A. Hartmann, Politische Eliten in Genf

Titel
Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841


Autor(en)
Hartmann, Anja Victorine
Reihe
Veröff. d. Instituts für Europäische Geschichte Mainz 200; Historische Beiträge zur Elitenforschung 3
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 607 S.
Preis
€ 59,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Lotz-Heumann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin

Das hier anzuzeigende Buch, das aus einer Mainzer Habilitationsschrift von 2002 hervorgegangen ist, offenbart mit seinem Titel "Reflexive Politik im sozialen Raum" eigentlich nur zwei der drei Aspekte, die es im Kontext der Geschichte der Genfer Eliten in der Sattelzeit untersucht. Tatsächlich will die Arbeit sogar noch mehr: Sie "versteht sich als ein Beitrag zur Integration von Politikgeschichte, Sozialgeschichte sowie Kultur- und Mentalitätsgeschichte aus der Perspektive einer reflexiven Modernisierungstheorie" (S. 10).

Anja Victorine Hartmann sucht diese Integration über die Ausarbeitung und Anwendung eines komplexen Theoriegebäudes zu erreichen. Die Schlüsselbegriffe der Arbeit sind "reflexive Politik" und "reflexive Modernisierung". Der von Ulrich Beck übernommene Begriff der reflexiven - also regelverändernden, im Gegensatz zur einfachen, regelgeleiteten - Politik führt direkt zur Gesamtthese der Arbeit, die lautet, dass nur durch reflexive Politik strukturelle Veränderungen im politischen Feld bewirkt werden konnten, die insgesamt zu einer Erhaltung des Staates über die Umwälzungen der Sattelzeit hinweg führten. Mit dem Begriff der "reflexiven Modernisierung" wird es zugleich möglich, so Hartmann, die unbeabsichtigten, möglicherweise systemdestabilisierenden Folgen von reflexiver Politik der Herrschenden nicht mehr als Paradox zu beschreiben, sondern als "unfreiwillige Synthese von Innovation und Revolution" (Beck, zitiert in Hartmann, S. 5).

Auf der Grundlage dieses übergreifenden Interesses an reflexiver Politik untersucht Hartmann die Genfer Funktionseliten. Darunter fasst sie sowohl Positionseliten, die Reformpolitik betreiben konnten, - im Falle Genfs die 'Conseillers' - als auch "Subpolitik" (S. 4) betreibende revolutionäre Gegeneliten – hier die 'Représentants' und die Politiker der Revolutionszeit 1792-98. Wie für so viele Themen und Fragestellungen erweist sich Genf auch hier als ein gut abgrenzbares Fallbeispiel - Hartmann nennt ihre Studie einen "Laborversuch europäischer Staatsbildung" (S. 16) - mit bemerkenswert reicher Quellenlage: Von Ratsprotokollen über diverse serielle Quellen (Steuerlisten etc.) bis hin zu Selbstzeugnissen steht alles zur Verfügung - und Hartmann nutzt alle diese Quellen für ihre Untersuchung. Dem Quellenpluralismus entspricht ein Methodenpluralismus, den Hartmann aber in einen theoretisch untermauerten Gesamtzugriff einordnet. Ausdrücklich distanziert sich Hartmann davon, Stadt- oder Bürgertumsgeschichte schreiben zu wollen, wodurch sie sich auch von den deutschen Kontroversen zwischen 'Frankfurt' und 'Bielefeld' fern hält, deren Kategorien sie für die Schweiz als nicht anwendbar bezeichnet.

Hartmann interessiert sich für die Wechselwirkungen zwischen dem politischen Feld und den Strukturen des sozialen Raums sowie den Lebenswelten der von ihr betrachteten Funktionseliten. Konkret geht es ihr dabei insbesondere um die "kommunikative Macht", die auf Legitimität beruht und als solche von Gewalt und Autorität scharf zu scheiden ist, und die deshalb immer Gruppen zukommt. Die Erfolgsaussichten reflexiver Politik sind nun, laut Hartmann, von dem sich in sozialen Kreisen und ihren lebensweltlichen Zusammenhängen ausbildenden Machtpotenzial abhängig, das dann im günstigsten Fall im politischen Feld eingesetzt werden kann.

Aus diesem übergreifenden theoretischen Ansatz leitet sich die Gliederung des Buches ab. Im ersten Großkapitel (S. 23-199) wird das Auf und Ab der Genfer politischen Geschichte in der Sattelzeit untersucht - von den letzten Jahren der politischen Normalität in der Genfer Republik, über die 'Affaire Rousseau', die Revolution von 1782, die revolutionäre Republik 1792-98, den Anschluss an Frankreich, die erneute Souveränität als Schweizer Kanton ab 1814 bis hin zur Revolution von 1841. Hartmann zeigt dabei die Konjunkturen einfacher und reflexiver Politik im Detail auf und kommt zu drei zentralen Schlussfolgerungen: Erstens, reflexive Politik der herrschenden Elite kann die "Subpolitik" neuer politischer Akteure sowohl lahm legen als auch hervorrufen bzw. stärken und auch umgekehrt besteht kein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Faktoren: "Subpolitik" kann reflexive Politik der Herrschenden verstärken, sie kann aber auch die Rückkehr zu regelgeleiteter Politik bewirken. Zweitens, reflexive Politik der herrschenden Elite wirkt sich eher vermindernd auf deren Macht aus, während Subpolitik neuer Akteure deren Zusammenhalt und damit Macht stärkt. Drittens, gegen Gewalt, wie sie in Genf in Form der französischen Annexion zu Tage tritt, ist reflexive Politik machtlos.

