Cover
Titel
Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs


Autor(en)
Zifonun, Dariuš
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 12
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Düwell, Bonn

Im Fokus von Dariuš Zifonuns Arbeit „Gedenken und Identität“ steht die Frage, welche Formen kollektiver Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland existieren und welche Bedeutung sie für die Entwicklung kollektiver Identität haben. Die Basis bilden dabei zwei Fallstudien: Zifonun untersucht aus soziologischer Perspektive Diskurse, die die Auseinandersetzung um die KZ-Gedenkstätte in Dachau sowie die „Topographie des Terrors“ in Berlin bestimm(t)en. Im ersten Teil des Buches werden die Umstände und Verfahren der Einrichtung dieser beiden Gedenkorte und die an der Institutionalisierung beteiligten Akteure ausführlich dargestellt.

In einem zweiten, stärker theoretischen Teil beschreibt Zifonun das von ihm vorausgesetzte Modell nationaler Identitätsbildung. Zentral ist für Zifonuns Deutung vor allem der Begriff des „Stigmas“, den er von dem Soziologen Wolfgang Lipp übernimmt und auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Deutschland überträgt. Die streckenweise befremdliche religiöse Semantik dieses Theorieansatzes wird dabei nicht erläutert oder problematisiert. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich die Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen als Stigma darstelle, das kollektive Identität beschädige. Allerdings würden Stigmata nicht nur als identitätsgefährdend, sondern auch als identitätsstiftend gewertet, „insofern […] sie eine Umwertung von negativen Zeichen der Schuld zu positiven Zeichen der ‚Gnade‘ erfahren können“ (S. 105). Im Anschluss an Lipp führt Zifonun verschiedene Reaktionsweisen gegenüber der Stigmatisierung ein. Unterschieden werden vor allem zwei Formen der Schuldbewältigung: erstens die Zurückweisung von Schuld in Verbindung mit dem Versuch, Schuld auf denjenigen abzuwälzen, der Schuld zuschreibt. Diese direkte Abwehr führe allerdings in der Regel eher zu einer Verstärkung als zu einer Widerlegung von Schuldzuschreibungen. Der zweite Mechanismus sei die Selbststigmatisierung, bei der Zeichen der Schuld öffentlich zur Schau gestellt würden. Durch die Übernahme von Stigmata werde eine symbolische Schuldbefreiung bewirkt (S. 105): „Indem der Stigmatisierte sich nicht gegen das Stigma zur Wehr setzt, verleiht er sich ‚charismatischen Glanz‘.“

Die Materialgrundlage für die Interpretation der Gedenkstätte Dachau und der „Topographie des Terrors“ sind die Rekonstruktion der jeweiligen Entstehungsgeschichte und Institutionalisierung, Sitzungsprotokolle, Presseberichte, eine interpretierende Beschreibung der Gedenkstättenanlage sowie Interviews mit Akteuren wie Gedenkstättenmitarbeitern, Stiftungsmitgliedern und Politikern. Das Material wird punktuell und exemplarisch entfaltet; vorwiegend werden aber Interpretationsergebnisse präsentiert. Als Ergebnis unterscheidet Zifonun drei konstitutive Formen des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vernichtungsgeschichte: den „Betroffenheits-“, den „Schlussstrich-“ und den „Aufarbeitungsdiskurs“. Diese Diskurse versteht Zifonun als verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche Formen der „Abwehr von Identitätsbedrohungen“ (S. 221).

Er zeigt auf, dass Dachau als reine Opfergedenkstätte konzipiert wurde – in den einzelnen Komplexen der Gedenkstätte stehen die Empathie und Identifizierung mit den Opfern und der Betroffenheitsdiskurs im Vordergrund (S. 136): „Die Selbststigmatisierung der Opfer wird somit in eine kollektive Selbststigmatisierung in der Nachfolge der Opfer überführt.“ Bei den meisten Einwohnern Dachaus und auf kommunalpolitischer Ebene habe dagegen lange Zeit der Fokus auf dem „Schlussstrichdiskurs“ gelegen, der vor allem darauf abzielte, dass Dachau nicht mehr mit dem Konzentrationslager identifiziert werden sollte. Teile der Dachauer Bevölkerung konkurrierten mit den ehemaligen Häftlingen um den Opferstatus. Diese Reaktionsform habe sich jedoch seit Ende der 1990er-Jahre zugunsten des „Betroffenheitsdiskurses“ verschoben.

