E. Schlenkrich, Von Menschen auf dem Sterbestroh

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Titel
Von Menschen auf dem Sterbestroh. Sozialgeschichte obersächsischer Lazarette in der frühen Neuzeit


Autor(en)
Schlenkrich, Elke
Reihe
Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 8
Erschienen
Beucha 2002: Sax-Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Vanja, Archiv des Landeswohlfahrtsverband Hessen

Mit dem Paradigmenwechsel der Medizingeschichte von einer auf „große“ Ärzte und wichtige Entdeckungen zentrierten Fortschrittshistorie zur Sozialgeschichte der Heilkunde und ihrer Patienten und Patientinnen hat auch die Hospitalgeschichtsschreibung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine wichtige Wendung genommen. Zwar lagen in diesem Bereich bis dahin bereits bedeutende Studien vor, die auch heute noch Relevanz besitzen, doch waren ihre Fragestellungen zumeist eng begrenzt auf Themen der Rechts- und Architekturgeschichte.1 Dagegen war wenig über Hospitäler als Verwaltungs- und Wirtschaftsbetriebe und noch weniger über Personal und Kranke bzw. Hilfsbedürftige und deren Behandlung bekannt. Dass Sozial- und Medizinhistoriker nicht sofort damit begannen, diese Desiderate zu bearbeiten, mag zum Teil an der Foucault-Rezeption seit den späten 1970er-Jahren gelegen haben, demnach die „Geburt der Klinik“2 im 18. Jahrhundert einen historischen Bruch darstellte. Die „alte“ Hospitalgeschichte schien entsprechend einer abgeschlossenen Vergangenheit anzugehören. Zunächst im englischsprachigen, bald aber auch im deutschsprachigen Bereich wurde die Geschichte des Hospital- und Krankenhauswesens jedoch wieder miteinanderverknüpft. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Armen- und Krankenversorgung zwischen 1500 und 1900 stehen seitdem im Zentrum des Forschungsinteresses.3 Dieser Diskussionsprozess steht allerdings zur Zeit noch am Anfang, und es sind notwendigerweise vorerst quellennahe Regionalstudien, welche die Basis für übergreifende Analysen schaffen. Schon jetzt lässt sich jedoch festhalten, dass die Darstellungen in den gängigen Handbüchern eine gründliche Revision erfahren werden müssen.

Zu den wichtigen Neuerscheinungen dieser Hospitalgeschichtsschreibung mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen gehört der hier vorzustellende Band von Elke Schlenkrich. Bereits der Titel „Von Leuten auf dem Sterbestroh“ verweist auf die patientenorientierte Sichtweise, während der Untertitel den regionalen Bezug, hier vor allem die Städte Dresden und Leipzig, verdeutlicht. Die Arbeit entstand am Rande gemeinsamer Projektarbeit mit dem für den Bereich der Armutsgeschichte besonders ausgewiesenen Leipziger Territorialhistoriker Helmut Bräuer. Eine herausragende Quellenüberlieferung, insbesondere in den sächsischen Stadtarchiven, gab den Ausschlag für die Studie.

Während wir heute mit dem Begriff „Lazarett“ Militäreinrichtungen für verwundete oder erkrankte Soldaten assoziieren, heißt „Lazareth“ noch in Zedlers Universal-Lexikon von 1737 „ein Gebäude, worinnen die Krancken, welche aus Armuth sich nicht selbst versorgen können, oder mit ansteckenden Kranckheiten behafftet sind, verpfleget und mit dienlichen Artzney-Mitteln versehen werden“. Vermutlich wurde der Begriff im 16. Jahrhundert von italienischen Städten übernommen, und zwar wegen deren Vorbildfunktion bei der Pestbekämpfung. Die Annahme macht Sinn, da offensichtlich viele der als Lazarette bezeichneten Fürsorgeeinrichtungen zunächst der Versorgung von Menschen mit ansteckenden Krankheiten dienten. Dies war auch in Sachsen der Fall, wo die Pestepidemien des 16. und 17. Jahrhunderts zur Gründung zahlreicher städtischer (Pest-)Lazarette führten. Die obersächsischen Lazarette behielten ihren Namen allerdings auch in späteren Zeiten bei, als sie längst typische Spitalfunktionen übernommen hatten, eine Namenskontinuität, die offensichtlich regionalspezifisch ist. Der Funktionswandel zum Sozialasyl kann zeitlich mit den Veränderungen durch den Dreißigjährigen Krieg in einen Zusammenhang gebracht werden. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Lazarette unmittelbar in „Krankenhäuser“ umbenannt (zuerst Leipzig 1791), eine Namensänderung, die zugleich mit einem dezidiert therapeutischen Anspruch verbunden war. Den Entwicklungsbogen vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Alltagslebens der Lazarettbediensteten und Lazarettbewohner darzustellen, ist Ziel der Autorin.

