R. Gramsch: Erfurter Juristen im Spätmittelalter

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Titel
Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts


Autor(en)
Gramsch, Robert
Reihe
Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 17
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 717 S. + CD-ROM
Preis
€ 180,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Eric Wagner, Historisches Institut, Universität Rostock

Robert Gramsch legt mit seiner umfangreichen Studie, die auf seiner bei Helmut G. Walther angefertigten Jenaer Dissertation beruht, eine Kollektivbiografie von über 700 Universitätsbesuchern vor, für die zwischen 1392 und 1470 eine Immatrikulation in Erfurt und ein anschließendes Studium der Rechte (römisches oder kanonisches Recht) dort oder anderswo nachweisbar ist und die somit als „Erfurter Juristen im Spätmittelalter” bezeichnet werden können. Die Universität Erfurt war im behandelten Zeitraum nach der Kölner die führende Ausbildungsstätte von Juristen für das Reich nördlich der Alpen, was Besucherfrequenz, Größe des Lehrkörpers und Anzahl der Promotionen angeht. Folglich müssten gerade ihre Besucher einen erheblichen Anteil an jenem zeitgleich stattfindenden sozialen Wandel gehabt haben, der allgemein mit den Schlagworten „Rezeption des Gelehrten Rechts” und „Verwissenschaftlichung des Regierens” (Peter Moraw) umschrieben wird. Von einer Bestätigung dieser Vermutung hinge einiges ab, gelten doch beide Vorgänge als wegbereitend für die Entstehung des modernen Staates und die bis heute bestehende „Herrschaft der Juristen über das öffentliche Leben” (Franz Wieacker).

Wie lässt sich aber dieser Beitrag der Juristen am sozialen und politischen Wandel näher bestimmen? Zunächst ist im Deutschland des 14. und 15. Jahrhunderts rein quantitativ eine Zunahme des Anteils an Akademikern, speziell Promovierten, in fürstlichen Ratsgremien, Kanzleien und Gerichtshöfen zu verzeichnen. Und tatsächlich geht damit eine Tendenz zur Verrechtlichung und auch Zivilisierung der Herrschaftsausübung einher. Doch kann man daraus allein noch nicht auf eine generelle „Verwissenschaftlichung herrschaftlichen Handelns” schließen. Auf die Missverständlichkeit, die etwa dem Begriff der „Rezeption des Gelehrten Rechts im Regnum teutonicum” anhaftet, ist von Rechtshistorikern wiederholt hingewiesen worden. Damit sei eben nicht so sehr eine inhaltliche Veränderung oder gar Ablösung von „deutschen” Volksrechten gemeint. Vielmehr hätten sich die Rechtsvorstellungen selbst verändert, und zwar dadurch, dass Rechtslehre, Rechtsprechung und Rechtsetzung auf einen Gelehrtenstand übergingen. Wer nach der Wirkung gelehrten Rechtsunterrichts auf die soziale und politische Realität frage, müsse daher auch nach der Aufnahme der gelehrten Juristen durch die mittelalterliche Gesellschaft fragen.

Hier setzt Gramsch mit seiner personengeschichtlich angelegten Arbeit an und verfolgt zwei Ziele: Zum einen will er „einen durch bestimmte Universitätsangehörigkeit (Erfurt) abgegrenzten Teil der gelehrten Akteure in ihren individuellen Biografien deutlicher als bisher erkennbar machen” (S. 10). Damit sollen sowohl Bausteine zur Geschichte der mittelalterlichen Universität Erfurt geliefert als auch weitere Forschungen auf ereignis-, verfassungs- und bildungsgeschichtlichem Gebiet erleichtert werden. Zum anderen versucht er, den Stellenwert zu ermitteln, den die juristische Ausbildung in bestimmten Bereichen der mittelalterlichen Gesellschaft gewinnen konnte, indem er untersucht, wo und in welchem Maße gelehrte Juristen in gesellschaftliche Schlüsselstellungen eindringen konnten. Dadurch sollen Verwissenschaftlichungsvorgänge des herrschaftlichen Handelns im Deutschland des späten Mittelalters, die mit der Rezeption des gelehrten Rechts einhergingen, sichtbar gemacht werden.

Arbeitsgrundlage bildet die prosopografische Erfassung aller Personen, die als Besucher der Universität Erfurt und akademisch ausgebildete Juristen im genannten Zeitraum in den Quellen festzustellen sind. Dabei wurden nicht nur Universitätsmatrikel-Editionen, einschlägige Urkundenbücher und Sekundärliteratur ausgewertet. Gramsch hat erstmals für eine größere Personengruppe, die nicht durch die Mitgliedschaft in einem Stiftskapitel gebildet wird, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Universität, konsequent auch die bis jetzt erschlossene serielle vatikanische Überlieferung herangezogen, also, um nur die umfangreichsten zu nennen, die päpstlichen Supplikenregister in Form des Repertorium Germanicum und die Akten des päpstlichen Buß-, Beicht- und Gnadenamtes in Form des Repertorium Poenitentiariae Germanicum. Diese Quellen liefern vor allem Angaben zu anvisierten und erlangten Pfründen, so dass Aussagen über den außeruniversitären Verbleib der Rechtsstudenten und ihre Tätigkeiten möglich werden.

