C. Kleinert: Philibert de Montjeu (1374-1439)

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Titel
Philibert de Montjeu (ca. 1374-1439). Ein Bischof im Zeitalter der Reformkonzilien und des Hundertjährigen Krieges


Autor(en)
Kleinert, Christian
Erschienen
Ostfildern 2004: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Prietzel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universtät zu Berlin

Zwei Höhepunkte kennzeichnen das Leben des Philibert de Montjeu: zunächst die Präsidentschaft des Basler Konzils während weniger, aber arbeitsreicher und Richtung weisender Monate; dann die Leitung jener Gesandtschaften, die sich im Auftrag der Synode – schließlich mit Erfolg – um die Verständigung mit den Hussiten bemühen sollten. Beide Posten betrafen Probleme, die im Europa der 1430er-Jahre von größter Tragweite waren. Das Vorhaben, das Leben dieses Mannes zu untersuchen, verspricht daher tiefe Einblicke in die Geschichte dieser Zeit. Tatsächlich erfüllt die vorliegende, von Heribert Müller betreute und schon 1994/95 an der Universität Frankfurt am Main angenommene Dissertation diese Erwartung durchaus. Doch handelt es sich nicht um eine klassische Biographie, die Zeit und Ereignisse aus dem Blickwinkel ihres Protagonisten darstellt. Die Quellen, so warnt Kleinert seine Leser gleich zu Beginn, geben über Philiberts Handeln nicht viel, über sein Denken fast nichts zu erkennen. Das liegt vor allem daran, dass Philibert insgesamt eine bestenfalls zweitrangige Figur war, der kaum einmal die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen galt. So versucht Kleinert, die Einflüsse, die Philiberts Leben bestimmten, indirekt zu ermitteln, vor allem durch die Erforschung jener Gruppen, innerhalb derer er wirkte: durch Personengeschichte.

Sechs Kapitel folgen chronologisch dem Lebenslauf des Protagonisten und gehen dabei immer wieder auf die Männer in Philiberts Umgebung ein. Ein siebtes Kapitel schildert die Schicksale des Bistums, der Verwandten und der Getreuen nach dem Tod des Prälaten. Eine Schlussbemerkung resümiert die Beobachtungen zu Philiberts Leben. Stammtafeln, Orts- und Personenregister runden das Werk ab.

Väterlicherseits aus altem burgundischen Adel stammend (Kap. 1) studierte Philibert an der Universität Paris (Kap. 2). 1406 trat er in den Dienst Herzog Johanns Ohnefurcht von Burgund ein, wo er sich als wenig auffälliger, aber fähiger Verwaltungs- und Finanzfachmann sowie Organisator erwies. Im Jahr 1419 fand seine Karriere ein Ende, als Johann Ohnefurcht ermordet wurde (Kap. 3). Erst einige Jahre später erschien Philibert wieder auf der politischen Bühne, zunächst 1423 auf dem Konzil in Pavia und Siena, wohl als inoffizieller Interessenvertreter der anglo-französischen Regierung, welche den besetzten Nordteil des Königreichs beherrschte, dann ab 1426 als Rat in dieser Regierung. Seine Bemühungen trugen ihm 1424 das Bistum Coutances in der Normandie ein (Kap. 4). Für das Basler Konzil setzte er sich von Anfang an engagiert ein (Kap. 5), was sich insofern auszahlte, als er 1432 als Präsident des Konzils, ab April 1433 dann als Leiter der Gesandtschaften zu den Hussiten agieren durfte. Nach der Einigung mit den Böhmen versuchte er als vom Konzil ernannter apostolischer Legat vorsichtig, den katholischen Glauben in Böhmen wieder zu festigen (Kap. 6). Er starb am 19. Juni 1439 in Prag.

Der hier wiedergegebene biographische Strang tritt in Kleinerts Darstellung häufig zugunsten der Personengeschichte zurück, ja einige Untersuchungen führen von Philiberts Person recht weit fort (z. B. in Kap. 7). Kleinert selbst gesteht eine gewisse „Unübersichtlichkeit der Darstellung“ ein, rechtfertigt dies jedoch damit, ein „Mehr an Übersichtlichkeit“ hätte zu einem „Weniger an Wahrhaftigkeit“ geführt (S. 468). Offenbar misstraut er – ganz zu Unrecht – der Plausibilität der eigenen Schlüsse über die Motive Philiberts und seiner Zeitgenossen, wie er auch die wenigen Momente, die Hinweise auf die Motivation von Philiberts Handeln geben, bezeichnenderweise nur verhalten betont. Doch mag auch die Darstellung mitunter sperrig sein, so kann dies keineswegs verdecken, dass hier reiche Erträge versammelt sind.