Zunächst behandelt sie die Baugeschichte der Lazarette, die alle außerhalb der Stadtmauern angelegt wurden, sich trotz der Funktionsänderungen bis in das 18. Jahrhundert wenig veränderten, lange Zeit in einem schlechtem Zustand waren, um am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch gezielt modernisiert und erweitert zu wurden. Dies war z.B. in Leipzig der Fall, wo im Lazarett ab 1793 ca. 140 Kranke in 29 Krankenstuben nach ihren Krankheitsbildern getrennt versorgt werden konnten.

Zu Bettzeug und Wäsche beherbergen viele Hospitalarchive Rechnungsunterlagen, selten wurden diese jedoch bisher alltagsgeschichtlich ausgewertet. Bei Schlenkrich wird nun deutlich, welche zentrale Rolle die Bettenverwaltung (zumeist durch die Hausmutter persönlich) und die Säuberung des Bettzeuges in den obersächsischen Lazaretten spielte. Unsaubere Betten konnten weitreichende Folgen für die Ausbreitung von Krankheiten (z. B. Krätze) innerhalb des Spitals haben. Die verstärkte Kritik an der Qualität der Lazarettbetten lässt sich zeitlich in der Mitte des 18. Jahrhunderts verorten und steht mit den neuen hygienischen Forderungen der Aufklärungsmedizin in einem unübersehbaren Zusammenhang.

Ebenfalls sehr gut dokumentiert ist die Verpflegung der Lazarettinsassen, die zwischen Sonntagsgerichten aus Kalb- und Rindfleisch mit Wurzeln, Petersilie und Rosinen oder Reis bzw. einem Festtagsgänsebraten und alltäglichen Suppen und Musgerichten bestehen konnte (Leipzig 1724), gelegentlich jedoch auch völlig unzulänglich war. Letzteres war in Dresden anscheinend der Fall, wo eine Lazarettküche völlig fehlte und die Insassen sich selbst versorgen mussten. Hier wurden die Mahlzeiten in den einzelnen Stuben auf dem Ofenloch zubereitet. Offensichtlich kam es erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zu ersten Überlegungen für eine krankengerechte Ernährung. Gleichermaßen ist nicht vor dem Ende der Frühen Neuzeit ein deutlichen Wandel der Lazaretthygiene, u.a. durch Aufstellung von Badewannen, erkennbar, obwohl schon vorher Reinlichkeit gefordert wurde.

Die Entwicklung des Lazarettpersonals war durch die Zunahme festangestellter und vereidigter KrankenwärterInnen bestimmt, die ein breites Spektrum von Aufgaben zu erfüllen hatten. Lazarettbarbiere und -chirurgen bekamen für ihre medizinischen Leistungen neben einer Grundvergütung spezielle Honorare, z.B. für die Behandlung von Knochenbrüchen, für Amputation oder Syphiliskuren. Bemerkenswert sind die Sonderaufgaben des Leipziger Lazarettschreibers, der u.a. die vorschriftsmäßige Applikation der Arzneien überwachte und für die Sicherheit bei der Einlieferung von „Wahnsinnigen“ in das Lazarett sorgte. Der Schreiber hielt die Armen auch zum Besuch der Betstunden und zum Ablegen der Armen-Examina (religiöse Grundkenntnisse) an. Über die Tätigkeit des Lazarettpfarrers erfahren wir dagegen leider nichts.

