S. Bock u.a. (Hgg.): DDR-Außenpolitik im Rückspiegel

Cover
Titel
DDR-Außenpolitik im Rückspiegel. Diplomaten im Gespräch


Herausgeber
Bock, Siegfried; Muth, Ingrid; Schwiesau, Hermann
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

In der Masse der Literatur über die DDR wird die Außenpolitik wenig behandelt. Daher beanspruchen die im vorliegenden Sammelband enthaltenen rückblickenden Betrachtungen Beteiligter Interesse. Die ehemaligen Funktionsträger Erich Albrecht, Wolfgang Bator, Siegfried Bock, Wolfgang Bayerlacher, Peter Florin, Hans Hartitz, Franz-Karl Hitze, Norbert Jaeschke, Gerd König, Joachim Krüger, Roland Lindner, Claus Montag, Ingrid Muth, Joachim Naumann, Otto Pfeiffer, Hans Schindler, Hans-Georg Schleicher, Hermann Schwiesau und Karl Seidel fanden sich zu einem Gesprächskreis zusammen, um Erfahrungen auszutauschen und das Gedächtnis an ihre frühere Tätigkeit zu pflegen. Es wurden Referate gehalten und besprochen. Die Ergebnisse finden ihren Niederschlag in der vorliegenden Publikation. Obwohl alle um kritische Aufarbeitung des Gewesenen bemüht waren, handelt es sich natürlich um subjektive, von Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung bestimmte Darstellungen. Hoffnungen des Lesers, ab und zu kleine Goldkörner von Informationen zu finden, die nicht in den Akten stehen, werden für die 1950er und 1960er-Jahre durchgängig enttäuscht. Darüber sind die Autoren offensichtlich nur durch Hörensagen beziehungsweise aus schlechten Publikationen unterrichtet, deren Wahrheitsanspruch sie ungeprüft akzeptiert haben. Fehlurteile und Falschangaben sind die Folge.

Ein Musterbeispiel für den Mangel an Quellenkritik ist Peter Florins auf den Leiter der Auslandsaufklärung unter Stalin, Pavel Sudoplatov, gestützte These, das sowjetische Motiv für die Blockade West-Berlins 1948/49 habe "nicht in der Zuspitzung der Lage in Europa, sondern in Überlegungen in den USA" gelegen, "in China die Atombombe einzusetzen" (S. 41). Das bleibt als Faktum stehen, obwohl es keine entsprechenden Hinweise gibt und sowjetische Archivdokumente anderes bezeugen. Die Westmächte, die der UdSSR seit Mitte 1947 kein Veto mehr bezüglich ihrer Zonen zugestanden und den Wiederaufbau in Westeuropa und Westdeutschland erfolgreich eingeleitet hatten, sollten an ihrer Politik gehindert und aus Berlin vertrieben werden. Ein Erfolg der Blockade und westliche Unterwerfung unter die Forderung, zwecks Erhalt einer durch sowjetische Währungshoheit unterminierten Berlin-Präsenz auf den "Weststaat" zu verzichten, hätten gleichermaßen beides nach sich gezogen. Stalin wollte die Deutschen im Westen, die ihre Besatzungsmächte als Schutz vor sowjetischer Expansion ansahen, von deren Machtlosigkeit überzeugen und sie damit zur Hinwendung zur UdSSR nötigen. Florin ignoriert dieses klare Zeugnis der amtlichen Quellen und folgt Sudoplatov, dessen ohne Dokumentenbasis aufgestellte Behauptungen großenteils von den Historikern in das Reich der Legende verwiesen werden.

Als leichtgläubige Übernahme von Thesen, die dem Wunsch nach Schuldzuweisung an den Westen entsprechen, muss auch gelten, dass die sowjetische Deutschland-Note vom 10. März 1952 in voller Selbstverständlichkeit als Angebot zur Auflösung der DDR im Interesse der Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staates hingestellt wird (S. 49f). Wie großzügig mit historischen Daten umgegangen wird, zeigt sich etwa daran, dass die - seit Jahresbeginn vorbereitete - II. SED-Parteikonferenz vom Juli 1952, auf welcher der "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" und damit die Abkehr von der bisher deklarierten bloß "antifaschistisch-demokratischen Entwicklung" verkündet wurde, kurzerhand zur "3. Parteikonferenz" erklärt und um einen Tag nach vorne verlängert wird (S. 50).

Auch bleiben offensichtliche Widersprüche unkommentiert stehen. Während Joachim Krüger als Soldat der Frühzeit weiß, dass der "sukzessive planmäßige Aufbau bewaffneter Streitkräfte seit 1948" im Gange war (S. 77), erklärt Hermann Schwiesau - auf dessen Darstellung sich Krüger übrigens affirmativ bezieht! - kurz vorher, "bis etwa 1952" sei die DDR "auf die Einheit Deutschlands, auf Neutralität und gegen die Wiederbewaffnung orientiert" gewesen. Es habe einen "breiten Konsens" gegeben: "Ohne uns! Wir fassen keine Waffe mehr an." (S. 75) Dabei bleibt außer Betracht, dass dies zwar für die Bevölkerung und die Propaganda gilt, nicht aber für das faktische Vorgehen. Die UdSSR formierte seit 1948 insgeheim deutsche militärische "Bereitschaften" für Kleinoperationen, die als "Kasernierte Volkspolizei" 1952 zur Koalitionsarmee für den großen Krieg zwischen Ost und West umstrukturiert und erweitert wurden.

