E. Scherstjanoi: Rotarmisten schreiben aus Deutschland

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Titel
Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen


Autor(en)
Scherstjanoi, Elke
Reihe
Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 14
Erschienen
München 2004: K.G. Saur
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Th. Müller, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt, Hamburger Institut für Sozialforschung

Das Aufeinandertreffen von sowjetischem Militär und deutscher Bevölkerung am Ende des Zweiten Weltkrieges stellt nach wie vor eines der schwierigsten Kapitel in der Geschichte der deutsch-sowjetischen/russischen Beziehungen dar. Das Verhalten der Rotarmisten bei der Eroberung und Besetzung deutschen Territoriums ist dabei bis heute Gegenstand von – meist negativen – Verabsolutierungen oder Tabuisierungen. Der von Elke Scherstjanoi herausgegebene Quellen- und Studienband beschreitet daher in der deutschsprachigen Historiografie bislang unerforschtes Terrain. Erstmals werden dem deutschen Leser anhand sowjetischer Quellen Einblicke in die Wahrnehmungen, Haltungen und Handlungen sowjetischer Militärangehöriger sowie deren Bewertung durch die militärische Führung der UdSSR gegeben.

Die zunächst eigenartig anmutende Kombination von Quellenedition und Aufsatzsammlung erweist sich bei näherer Betrachtung als Vorteil, bieten die Aufsätze zwölf deutscher und russischer Autoren doch die für das Verständnis der Edition notwendige Analyse des militär- und mentalitätsgeschichtlichen Kontextes.

Die Edition setzt sich aus 161 Briefen von 85 sowjetischen Soldaten sowie zahlreichen Dokumenten der sowjetischen politischen und militärischen Führung zusammen. Die Aussagekraft der edierten Briefe über Mentalität und insbesondere das Deutschland- und Deutschenbild in der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als eher begrenzt. Das hängt zum einen mit den fehlenden bzw. nicht zugänglichen Daten über die Zusammensetzung der 1945 in Deutschland eingesetzten sowjetischen Verbände und zum anderen mit den – geheimhaltungs- und zensurbedingt – sehr lückenhaften Angaben über die Verfasser der publizierten Feldpostbriefe hinsichtlich Alter, Bildung, Dienstgrad, Waffengattung, Einheit etc. zusammen. Ein Quota-Verfahren, bei dem die zu untersuchende Stichprobe entsprechend der Merkmalsverteilung der Grundgesamtheit zugeschnitten wird, war somit nicht möglich. Die Briefauswahl konnte daher, wie die Herausgeberin hervorhebt, auch nicht statistisch repräsentativ sein. Mehr noch, aufgrund der nur lückenhaften Informationen über die Briefverfasser ist es letztlich nicht einmal möglich, sichere Aussagen über die Ausprägung verschiedener Topoi des Deutschland- und Deutschenbildes bei verschiedenen Gruppen von Rotarmisten im Sinne eines theoretical samplings zu machen. So besteht das Verdienst der Briefedition im Wesentlichen darin, überhaupt Einblicke in die unterschiedlichen Facetten des Selbst- und Deutschlandbildes der Angehörigen der Roten Armee und die damit nicht zuletzt verbundenen Rechtfertigungen eigenen Handelns zu geben.

Deutlich aufschlussreicher sind demgegenüber die publizierten Dokumente der politischen und militärischen Führung der UdSSR, die zum einen repressive Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung anordnete und das Beutemachen sanktionierte, andererseits aber zutiefst besorgt war über den grassierenden Disziplinverfall in der Roten Armee nach Überschreiten der deutschen Grenze. Besonders deutlich wird dies anhand des Vortrages des Chefs der Politischen Verwaltung der 2. Belorussischen Front Generalleutnant Okorkov vom 6. Februar 1945, der ausgehend von den Disziplinproblemen der Roten Armee konstatierte: „Wenn sich in einer Armee massenhaft Trunksucht, Randale, Unbotmäßigkeit unterer Dienstgrade gegenüber den höherem breitmachen, so ist nicht anzunehmen, dass diese Armee noch kampffähig ist. Die Geschichte kennt viele Fälle, wo siegreiche Truppen beim Betreten des gegnerischen Territoriums alle Disziplin verloren und nicht mehr die Truppen waren, die sie vor der Einnahme des Territoriums des Feindes waren.“ Daraus zog er die Schlussfolgerung: „Für die Politverwaltung der Front gibt es heute keine verantwortungsvollere Aufgabe als die Herstellung der Ordnung in der Truppe durch mündliche und schriftliche Propaganda, als die Ergreifung entschiedener Maßnahmen auf der Linie der Parteiorganisation, des Gerichtswesens und so weiter.“ (S. 60)

Als besonders problematisch erwies sich dabei die Kanalisierung des in beinahe vier harten Kriegsjahren aufgestauten Hasses auf den Feind. Die sowjetische Propaganda stand nun vor dem Problem, den Rotarmisten nahe zu bringen, dass es einen Unterschied zwischen Deutschen und Faschisten gebe und die bis dato propagierte „Rache“ lediglich auf die Vernichtung des Gegners auf dem Schlachtfeld zu begrenzen sei. Die Direktiven zum besseren Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen stießen daher in Teilen der Truppe auf Unverständnis und Ablehnung. Auf diese Problematik wird auch in den anschließenden Aufsätzen immer wieder Bezug genommen.

