R. Kiesow; D. Simon: Auf der Suce nach der Warheit

Titel
Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft


Herausgeber
Kiesow, Rainer Maria; Simon, Dieter
Erschienen
Frankfurt a.M./New York 2000: Campus Verlag
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Patel,

"Der Mantel der Geschichte", so stellt Rainer Maria Kiesow in der Vorbemerkung zu dieser Aufsatzsammlung fest, sei "verschlissen": Die Begriffe historischer Wahrheit und Objektivität, die in den letzten 200 Jahren die Basis der Geschichtswissenschaft gebildet haben, geraten demnach zunehmend unter Beschuss. Erneut müsse sich die Geschichtsschreibung fragen, ob sie nicht einer Kunst ähnlicher sei als einer Wissenschaft, ob es um "Fiktionen" oder um "Fakten" gehe. Besonders die neuen Kulturwissenschaften forderten die Geschichte als Disziplin heraus - womit Kiesow sowohl die Eigenständigkeit als Zweig der akademischen Forschung meint als auch ein Selbstverständnis, welches das Fach von der freieren Form der Kunst abgrenzt. Der schmale Band wirft so die tatsächlich in den letzten Jahren verstärkt diskutierte Grundsatzfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Geschichtswissenschaft auf.

Entstanden ist die Aufsatzsammlung aufgrund einer Initiative Kiesows, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main arbeitet, und seines Chefs Dieter Simon. Sie luden einige Vertreter der historischen Zunft dazu ein, im Rahmen einer schriftlichen Konferenz zu drei Neuerscheinungen Stellung zu beziehen, die sich jüngst der Infragestellung des geschichtswissenschaftlichen status quo gewidmet haben: Roger Chartiers "Au bord de la falaise", Richard J. Evans' "In Defense of History" und schliesslich Hans-Ulrich Wehlers "Die Herausforderung der Kulturgeschichte".1 Erstmals publiziert wurden die von Kiesow gesammelten Beiträge im Herbst 1999 im Rechtshistorischen Journal, wobei diese Zweitveröffentlichung den Texten hoffentlich zu noch grösserer Aufmerksamkeit verhelfen wird.2 Besonderes Interesse verdient der Band nicht zuletzt, weil sich hier zwar renommierte Historikerinnen und Historiker äussern, es sich aber nicht nur um die "üblichen Verdächtigen" handelt, die sich stets bei diesen Fragen zu Wort melden.

Aufgrund der Dichte der Argumente, der Komplexität des Themas und dem changierenden Charakter der meisten Beiträge - halb Rezension der drei Werke, halb eigene Standortbestimmungen zu sein - können hier lediglich einige Kerngedanken wiedergegeben werden. Lorraine Daston, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, eröffnet die Diskussion mit einer pointierten Vorstellung der drei Bücher, wobei sie auf die unterschiedlichen Gegner hinweist, mit denen sich Chartier, Evans und Wehler auseinandersetzen. Der Bielefelder Emeritus beschreibt einen Konflikt zwischen Theorien, die seiner Meinung nach kaum vereinbar sind, und weniger einen Streit zwischen der Praxis der Sozial- und der Kulturgeschichte. Dagegen nimmt sein Kollege aus Grossbritannien eine eher vermittelnde Position zwischen der ihm vertrauten Sozialgeschichte und kulturhistorischen Ansätzen ein. Evans konzentriert sich jedoch im Gegensatz zu Wehler auf die Praxis historischer Forschung. Chartier schliesslich ist gegenüber den neuen Kulturwissenschaften am aufgeschlossensten, was sich aus seinen eigenen Arbeiten erklärt. Worauf Daston in diesem Zusammenhang bereits hinweist, bemerken auch einige der weiteren Beiträge: Auch wenn alle drei Bücher verbindet, daß ihre Autoren ein vages Gefühl der Bedrohung verspüren, sind sowohl der französische als auch der britische und der deutsche Historiker in erstaunlich hohem Masse durch den jeweiligen nationalen Horizont geprägt: Die eigenen Positionen, der wissenschaftliche Stil, aber auch die Sicht auf den jeweiligen Gegner kommen den entsprechenden nationalen Stereotypen eines Historikers erstaunlich nahe. Daston konstatiert ferner, daß alle drei Historiker von der Wahrheitsfähigkeit der Geschichtswissenschaft ausgehen: Wehler thematisiert sie sogar nicht einmal, da sie für ihn nicht zur Verhandlungsmasse gehört, sondern selbstverständlich ist. Darüber hinaus teilen laut Daston alle drei Historiker eine bestimmte Sicht, wie die Praxis historischen Arbeitens auszusehen habe: Gewisse Standards, wie ein seriöser Umgang mit den Quellen oder korrektes Zitieren, sind danach unhintergehbar.3

Was Dastons genaue Lektüre der drei Werke nahelegt, findet sich auch in einer Reihe der weiteren Beiträge: Trotz eines Gefühls der Bedrohung überwiegt das Vertrauen in die alten Positionen. Im Gegensatz zum Titel der Aufsatzsammlung bildet die "Wahrheit" von der Wahrheitsfähigkeit der Geschichtswissenschaft die gemeinsame Grundlage der meisten der hier versammelten Autoren. Dieser Ansicht sind zum Beispiel Egon Flaig, Michael Werner und Anthony Grafton; deswegen interessiert sich etwa letzterer weniger für die erkenntnistheoretischen Herausforderungen, als vielmehr für die neuen Themen, die in der multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft der USA seiner Meinung nach die Geschichtswissenschaft künftig prägen werden. Auch für Rebekka Habermas stehen nicht primär epistemologische Grundsatzfragen auf der Tagesordnung, sondern das Problem einer angemessenen Darstellungsform (deren erkenntnistheoretische Implikationen sie freilich beschreibt) oder das anhaltende Nischendasein der Geschlechtergeschichte.

