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Titel
Europa-Lexikon. Länder, Politik, Institutionen


Autor(en)
Gruner, Wolf D.; Woyke, Wichard
Reihe
Beck'sche Reihe 1506
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
505 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Friedrich, Potsdam

„Europa-Lexikon. Länder, Politik, Institutionen“ – nach spannender Lektüre und reichem Wissenszuwachs klingt der Titel dieses von Wolf D. Gruner und Wichard Woyke vorgelegten Werkes nicht gerade. Viele Bücher sind in den letzten Jahren zu diesem Themenbereich erschienen. Doch wer sich an die eng bedruckten Seiten heranwagt, findet hier einen kompakten Überblick zur europäischen Geschichte und Kultur, zur Idee der Integration des Kontinents und ihrer Realisierung, zu den Ländern Europas und seinen wichtigsten Institutionen.

Ein Hauptanliegen des Werkes ist der Nachweis, dass Europa mehr ist als die heutige Europäische Union und ihre Geschichte nach 1945. Einen Eindruck von jenen früheren Zeiten vermittelt ein Artikel zur Geschichte (S. 11-47). Weitere einführende Kapitel behandeln den „Raum Europa“ (S. 48-59), Politik und Gesellschaft (S. 60-64), Wirtschaft und Recht (S. 65-69) sowie das Verhältnis von Bund, Ländern und Europa (S. 70-76). Schon in diesen Überblicksartikeln erreichen die Autoren ihr Ziel auf eindrucksvolle Weise.

Beginnend beim antiken Mythos der von Zeus verschleppten Europa beschreiben sie die Entwicklung des Kulturraumes Europa und die verschiedenen Ansätze, diesen zu vereinen. Europa war dabei stets mehr als eine klar begrenzte geografische Region. Religion, gemeinsame Werte und ein gewisses Überlegenheitsgefühl einten den „Königskontinent“ (S. 19) und machten ihn schließlich zum „Nabel der Welt“ (S. 21). Die Abgrenzung nach außen und damit letztlich auch die Selbstdefinition erfolgte über die kulturelle Variable, d.h. „die Zusammenpressung eines geistigen Gehalts in einen rein geographischen Rahmen“ (Eugen Rosenstock, zitiert auf S. 50).

In der Tradition früherer Utopien sehen Gruner und Woyke auch die heutigen europäischen Institutionen: Neben dem schieren Überleben sprach nach den Kriegsjahren besonders der Wunsch nach Frieden und Sicherheit für eine Integration des Kontinents, die schließlich schrittweise institutionalisiert wurde. Für die Zukunft sind die Autoren optimistisch: „Das historische und kulturelle Europa war über die Jahrhunderte hinweg immer in der Lage, sich aus Erstarrungen zu lösen und neue Formen für das Zusammenleben zu entwickeln, auch für das politische.“ (S. 47) Dass es dazu allerdings meist handfester Krisen bedurfte, verschweigen sie an dieser Stelle.

Obwohl die einführenden Überblicksartikel weniger als ein Fünftel des Buches ausmachen und nur eines der vier Kapitel bilden, sind sie inhaltlich mit Abstand am gehaltvollsten. Sehr informativ ist auch der zweite große Bereich, der aus Länderartikeln besteht. Hier findet der Leser Fakten zu allen europäischen Ländern, auch zu solchen, die in der üblichen Aufzählung oft vergessen werden – wie San Marino oder die Färöer-Inseln. Ausgeklammert bleibt Russland; eine überzeugende Begründung dafür bleiben die Autoren leider schuldig.