Die soziale Zusammensetzung der Lazarettinsassen ist durch verschiedene Verzeichnisse gut dokumentiert: Es handelte sich um Almosenempfänger und Bettler, abgedankte Soldaten, alte und unvermögende Witwen sowie verarmte Handwerker. Gelegentlich traten jedoch auch wohlhabendere Menschen gegen Entgelt in das Lazarett ein, um ihre Leiden (Melancholie, Geschwulst, Ruhr) kurieren zu lassen. Auch Waisen- und Findelkinder gehörten zur Klientel der Lazarette. Der geografisch beachtliche Einzugsbereich bestätigt die schon andernorts betonte relativ große Mobilität der frühneuzeitlichen Menschen.

Im Unterschied etwa zu den hessischen Hohen Hospitälern, die ausschließlich „unheilbare“ Arme und Kranke auf Lebenszeit aufnahmen4, besaßen die obersächsischen Lazarette stets die Doppelfunktion des Sozialasyls und der Pflegeeinrichtung, die geheilte Insassen nach einem zeitlich begrenzten Aufenthalt wieder entließ. Stets waren diese Lazarette ebenfalls Isolierstationen, die neben Menschen mit ansteckenden Kranken auch Patienten mit ekelerregenden Leiden und eine Vielzahl von Epileptikern und Geisteskranken aufnahmen. Auch die Versorgung kranker Soldaten und Kriegsgefangener spielte immer wieder eine Rolle. Schließlich avancierten die Leipziger und Dresdner Einrichtungen am Ende des 18. Jahrhunderts zugleich zu Geburtskliniken, die der Hebammenausbildung dienten. Über diese „medizinischen“ Aufgaben der Lazarette hinaus dienten Gefängnisse innerhalb der Lazarette (so genannte Bollwerke) der Bestrafung und Sicherheitsverwahrung von Pfleglingen, aber auch zur Inhaftierung von Bettlern und Kriminellen, die nicht zur Gemeinschaft der Lazarettinsassen gehörten - eine Situation, die m.E. schon auf das mittelalterliche Hospitalwesen zurückgeht und daher nur teilweise frühmodernen Disziplinierungsbestrebungen anzulasten ist.

Besonders eindrucksvoll sind die bei Schlenkrich nun folgenden detaillierten Schilderungen zu den Kranken und ihren Krankheiten. Überraschend ist zunächst, in welchem hohen Maße auch die Pestlazarette des 16. und 17. Jahrhunderts als Spitäler begriffen wurden. Die Pfleglinge kamen hierher keineswegs mit eindeutiger Todeserwartung, einige „Pestkranke“ lebten noch mehrere Wochen oder konnten gar entlassen werden. Pestbarbiere, in Leipzig 1565/66 jedoch auch die Hausmutter als „eine gute Erztin“, bemühten sich eingehend um die Behandlung mit speziellen Salben und Tränken sowie angemessener Ernährung.

Besondere Pflege erhielten gleichermaßen Syphiliskranke in den Lazaretten, obwohl deren aufbrechende Geschwüre einen abscheulichen Gestank verbreiteten. Üblich waren Einreibungen mit Quecksilber und Behandlungen im Schwitzkasten, einige Insassen wurden allerdings auch in Heilbäder zur Kur gebracht.

Geisteskranke, die auf Ansuchen ihrer Dienstherrschaft, von Verwandten oder Stadtbewohnern im Lazarett untergebracht wurden, hatten zumeist auch die öffentliche Ordnung gefährdet und wurden, sofern sie „rasten“, in den Bollwerken der Einrichtungen eingeschlossen. Leider behandelt Schlenkrich dieses Thema ganz unter dem Gesichtspunkt der Ausgrenzung „lästiger Subjekte“, wobei sie als Belege Sekundärliteratur, aber nicht die sächsischen Quellen heranzieht. Es wird nicht klar, inwieweit auch Geisteskranke, wie für Hessen belegt, medizinisch behandelt und insofern als Kranke angesehen wurden.5 Dass Geisteskranke auch in Obersachsen nur bedingt stigmatisiert gewesen sein können, belegt Schlenrich selbst, denn einige „irre“ Insassen wurden als Wärterinnen in den Lazaretten beschäftigt.

Zu den weiteren Krankheiten, die häufig zur Aufnahme in ein Lazarett führten gehörten erfrorene oder aufgesprungene Füße, Schlaganfälle, Augenleiden und Krebsschäden.