Im zweiten Hauptkapitel der Arbeit (S. 203-412) untersucht Hartmann den sozialen Raum der politischen Funktionseliten Genfs unter drei Hauptaspekten - dem Generationenzusammenhang, den Familiennetzwerken und den sozioökonomischen Verhältnissen. In diesem Hauptteil wertet Hartmann vor allem serielle Quellen aus und belegt ihre Ergebnisse in zahlreichen Tabellen und Grafiken - methodisch ist sie hier also der historischen Sozialwissenschaft verpflichtet. Als Gesamtergebnis stellt Hartmann fest, dass die Chancen reflexiver Politik stiegen, wenn die politischen Akteure auf Potenziale kommunikativer Macht im sozialen Raum zurückgreifen konnten. An dieser Stelle tritt auch erstmals die Bedeutung der Frauen für die politischen Funktionseliten Genfs hervor, die "die Macht besaßen, ihre Ehemänner in jene soziale Kreise einzugliedern, aus denen sie selbst stammten" (S. 412) und ihnen damit die Möglichkeit eröffneten, ihr Potenzial an kommunikativer Macht zu erweitern.

Im dritten Hauptabschnitt des Buches (S. 415-546) wendet sich Hartmann dann der Lebenswelt der politischen Eliten zu. In einem ersten Teil untersucht sie deren Lebensstilräume, indem sie insbesondere Nachlassinventare auswertet. Hier geht es ihr um die Frage, inwiefern die jeweiligen sozialen Kreise der politischen Akteure auch durch einen gemeinsamen Lebensstil geprägt waren. Dabei wird deutlich, dass die Lebensstile der Conseillers durch eine relativ hohe Einheitlichkeit geprägt waren, während das bei den anderen politischen Akteursgruppen nicht der Fall war. Erst nach 1814 kam es - in Übereinstimmung mit der allmählichen Vermischung der sozialen Kreise - zu einer Angleichung der Lebensstilräume über einen "gemeinsamen Bildungs- und Wertekanon" (S. 473). In einem zweiten Teil analysiert Hartmann die Erfahrungsräume. Die hierfür zur Verfügung stehenden Selbstzeugnisse stammen allerdings nur aus der Gruppe der "guten Gesellschaft", nicht der Représentants und der Revolutionäre. Hier zeigt Hartmann auf, wie stark - trotz zunehmender Brüche in der persönlichen Identität - die Sociétés du Dimanche als kleine, abgegrenzte Zirkel innerhalb der Genfer Elite, als Erfahrungsräume dauerhaft soziale Integration sicherten. Für die Aufrechterhaltung sowohl der Lebensstil- als auch der Erfahrungsräume hebt Hartmann wiederum die Rolle der Frauen hervor.

Am Ende der Arbeit steht die Gesamtthese, dass die Möglichkeiten reflexiver Politik abhängig waren von der außerhalb des politischen Feldes verankerten kommunikativen Macht; auf dieser Grundlage jedoch konnte der Staat als Erscheinungsform des politischen Feldes in Europa in die Moderne übergehen. Der Band wird durch ein Personenregister ergänzt, leider fehlt ein Sachregister.

Das Buch ist reich an Details über die angesprochenen Facetten der Genfer politischen Akteure in der Sattelzeit, die hier im Einzelnen nicht besprochen werden können. Darstellerisch geht Hartmann dabei so vor, dass sie - neben einer in das theoretische Instrumentarium der Arbeit einführenden Einleitung - auch jedem der drei Hauptteile nochmals eine "Vorbemerkung" voranstellt, in der der theoretische Zugriff des Kapitels detailliert erläutert wird und vor allem zwischen verschiedenen Theorieangeboten abgewogen wird. Hartmann operiert dabei u.a. mit Arendt und Bourdieu, mit Habermas und Luhmann. Auch wenn man sicher darüber streiten kann, wie viel theoretische Anleihen aus den Nachbarwissenschaften, vor allem der Soziologie, die Geschichtswissenschaft braucht; am Ende steht in der Arbeit von Hartmann eine überzeugende Integration von Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte. In den jeweiligen Hauptkapiteln folgen auf die "Vorbemerkungen" ausführliche Untersuchungen der politischen, sozialen und lebensweltlich-kulturellen Kontexte der Genfer Funktionseliten, in denen Hartmann über recht weite Strecken darauf verzichtet, explizit Bezug auf ihr theoretisches Instrumentarium zu nehmen. In "Faziten" bzw. "Zwischenbetrachtungen" resümiert sie dann die Genfer Befunde im Lichte ihres theoretischen Ansatzes.

Im Detail - und wenn die Arbeit sich auf eines der drei Felder alleine konzentrieren würde - könnte man den einen oder anderen Punkt kritisieren - man hätte sich vielleicht eine intensivere Diskussion der interpretativen Tragweite von Selbstzeugnissen gewünscht oder auch eine stärkere vergleichende Einbindung in die Frage der europäischen Staatsbildung, die ja wiederholt angeschnitten wird. Doch kann man eben nicht alles machen und Hartmann macht schon ziemlich viel. Sie löst ihren in der Einleitung formulierten Anspruch auf die Integration von Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte an einem Fallbeispiel ein. Sie untermauert dies mit überzeugend erarbeiteten theoretischen Zugängen. Nachdem die Geschichtswissenschaft mittlerweile erkannt hat, dass methodische Dichotomien dauerhaft wenig fruchtbar sind, macht die Arbeit von Anja Victorine Hartmann ein lesenswertes Angebot, wie man es anders machen kann.