Die Länderdarstellungen folgen einem einheitlichen Raster: Sie informieren über Grunddaten, sozioökonomische Grundlagen, Geschichte, das politische System und die „Politik in und für Europa“. Gruner und Woyke haben die Länder in sieben geografische Regionen eingeteilt, wobei die Zuordnung einiger Staaten sehr ungewöhnlich ist. So wird Polen wie Grönland und Island Nordeuropa „zugeschlagen“; zu Mitteleuropa zählen (nur) Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz. Osteuropa umfasst die Slowakei, Tschechien, die Ukraine, Ungarn und Weißrussland. West- und Südwesteuropa werden in einer Region zusammengefasst, die von den Niederlanden bis Portugal reicht. Obwohl jede dieser Ländergruppen mit einem erklärenden Abschnitt eingeleitet wird, überzeugen die dort genannten Motive für die Zuordnung nicht. So wird hier auf geografische (Polen als Ostseeanrainer), dort auf historisch-sprachliche (Mitteleuropa) und andernorts auf aus der politischen Kultur resultierende Gründe (Osteuropa) verwiesen. Diese Art der Rechtfertigung lässt vermuten, dass sich auch die Autoren mit ihrer „Sortierung“ nicht leicht getan haben. Sie behält den Ruch der Beliebigkeit, wie auch die Definition jener sieben geografischen Regionen Stirnrunzeln hervorruft. Ein Rätsel bleibt, wieso überhaupt eine solche Zuordnung notwendig war, da aus ihr keinerlei Konsequenzen resultieren. Davon abgesehen wird dieses über 300 Seiten starke Kapitel dem von den Autoren formulierten Anspruch gerecht, „ganz Europa im Blick“ (S. 9) Grundinformationen zu bieten, die dazu einladen, Europa nach der „Epochengrenze“ 1989/90 wieder oder neu kennen zu lernen.

Der dritte große Abschnitt bietet Kurzartikel zu den europäischen Institutionen und Politikfeldern. Auf ihn trifft der Titel „Europa-Lexikon“ am ehesten zu, wenngleich eine solche Darstellung auf knapp 100 Seiten lückenhaft bleiben muss. Die Auswahl der Stichworte hat einen deutlichen Schwerpunkt auf dem westlichen Europa und der Genese der Europäischen Union. Dies ist an sich folgerichtig, da auch Gruner und Woyke mehrfach auf deren Bedeutung hingewiesen haben – trotz aller Ermahnungen, sie nicht als das „Ein und Alles“ zu begreifen. Doch die Autoren selbst greifen mit der Auswahl der Stichworte über den unmittelbaren Rahmen der EU hinaus – sowohl räumlich (z.B. Europarat, NATO, Nordische Zusammenarbeit, OECD) als auch zeitlich. Der „Osten“ Europas – sofern dieser Begriff nach der Lektüre nicht neu definiert werden muss – wird mit dem RGW und dem Warschauer Pakt abgehandelt. Begriffe wie CEFTA (Central European Free Trade Agreement) und Visegrad fehlen.

Trotzdem: Wer Informationen zur Europa-Thematik sucht, wird hier fündig, nicht zuletzt auch aufgrund der Europa-Chronik, die die bereits im einführenden Kapitel benannten „wichtigste[n] Daten zur Europaidee und zur Geschichte der Europäischen Integration“ als kompakte Übersicht enthält (S. 475-491), sowie aufgrund der kommentierten Bibliografie im Anhang (S. 492-503).

Ein erschöpfendes Nachschlagewerk ist dieses „Europa-Lexikon“ sicher nicht. Ein solches wäre vermutlich auch gar nicht wünschenswert, da sein bloßes Ausmaß von jeder Lektüre abschrecken müsste. Gruner und Woyke ist es gelungen, viele Informationen in lesbarer Form aufzubereiten. Sie laden ein, hinter das bürokratische Monstrum zu schauen, als das die Europäische Union heute vielen erscheint. Und sie erinnern daran – was ihnen nicht hoch genug anzurechnen ist –, dass es eine (lange) Geschichte vor der aktuellen europäischen Integration gab und mit der EU sicher auch noch nicht der Abschluss dieser Integration erreicht ist. Europa ist mehr, als unser EU-zentristisches Weltbild uns oft glauben macht – wobei selbst dies im Vergleich zu nationalen Denkmustern schon ein Fortschritt ist.

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