Welche Erkenntnisse die Personenforschung bietet, zeigen am deutlichsten die Abschnitte über Herkunft, Studium und Pfründkarriere Philiberts (Kap. 1, 2 und 3.2). Die Montjeus, ohnehin eine der vermögendsten Adelsfamilien Burgunds, bauten ihre Stellung noch aus, indem Philiberts Vater eine Frau aus einer Familie von Aufsteigern heiratete, die wiederum verwandtschaftlich eng mit anderen Aufsteigern, ursprünglich nicht-adligen Juristen und Finanzfachleuten, verbunden war. So wurde Philibert in ein weit ausgreifendes Netz von Beziehungen hineingeboren, das die ihm Angehörenden zuverlässig voranbrachte. Nicht durch Zufall ging der Student ausgerechnet an das Dormans-Kollegium der Pariser Universität; er war mit dem längst verstorbenen Stifter der Institution weitläufig verwandt. Noch lange nach seinem Studium profitierte Philibert von alter Bekanntschaft zu anderen Dormans-Kollegiaten.

Familientraditionen und günstig positionierte Verwandte bestimmten den Lebensweg auch nach dem Studium. Schon seit Jahrzehnten standen die Montjeus in Diensten der Herzöge von Burgund, jetzt konnte Philibert ebenfalls dort Fuß fassen, nicht zuletzt weil ein Onkel, Jean II. de Saulx, dort seit 1405 als Kanzler amtierte. Dessen Bruder Philibert de Saulx protegierte die geistliche Karriere des jungen Philibert. Die erste Pfründe, eine Kaplanei, übertrug ihm dieser zweite Onkel, der als Kanoniker gerade turnusgemäß das Präsentationsrecht seines Stifts wahrnahm. Philibert de Montjeu tauschte sie später mit seinem eigenen Bruder Aymonin gegen eine andere Kaplanei. Als der Onkel zum Bischof von Amiens avancierte, musste er seine bisherigen Pfründen aufgeben; der Neffe Philibert übernahm daher das Archidiakonat von Beaune, bald darauf erhielt er auch ein Kanonikat an der Kathedrale von Amiens, wenig später ein Archidiakonat im Bistum Amiens. Einem dritten Onkel, Pierre de Montjeu, verdankte er eine Pfarrei bei Lyon. Philibert selbst versuchte später seine Neffen zu versorgen, seine Brüder profitierten in ganz ähnlicher Weise von den Beziehungen der Familie. Und wo weder Studienkollegen noch Verwandte zur Verfügung standen, fanden sich wenigstens Männer aus der Heimatregion - wie auf dem Basiliense, wo Philibert engen Kontakt zu zwei Konzilsvätern aus Burgund, Abt Alexander von Vézelay und Barthélemy du Fraigne, hielt.

Gewiss: Dass es so funktionierte, hat man schon gewusst. Aber wie es genau funktionierte, wurde an einem Einzelfall wohl nie mit so unermüdlicher Akribie und wachem Blick für größere Zusammenhänge beschrieben. Dieses Beispiel füllt Hunderte von prosopographischen Notizen über spätmittelalterliche Kleriker (im Repertorium Germanicum, in der Germania Sacra, in den Fasti Ecclesiae Gallicanae) mit prallem Leben. Immer wieder zeigt sich zudem in eindrucksvoller Weise, wie wichtig diese weit verzweigten Beziehungsnetze nicht nur für die einzelnen Menschen, sondern auch für die große Politik waren.

Doch erklären solche Beziehungsnetze nicht alles, wie Kleinert selbst schlüssig zeigt. Philibert war gerade in der bedeutendsten Phase seines Lebens, im Umfeld des Basler Konzils und in Prag, nicht in solche weithin ausgreifenden Netze eingebunden, ja gerade diese Schwäche stellte in diesem Fall seine Chance dar. Der aus Burgund stammende Bischof einer normannischen Diözese war einfach zur Stelle, hatte sich schon zuvor als pflichtbewusst und zuverlässig erwiesen, war am burgundischen Hof wie in der anglo-französischen Verwaltung bekannt, verfügte aber hier wie dort nicht wirklich über Rückhalt, war – anders gesagt – harmlos, weil niemandem mit Haut und Haaren verschrieben, seine Ernennungen störten niemanden wirklich, nutzten allen ein wenig – kurz: Er war der personifizierte Kompromiss.

Neben diesen Erkenntnissen zur Bedeutung von personellen Verknüpfungen bietet das Werk eine Fülle von interessanten Darlegungen zu unterschiedlichsten Phänomenen, z. B. zur Lokalgeschichte von Besançon, zur Finanzierung des Basiliense oder zur wirtschaftlichen Situation der Normandie in den 1430er-Jahren, vor allem aber zu einer Vielzahl von Personen.

Das Buch versammelt also vielfältige Erträge: zu Philibert de Montjeu sowie seinen Verwandten, Freunden und Weggefährten, zur nordfranzösischen Kirchengeschichte, zum Basler Konzil, insgesamt zur Bedeutung personeller Verflechtungen für die Geschichte des späten Mittelalters. Auch bei Fragen, die mit seinem Titel auf den ersten Blick nichts zu tun haben, verdient diese gründliche Untersuchung daher gebührende Beachtung.

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