Der so entstandene Personenkatalog mit über 700 Biogrammen, die nach dem Grundschema aufgebaut sind, das von Stiftskapitelmonografien her bekannt ist – soziale Herkunft, Weihegrad, Pfründenvita, Studium, „berufliche” Tätigkeit, Todesdatum –, steht auf einer mitgelieferten CD-ROM zur Verfügung. Von dem verschlagworteten Datenmaterial ausgehend hat Gramsch eine Kreuzwerttabelle erstellt, die sowohl eine einfache Auszählung der vergebenen Stichworte als auch die Bildung von Untergruppen ermöglicht (S. 567-635). Wie an einer Entfernungstabelle in einem Autoatlas lassen sich in Bezug auf soziale Herkunft, Bildungswege, (Pfründen-)Karrieren und Tätigkeitsfelder ebenso rasch statistische Befunde erheben wie signifikante Unterschiede zwischen Teilgruppen und der Juristengesamtheit ablesen.

Aus der Fülle der überaus umsichtig ausgewerteten Ergebnisse sei exemplarisch eines hervorgehoben als Beleg dafür, dass die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Erfurter Universitätsgeschichte leistet. Nimmt man den Promotionsort der Angehörigen des Erfurter Juristenlehrkörpers als Kriterium, so zeichnen sich in Erfurt drei Perioden ab, die durch ein jeweils anderes Rekrutierungsmuster gekennzeichnet sind: Zuerst, bis 1430, eine „deutsche Phase”, in der vorwiegend „Hauspromovierte” und an anderen deutschen Universitäten Graduierte in den Lehrkörper aufgenommen wurden. Dann, bis etwa 1470, eine „italienische Phase”, in der Absolventen italienischer Universitäten die Hälfte der Lehrenden stellten. Und zuletzt eine „Erfurter Phase”, in der die „Hauspromovierten” dominierten. Angesichts der im Vergleich zu Köln und Heidelberg sehr viel geringeren Promotionszahlen lässt sich daraus ableiten, dass die Erfurter Doktorpromotion in erster Linie ein „Instrument der Selbstergänzung des Lehrkörpers” war (S. 545). Wer dagegen die juristische Graduierung als Qualifikation für außeruniversitäre Bereiche anstrebte, musste dazu auf andere Universitäten ausweichen, vor allem italienische. Auf das Italienstudium vorzubereiten, scheint geradezu der Hauptzweck der Erfurter Juristenausbildung gewesen zu sein.

In welche Bereiche der spätmittelalterlichen Gesellschaft konnte man mit einer Juristenausbildung noch vordringen? Dieser Frage waren zuvor schon Heinz Lieberich, Hartmut Boockmann, Dietmar Willoweit und Jürg Schmutz nachgegangen. Anhand der späteren Lebenswege von Rechtsstudenten hatten sie bereits nach dem fördernden Einfluss des Studiums auf mögliche Karrieren gefragt. Ihre Antworten waren indes ernüchternd ausgefallen: Ein Berufsbild „Jurist” hat es bis weit ins 15. Jahrhundert nicht gegeben. Und beim Versuch, in einflussreiche Positionen zu gelangen, spielten in der Regel die traditionellen ständischen Rekrutierungsmechanismen über Beziehungsgeflechte (Bekanntschaft, Verwandtschaft, Patronage) eine mindestens ebenso große Rolle wie – am besten in Italien erworbene – Rechtskenntnisse.

Gramsch kommt insgesamt zu ähnlichen Ergebnissen. Allerdings hat er gegenüber den Vorgängerstudien sowohl das betrachtete „Feld juristenspezifischer Tätigkeiten” (S. 383) seiner Probanden erheblich verfeinert als auch ihre soziale Herkunft stärker berücksichtigt. Die Tätigkeitsfelder, in denen Erfurter Juristen zu beobachten sind, unterteilt er in 17 „Berufskategorien”. Durch diese differenziertere Betrachtung kann er etwa für die Untergruppe der pauperes, der „armen” Universitätsbesucher, zeigen, dass nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein statistisch belegbarer kausaler Zusammenhang in der Aufeinanderfolge von Rechtsstudium und Pfründenerfolg bestand. Insofern war zumindest für einen Teil der Rechtsstudenten das Studium tatsächlich mit sozialem Aufstieg verbunden. Von der Zahl der nachgewiesenen Juristen her sowie im Hinblick auf weitere Karrierechancen waren insgesamt Beschäftigungen an Kurie bzw. Konzil, im Fürstendienst, in der akademischen Lehre, als Offizial oder im Dienst einer Stadt die bevorzugten „Berufsziele” der Juristenausbildung.

Ob diese Rangfolge nun auch den Stellenwert widerspiegelt, den „Juristenberufe” im Prozess der „Verwissenschaftlichung herrschaftlichen Handelns” im Deutschland des 15. Jahrhunderts gewinnen konnten, bleibt aber letztlich offen. Und das liegt daran, wie Gramsch selbst einräumt, dass diese Frage vom Ansatz der vorliegenden Arbeit her nicht zu beantworten ist (S. 558). Denn seine personengeschichtliche Untersuchung zum Wirken der Erfurter Rechtsstudenten basiert allein auf der „Vermutung, ihre Befähigung als Jurist entspreche irgendwie ihrer viel leichter nachweisbaren Studienbiographie” (S. 10f., Anm. 20). Um den tatsächlichen Einfluss juristischen Denkens und Argumentierens auf das Regierungshandeln festzustellen, müssten aber konkrete Arbeitsabläufe in die Betrachtung mit einbezogen werden. Die vorliegende solide prosopografische Basis wäre demnach zu ergänzen durch Untersuchungen zur Verbreitung in Italien entstandener juristischer Handschriften, zu in Deutschland verfertigten juristischen Texten und zu ihrer Verwendung in der Verwaltung, bei der Legitimierung von Herrschaft oder bei bestimmten politischen Aktionen. Erst wenn diese Kärrnerarbeit geleistet ist, wird die „Rezeption des Gelehrten Rechts in Deutschland” nicht mehr missverstanden werden.

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