Zunächst geht Elke Scherstjanoi in ihrem „Wir sind in der Höhle der Bestie“ überschriebenen Aufsatz auf die Topoi, Selbstdarstellungen und Tabus in der Briefkommunikation von Rotarmisten mit der Heimat über ihre Erlebnisse in Deutschland ein. Im Anschluss daran zeichnet Kurt Arlt den Kriegsverlauf an der Ostfront und seine Auswirkungen auf Motivation und Stimmung in der Roten Armee nach. Die Erfahrung eines von beiden Seiten äußerst hart und rücksichtslos geführten Vernichtungskrieges gepaart mit der bis 1945 fortgesetzten Hasspropaganda führte zu einer Brutalisierung und Verrohung der Truppe, die beim Zusammentreffen mit der deutschen Bevölkerung in massive Übergriffe mündete. Diese sind, wie Arlt zu Recht hervorhebt, bis heute in der deutsch-russischen Geschichtsschreibung kaum aufgearbeitet und werden „in Rußland nach wie vor weitgehend verschwiegen und verdrängt“ (S. 241).

Dem sich wandelnden Bild von Deutschland und den Deutschen in den Augen sowjetischer Soldaten und Offiziere widmet sich explizit der Beitrag von Elena S. Senjarskaja. Sie verweist auf die anfänglichen Illusionen hinsichtlich der „deutschen Klassenbrüder in Wehrmachtsuniform“, die nach den bitteren Erfahrungen des Jahres 1941 dem „national gefärbten Abbild vom Deutschen als Faschisten“ (S. 250f.) wichen. Anschaulich zeigt die Autorin, wie das aus den Berichten über deutsche Verbrechen und der Erfahrung eigenen Leidens resultierende Bedürfnis nach Vergeltung zur Grundlage der politischen Arbeit der Roten Armee während des Krieges wurde.

Thematisch unmittelbar daran knüpft der Aufsatz von Aleksandr V. Perepelicyn und Natalja P. Timofeeva über das Deutschenbild in der sowjetischen Militärpropaganda an. Nachdem anfänglich noch zwischen deutschem Volk und faschistischen Herrschern differenziert worden war, dominierte schon bald die pauschale Darstellung „der Deutschen“ als „Faschisten“, als „wilde, tollwütige Tiere“ (S. 271). Anders als in manchen Erfahrungsberichten sowjetischer Kriegsteilnehmer, die die Wehrmacht als „sehr starken Gegner“ (S. 252) schildern, wurden die deutschen Soldaten in der Propaganda als „dumpfe Menschenmasse“ (S. 270) dargestellt, ein Topos, der nicht nur Ähnlichkeiten mit den zeitgenössischen deutschen Stereotypen über die Rote Armee aufweist, sondern bis weit nach 1945 im Genre des Partisanenfilms gepflegt wurde.

Die Aufsätze von Bernhard Fisch und Bernd Gottberg nehmen einen Perspektivwechsel vor. Fisch betrachtet die Instrumentalisierung und Verfälschung der Erschießung deutscher Zivilisten in Nemmersdorf im Oktober 1944 durch die NS-Propaganda, während Gottberg die Beurteilung der Kampfmoral der sowjetischen Streitkräfte durch die Aufklärungsstrukturen der Wehrmacht darstellt. Carola Tischler zeichnet die Hintergründe der Kontroverse um Ilja Erenburgs Rolle in der sowjetischen Kriegspropaganda nach. Der äußerst gelungene Beitrag von Christel und Klaus-Alexander Panzig zeigt anhand von Zeitzeugenbefragungen sehr plastisch die möglichen Verläufe der ersten Begegnungen zwischen deutscher Bevölkerung und sowjetischen Soldaten.

Den Abschluss des Bandes bilden die Beiträge von Jan Foitzik über kriegsvölkerrechtliche Aspekte der sowjetischen Besetzung Ost- und Mitteldeutschlands sowie von Ljudmila A. Mercalova und Andrei N. Mercalov über die Ergebnisse und Defizite der sowjetischen und postsowjetischen Geschichtsschreibung zum Thema Rote Armee und deutsche Zivilbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkrieges. Abgerundet wird der vorliegende Band durch eine von Christiane Künzel zusammengestellte Auswahlbibliografie zu methodologischen Problemen der Feldpostforschung und den verschiedenen inhaltlichen Aspekten der Beiträge.

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