheblichen Destabilisierungsfaktor werden sollte.

Der dritte Teil des Bandes beschäftigt sich mit der Konstitution von kollektiven Identitäten im Kontext migrantischer Communities. Die Autorinnen und Autoren dieses Teils gehen dabei zum einen der Frage nach der Identitätskonstitution unter den Migrantinnen und Migranten selbst nach, zum anderen loten sie aus, wie in Prozessen von Ex- und Inklusion das Verhältnis von migrantischen Communities und Mehrheitsgesellschaft ausgestaltet wird. Das Spektrum der untersuchten Fälle reicht hier von den Narrativen und der Integration der deutschen Vertriebenen über die Exilerfahrung der albanischen Nachkriegsmigration zur vergleichenden Untersuchung der portugiesischen Communities in Frankreich und Deutschland. Volodymyr Kulyk untersucht in diesem Bereich die, im Gegensatz zum Beispiel der intensiv beforschten jüdischen Displaced Persons, bisher kaum wahrgenommenen ukrainischen DPs im Deutschland und Österreich der Nachkriegsjahre. Trotz ihrer Verstreutheit über viele Camps und trotz eines Spektrums, dass von Zwangsarbeitern und kriegsgefangenen Rotarmisten bis zu Nazikollaborateuren reichte, konnte hier anfangs eine quasistaatliche relativ geschlossene antisowjetische Exil-Community geschaffen werden, die dann allerdings vor allem im Prozess der Weitermigration in verschiedene Staaten ihre Bindekraft verlor. Über diesen konkreten Fall hinausweisend scheint dabei der Ansatz, Flüchtlingslager als Orte verdichteter Identitätsdiskurse zu untersuchen. Laure Teulières geht in ihrem Beitrag davon aus, dass soziale Integration von Migrantinnen und Migranten nur funktioniert, wo diese Zugang zum und Repräsentanz im kollektiven Gedächtnis der Aufnahmegesellschaft finden. Am Beispiel Frankreich zeichnet sie nach, dass zwar nicht die Immigration selbst, wohl aber Differenzerfahrung und abweichende kulturelle Hintergründe über lange Zeit als Störfaktoren im Prozess nationaler Vereinheitlichung gesehen wurden und wie erst in den letzten Jahren die ‚Differenzerfahrung’ der Zugezogenen schmale Zugänge in institutionelle Formen des kollektiven nationalen Erinnerns gefunden haben.

Der Band überzeugt insgesamt durch die Auswahl und Qualität seiner Einzelbeiträge und lässt auch ein deutliches Interesse der Autorinnen und Autoren an ähnlichen Fragestellungen erkennen. Zu kritisieren bleibt allerdings die Tatsache, dass einige der Beiträge sehr deskriptiv und wenig analytisch sind, egal ob Zahlen oder Diskursfiguren zusammengetragen werden. Aufgrund der Forschungsfortschritte und des im Vergleich zu anderen Studien gewachsenen zeitlichen Abstands zum Zäsurjahr 1945 hätte in dem Band, auch in der weitergehenden Deutung und Historisierung der Phase ‚Migration seit 1945’, mehr gewagt werden können.

Anmerkung:
1 Marrus, Michael R., The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century, New York u.a. 1985. Fassmann, Heinz; Münz, Rainer (Hgg.), Migration in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Trends, politische Reaktionen, Frankfurt/New York 1996. Hoerder, Dirk; Moch, Leslie P. (Hgg.), European Migrants. Global and Local Perspectives, Bosten, 1996. Sassen, Saskia, Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa, Frankfurt am Main 1996. Angenendt, Steffen (Hgg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft, Bonn 1997. Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.

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