Einen Dialog besonderer Art führen Heinz Dieter Kittsteiner und Hans-Ulrich Wehler in ihren Beiträgen. Kittsteiner reitet eine scharfe Attacke gegen Wehler und läßt Chartier und Evans einfach links liegen. Sein Plädoyer für eine Geschichtsphilosophie ist berechtigt, seine eigenen Ausführungen dazu lassen jedoch viele Fragen offen, und die Verknüpfung mit dem aktuellen Streit um die Position deutscher Historiker im und zum Nationalsozialismus wirkt in diesem Band deplaziert. Wehler wäre nicht Wehler, liesse er diese Philippika auf sich sitzen, er schiesst vielmehr ebenso giftig zurück. Zum eigentlichen Thema des Bandes äussert aber auch er sich nur lakonisch, wenn er in einem Satz feststellt, daß der "Anschluss an die neukantianische Erkenntnistheorie […] noch immer der am meisten versprechende Weg zur Klarheit" sei (S. 122).

Besonderes Interesse verdient der Beitrag von Otto Gerhard Oexle, der auf die Ähnlichkeiten der heutigen Debatte zu Nietzsches Herausforderung des durch Ranke geprägten Historismus hinweist. Noch wichtiger ist ihm der Beitrag Droysens zu einer Theorie historischer Erkenntnis. Für Droysen gehörte der Streit um Fakten und Fiktionen zu den "Aporemata", zu den falsch gestellten Fragen. Wie er in seiner "Historik" ausführt, ist es nicht die Aufgabe des Historikers, Tatsachen zu gewinnen, sondern sie besteht in der "Transposition", in der "aus den Geschäften Geschichte gemacht, d. h. das Äusserliche und nach anderen Kategorien Verlaufene für die Erinnerung, das historische Bewusstsein, für das Verständnis gewonnen wird".4 Auch Werner Sonne versucht, die Dichotomie zwischen "Fakten" und "Fiktionen" aufzubrechen, er argumentiert dabei aber - wenn man so will - "englischer" als Oexle, da er nicht die Klassiker der eigenen Zunft befragt, sondern mit common sense und Beispielen seine Position darlegt.

Unentschieden zwischen einer Selbstrevision und einem letzten Aufbäumen wirkt der abschliessende Beitrag von Hayden White. Es handelt sich um die deutsche Fassung eines ursprünglich 1992 erschienenen Artikels in einem Sammelband von Saul Friedländer.5 White, der in seinem bekanntesten Werk "Metahistory" Geschichte in "plots" aufgehen liess, die von rhetorischen Figuren strukturiert werden, reagierte damit auf die Frage, ob dies auch für die Shoa gelte.

Wie steht es nun also um den Mantel der Geschichte? Clio, so mag man meinen, fühlt sich weiterhin recht wohl in ihm, auch wenn er an einigen Stellen Löcher bekommen hat. Die neuen Gewänder scheinen dagegen keinen übergrossen Reiz auszuüben: Denn eine Bedrohung der bisherigen Grundlagen sehen wohl weniger Historiker in Europa, als man angesichts der Buchtitel von Evans, Chartier, Wehler und anderen erwarten könnte. Es bleibt jedoch fraglich, ob ein reflektiertes Vertrauen in die neukantianische Erkenntnistheorie, von der etwa Wehler spricht, oder Desinteresse häufiger die Basis dieser Haltung ist. Abgeschlossen dürfte die Diskussion um die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtswissenschaft, um Fakten und Fiktionen und um "Wahrheit" und "Objektivität" kaum sein. Es wird sich noch erweisen müssen, ob sich unter den Alternativen zum status quo ein zeitgemässer Mantel findet oder doch nur des Kaisers neue Kleider. Einen Beitrag zu dieser grundlegenden Diskussion zu leisten ist das Verdienst dieser kleinen Aufsatzsammlung. Aber nicht nur deswegen kann man ihr ein breites Publikum wünschen. Vielmehr verdienen auch die Ausführungen Beachtung, die die Autoren diesseits erkenntnistheoretischer Fundamentalfragen zu den Grundlagen der Geschichtswissenschaft und zu künftigen Wegen der Forschung machen und die ihnen selbst oft wichtiger sind.

Anmerkungen
1 Vgl. Roger Chartier, Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquiétude, Paris: Bibliothèque Albin Michel 1998; Richard J. Evans, In Defense of History, London: Granta 1997 (dt: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Campus 1998); Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München: C. H. Beck 1998.
2 Vgl. Rechtshistorisches Journal 18 (1999), S. 445-583. Zusätzlich zu den in der Zeitschrift abgedruckten Beiträgen enthält die Aufsatzsammlung die Vorbemerkung Kiesows.
3 Auf den breiten Konsens in der Geschichtsschreibung zu dieser Frage hob jüngst auch Georg Iggers ab; vgl. Georg Iggers, Geschichtstheorie zwischen postmoderner Philosophie und geschichtswissenschaftlicher Praxis, in: Geschichte und Gesellschaft 26,2 (2000), S. 335-346.
4 Johann Gustav Droysen, Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriss der Historik in der handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hrsg. v. Peter Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1977, S. 4, 69.
5 Saul Friedländer (Hrsg.), Probing the limits of representation. Nazism and the "final solution", Cambridge, MA: Harvard University Press 1992.

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