Auf einer Verwechslung von Propaganda und Politik beruht auch die These von Siegfried Bock, die SED habe sich bis zum Görlitzer Vertrag von 1950 gegen die Oder-Neiße-Linie gewandt (S. 44f.). Die UdSSR, von der die SED-Führung nach übereinstimmender Ansicht total abhängig war (siehe vor allem S. 77), verbot ihr scharf "nationalistischen" Widerspruch gegen Stalins Entscheidung. Diesem Diktat musste sich die SED beugen. Als diese freilich 1946/47 durch Proteste der CDU und LDP gegen die Abtrennung der Ostgebiete in Bedrängnis geriet, wurde ihr kurzzeitig erlaubt, propagandistisch gegenzuhalten. Dabei war von vornherein klar, dass es sich um eine momentane innenpolitische Aushilfe handelte, von der wieder Abstand genommen wurde, sobald der kritische Moment überwunden war (was bereits während des Jahres 1947 der Fall war). Wilhelm Pieck als Sohn einer durch die neue Grenze auseinander gerissenen Stadt und andere hätten zwar gerne aufbegehrt, mussten sich aber fügen. Zu Recht erklärt - freilich in anderem Zusammenhang - Bock, man habe "nie territoriale Forderungen gestellt" und stets die Position vertreten, "die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs anzuerkennen" (S. 73).

Besser als über frühere Phasen der DDR zeigen sich die Autoren über deren spätere Politik informiert. Nach Ingrid Muth war "die friedliche Koexistenz" eine "wichtige Form des internationalen Klassenkampfes", also des Kampfes gegen den Westen, und diente dem Zweck, "von vornherein ideologische Koexistenz, 'Klassenfrieden zwischen den Ausgebeuteten und den Ausbeutern' und die Aufrechterhaltung des sozialökonomischen Status quo aus[zu]schließen", um die Option des "ideologischen Klassenkampfes" auf der innerstaatlich-gesellschaftlichen Ebene aufrechtzuerhalten (S. 70f.). An einigen Stellen treten Auffassungsunterschiede hervor. Ingrid Muth bezweifelt, dass, wie andere Autoren rühmend hervorheben, die DDR den Frieden stets als oberstes Ziel angestrebt habe. Vielmehr sei bis Anfang der 1970er-Jahre das Bemühen um Anerkennung und Gleichrangigkeit in der nicht-sozialistischen Welt vorrangig gewesen (S. 43), während in weiten anderen Bereichen die Beziehungen zur UdSSR, die "über Existenz und Nichtexistenz der DDR entschieden" (S. 63), keine selbständige Außenpolitik erlaubten.

Die Darstellungen zur Honecker-Zeit enthalten zuweilen interessante Details. Einige Episoden nicht aktenkundiger Interaktion mit der UdSSR sind aufschlussreich. Die Diplomaten der DDR mussten sich auf der KSZE selbst in nachrangigen Einzelfragen sowjetischem Gutdünken unterwerfen (S. 110-112). Gromyko rastete 1978 bei der Erörterung des - diesmal nicht zur vorherigen Genehmigung unterbreiteten - deutsch-deutschen Kooperationsprojekts Hamburger Autobahn "völlig aus" (S. 183f.). Das Urteil westlicher Historiker, dass die Regierung Brandt-Scheel bei den Verhandlungen über den Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten mit großem Geschick und Erfolg die innenpolitische Gefährdung ihrer Existenz zu nutzen verstand, wird durch DDR-Unterhändler Karl Seidel bestätigt (S. 179). Die Autoren sprechen immer wieder die ständige wirtschaftliche Schwäche an, welche die Handlungsfähigkeit - etwa in der Dritten Welt und gegenüber der Bundesrepublik - außerordentlich einschränkte und die DDR bei innerdeutschen Geschäften zu Konzessionen zwang, die nicht nur dem Kreml problematisch erschienen. Die UdSSR kündigte unter Hinweis auf ihre Unfähigkeit zu weiterer materieller Hilfe im November 1986 die bisherige innenpolitische Existenzgarantie für das SED-Regime auf und leitete damit dessen Untergang ein. Dieses ging bis Ende 1989 von einer nur allmählichen Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten aus, was ihm eine weitgehende Wahrung seiner Positionen ermöglicht hätte, wie etwa der Äußerung Norbert Blüms beim Dresden-Besuch Kohls zu entnehmen gewesen sei, die Vereinigung könne nicht so rasch erfolgen, wie sich das die dem Bundeskanzler zujubelnden Leute sich vorstellten (S. 180).

Wenn man die Ausführungen über die Frühzeit ignoriert und die Angaben über die Honecker-Zeit in ihren Zusammenhang stellt, bietet der Sammelband Informationen, die das Bild der DDR-Außenpolitik stellenweise illustrieren und ergänzen. Ein Abkürzungs- sowie Namensverzeichnis erschließen den Text.

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