Den Wandel des Umgangs mit Kranken zeigte seit 1748 in Dresden die Überführung von Leichen aus dem Lazarett in das theatrum anatomicum als Schulungsstätte für Chirurgen an. Wie die Insassen auf die mögliche „Zerstückung“ ihrer Körper reagierten und wie häufig Angehörige Lazarettbewohner „losbeten“ konnten, bleibt offen.

Mit ihrer Studie bestätigt Schlenkrich bereits andernorts geäußerte Zweifel, dass die Klinik erst im ausgehenden 18. Jahrhundert „geboren“ worden sei.6 Überzeugend kann sie an vielen Beispielen aufzeigen, dass die obersächsischen Lazarette schon seit dem 16. Jahrhundert auch „Kliniksfunktionen“ besaßen. Vor allem die gezielten therapeutischen Bemühungen um die Pfleglinge und eine differenzierte Aufnahmepraxis, die zeitlich beschränkte Heilbehandlungen einschloss, sprechen für diese Schlussfolgerung. Unverkennbar brachten im 18. Jahrhundert allerdings dennoch der räumliche Aus- und Umbau der Einrichtungen, die höhere Wertschätzung von Hygiene und schließlich die Namensänderung von „Lazarett“ und „Krankenhaus“ einen deutlichen Medikalisierungsschub. Dass es sich trotzdem nicht nur um eine lineare Entwicklung handelte, macht Schlenkrich abschließend deutlich, indem sie auf die Meinung des sächsischen Sanitätskollegiums verweist, das noch 1768 „Unheilbare“ keineswegs von einer Lazarettaufnahme ausschließen wollte.

Ein Wunsch allerdings bleibt zu dieser anregenden und materialreichen (einige Dokumente sind dem Darstellungsteil zugefügt) Studie dennoch bestehen: nämlich ein eingehenderer Vergleich mit anderen Studien zur Sozialgeschichte des Hospitals. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise die englischsprachigen Publikationen von Roy Porter, H. C. Erik Midelfort und Gunther Risse, um nur einige Namen zu nennen7; ebenso unbeachtet blieben wichtige deutschsprachige Studien, z. B. von Barbara Krug-Richter über die Ernährung von Spitalinsassen in Münster oder Michael Kutzer über Geisteskrankheiten.8 Auch die Studie von Sonja Schröter über das sächsische Zuchthaus Waldheim9 findet sich nicht zitiert. Die nochmalige Diskussion der Forschungsergebnisse zu Obersachsen im Rahmen dieses breiteren Radius wäre ohne Zweifel sehr fruchtbar.

Anmerkungen:
1 Reicke, Siegfried, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, Stuttgart 1932 (Neudruck Amsterdam 1961); Jetter, Dieter, Das europäische Hospital. Von der Spätantike bis 1800, Köln 1986 und zahlreiche weitere Publikationen des Autors.
2 Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1976.
3 Vgl. Finzsch, Norbert; Jütte, Robert (Hgg.), Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500-1950, Cambridge 1996.
4 Vgl. Heinemeyer, Walter; Pünder, Tilman (Hg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen, Marburg 1983.
5 Vgl. Vanja, Christina, Care of the Insane in the Hospitals of Hesse from the 16th to the 18th Centuries, in: Vijselaar, Joost (Hg.), Dollhuizen - Madhouses. Chapters from the History of Madhouses in Europe 1400-1800, Utrecht 1995, S. 67-77; Dies.: Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes in der armen Bevölkerung der Frühen Neuzeit, in: Münch, Paul (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, S. 193-207.
6 Z.B. Kinzelbach, Annemarie, Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm 1500-1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 8), Stuttgart 1995.
7 Granshaw, Lindsay; Porter, Roy (Hgg.), The Hospital in History, London 1989; Porter, Roy, Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Heidelberg 2000; Midelfort, H. C. Erik, A History of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford 1999; Risse, Guenther B., Hospital Life in Entlightenment Scotland. Care and Teaching at the Royal Infirmary of Edinburgh, Cambridge 1986.
8 Krug-Richter, Barbara, Zwischen Fasten und Festmahl. Hospitalverpflegung in Münster 1540 bis 1650, Stuttgart 1994; Kutzer, Michael, Anatomie des Wahnsinns. Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie, Hürtgenwald 1998.
9 Schröter, Sonja, Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716-1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1994.

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