Im Unterschied zu Dachau ist die „Topographie des Terrors“ auf dem ehemaligen Gelände von Gestapo und Reichssicherheitshauptamt in Berlin als Täterort konzipiert worden. Diese Institution ist fokussiert auf die Ausstellung der „Authentizität“ des Ortes sowie auf eine möglichst nüchterne Präsentation der historischen Daten. Die Geschichtsdeutung, die die Gestaltung des Geländes prägt, klassifiziert Zifonun als „Aufarbeitungsdiskurs“. Dieser sei dadurch gekennzeichnet, dass die Akteure die Zuschreibung von Schuld akzeptierten und sich selbst – im Unterschied zum „Betroffenheitsdiskurs“ – als Teil des Täterkollektivs verstünden. Die Schuld in der Nachfolge der Täter werde im Kontext dieses Diskurses als Verpflichtung zum Lernen und zur Verantwortung interpretiert. Zifonun wertet diesen Typus als positive Möglichkeit einer Neubestimmung von „kollektiver Identität“, die nicht auf Verdrängung der Vergangenheit basiere (S. 189): „Die Last der Erinnerung wandelt sich in eine Chance zur Bildung politischer Werte und kollektiver Identität. Dieser Modus der Identitätskonstruktion ist insofern innovativ, als er das Problem reflexiv ins Zentrum und damit auf Dauer stellt und die beständige Problemschau erforderlich macht.“

Im Anschluss an die Darstellung der Diskurstypen präzisiert Zifonun die Bedingungen, unter denen sich bestimmte Vergangenheitsdeutungen gegen konkurrierende Deutungen durchsetzen, und fragt, in welcher Weise diese Deutungsmacht stabilisiert werden könne. Kennzeichnend für die Organisationsform von Gedenkstätten sei die Tatsache, dass es sich in der Regel um „Dritt-Sektor-Organisationen“ handle, d.h. die Trägerschaft liege meist bei Vereinen oder Stiftungen. Zifonun stellt die These auf, dass die meisten Gedenkstätten keine staatlichen Träger hätten, weil die Erinnerung an den Nationalsozialismus politisch als identitätsgefährdend eingestuft werde. Durch die Organisationsform der Gedenkstätten sei es für den Staat möglich, sich diesbezüglich politisch zu engagieren, ohne mit der Organisation identifiziert zu werden, und durch finanzielle Abhängigkeit der Gedenkstätten zugleich Kontrolle auszuüben.

Diese Beschreibung der Organisation von Gedenkstätten ist für die bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückreichende Geschichte der Gedenkstätte in Dachau plausibel, lässt sich jedoch nicht generell auf den staatlichen Umgang mit Gedenkstätten übertragen. Wie das Beispiel der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zeigt, hat sich die Situation in den 1990er-Jahren dahingehend verändert, dass ein Engagement des Staates in der Gedenkstättenarbeit opportun ist, insbesondere auch im Blick auf das internationale Ansehen. Bei anderen überregional bedeutsamen Gedenkstätten ist der Staat mittlerweile ebenfalls Hauptförderer.

Da sich die Bedeutung von Gedenkstätten aus Zifonuns Perspektive auf die Verhandlung „kollektiver Identität“ konzentriert, werden andere politische Interessen, die die Gedenkstättenarbeit beeinflussen, kaum berücksichtigt. Die Funktion von Gedenkstätten besteht aus dieser Warte primär darin, dass sie sowohl der Austragung als auch der Begrenzung von Konflikten um die Deutung der Vergangenheit dienen, indem der Erinnerungsdiskurs organisatorisch und räumlich in abgegrenzte Erinnerungsorte ausgelagert werden könne. Zifonun vertritt die These, dass die Durchsetzung einer Deutung nicht nur von der Machtposition der Akteure abhänge, sondern auch davon, ob die durchgesetzte Deutung zur Lösung von Erinnerungskonflikten geeignet sei, so dass – wie im Fall der „Topographie des Terrors“ – möglicherweise auch marginale Gruppen ihre Vergangenheitsdeutung etablieren könnten. Perspektivisch gelangt Zifonun am Ende seiner Arbeit zu der Schlussfolgerung, dass sich in den 1990er-Jahren politisch die Einsicht durchgesetzt habe, „dass Betroffenheitsdiskurs und Aufarbeitungsdiskurs weit davon entfernt sind, nationale Identität in Frage zu stellen, sondern diese mit ihnen wirksam akzentuiert und wirkungsvoll dargestellt werden kann“ (S. 229).

Allgemeine Überlegungen zu kollektiver und nationaler Identität sowie zur sozialwissenschaftlichen Hermeneutik nehmen in dem Buch einen breiten Raum ein, werden in Bezug auf den eigentlichen Gegenstand aber wenig spezifiziert. Das mag daran liegen, dass der fachwissenschaftliche Kontext, in den Zifonun seine Arbeit stellt, weniger Forschungen zum Erinnerungsdiskurs im Kontext der Judenvernichtung sind als vielmehr soziologische Theorien über die Konstruktion sozialer Wirklichkeit und die soziale Konstitution von Gemeinschaft. Insbesondere der Versuch, aus den drei von Zifonun unterschiedenen Diskursen Typen von Erinnerung abzuleiten, überzeugt nicht – zum einen wegen der Beschränkung auf nur zwei Gedenkorte, zum anderen, weil die inzwischen sehr umfangreiche Forschung zu Erinnerungsdiskursen seit 1945 kaum in den Blick genommen wird. Die bei Zifonun angebotene Typologie von „Schlussstrichdiskurs“, „Betroffenheitsdiskurs“ und „Aufarbeitungsdiskurs“ erscheint gegenüber der ausdifferenzierten Forschung zum Erinnerungsdiskurs als ein sehr oberflächliches Raster.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch