H.W. v.d. Dunk: Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Cover
Titel
Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.


Autor(en)
von der Dunk, Hermann Walther
Erschienen
Anzahl Seiten
608 S., 696 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Pünktlich zum Jahrtausendende hat der aus Deutschland stammende, seit 1937 in den Niederlanden lebende und später dort lehrende Kulturhistoriker Hermann Walther von der Dunk eine Bilanz des gerade ausgehenden 20. Jahrhunderts vorgelegt. Nun, nach vier Jahren, ist dieses nicht nur von seinem Umfang, sondern auch von seinem Anspruch her imposante Alterswerk in deutscher Übersetzung und in zwei mit technisch erstklassigen Farbabbildungen ausgestatteten Bänden erschienen.

Eine lapidar und souverän betitelte „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ – da müssen zunächst Zuschnitt und Format überraschen. Der Titel verspricht nicht weniger als eine ambitionierte Gesamtinterpretation der Jahrhundertgeschichte, der Geschichte eines zerrissenen, gewalttätigen, polarisierenden, machtbesessenen, aber auch emanzipatorischen, partizipatorischen und wohlstandsorientierten Jahrhunderts, dessen Konsequenzen für uns heute erst allmählich klar werden. Umfang und Register verheißen einen geradezu enzyklopädischen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Gliederung schließlich lässt tatsächlich hoffen auf eine Art Synthese von der Kulturgeschichte her, und das in einer Zeit, in der nicht wenige kulturgeschichtliche Strömungen das Ende und die Unmöglichkeit der historischen Synthese schlechthin verkünden.

Ein scheinbar so unzeitgemäßer – damit vielleicht unabhängiger, unangepasster – Ansatz könnte eine Menge kreativer und produktiver Energie freisetzen. Was macht dieses Bild des 20. Jahrhunderts aus kulturhistorischer Perspektive nun aus, und wie bändigen Interpretationsmut und erzählerische Kraft des Verfassers die Fülle des herangetragenen Materials? Die Einleitung sorgt für erste Ernüchterung. Sie macht deutlich, dass von der Dunk bereits die in der Tat uferlos ausgebreiteten Debatten über den Kernbegriff der „Kultur“ als Ausdruck einer beherrschenden Entwicklungstendenz begreift, gegen die er mit ihrer ausführlichen Erörterung und Illustration trotzig und ein wenig melancholisch zugleich anschreiben will. Am Ende versammeln sich unter „Kultur“ für ihn nach wie vor und trotz aller aktuellen Diskussion „die höheren ästhetischen und intellektuellen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes“, und zwar nicht weltweit, weil auch andere Kontinente durch ein 20. Jahrhundert gegangen sind, sondern wie selbstverständlich bezogen auf das „christlich-aufgeklärte Europa“ (S. 9). Im Verlauf der Darstellung wird deutlich, dass auch unter dieser Prämisse der engere deutsche Sprachraum Vorrang genießt und daneben noch die französische Hochkultur, sehr viel sparsamer dagegen die englische und nur marginal die restlichen europäischen Kulturen vorkommen. Wer sich aus dem niederländischen Blickwinkel eine erfrischende Sicht auf die europäische Geschichte erhofft hat, hofft vergebens.

In Rumsfeldscher Diktion erschiene von der Dunk als Verteidiger eines „alten Europa“. Ein schleichender zivilisationskritischer Antiamerikanismus ist als Unterton ohnehin unüberhörbar, spielen die USA über weite Strecken des Buches doch vor allem die Rolle des ungeliebten kulturellen Hegemons, dessen nicht wegzuleugnende Einflüsse unter dem Strich einer negativen Bilanz anheim fallen. Auch Russland und zwischenzeitlich die Sowjetunion erscheinen vor allem als Bedrohungsfaktoren. Wenn man aber eine Kulturgeschichte „Kerneuropas“ als Geschichte eines fortschreitend scheiternden Solipsismus anlegt, ist eine melancholische Grundtendenz vorherbestimmt.

Dieser Grundton prägt die Erzählstruktur des Buches. Der Verfasser geht davon aus, damit einen „realhistorischen“ „roten Faden“ abzubilden, „der sich durch die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zieht: mit der Verschiebung des normativen Standards von dem einer Elite zu dem der breiten Mittelschicht. Sie war die direkte Folge eines Emanzipationsprozesses und einer Einebnung von Rangordnungen und Hierarchien, die wiederum entsprechende Konsequenzen haben mussten, was die Anerkennung ästhetischer und geistiger Hierarchien betraf. Dieses Verschwimmen der Normen ist damit selbst ein kulturelles Phänomen, und zwar eines von erster Ordnung“ (S. 10). Das 20. Jahrhundert ist für von der Dunk also in erster Linie eine Verlustgeschichte – eine Geschichte des Wertverlusts, und zwar infolge sozialer Egalisierung, Vermassung und eines zunehmenden Materialismus.

Damit beantwortet sich die Frage nach dem Innovativen dieses Werks auf absolut enttäuschende Weise: Seine Unzeitgemäßheit besteht in einem heute selten mit einem solchen subversiven Gestus vorgetragenen altmodischen Kulturpessimismus. Es handelt sich um die ganz persönliche Abrechnung von der Dunks mit „seinem“ 20. Jahrhundert. An dessen Ende schreibt er gegen die kulturellen Entwicklungen an, mit denen er sich eine Karriere und ein Leben lang hat herumschlagen müssen. Vor diesem Hintergrund wird auch der Aufbau der beiden Bände transparent: Es handelt sich um eine in Phasen verlaufende Verfallsgeschichte der abendländischen Hochkultur, als deren treibende Kräfte weniger die Exzesse von Diktatur, Gewalt und Völkervernichtung erscheinen (obwohl sie der Chronist skizzenhaft registriert), sondern die fortschreitende Enthierarchisierung und soziale Nivellierung der Gesellschaft. Obwohl von der Dunk beansprucht, mit der Integration von Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte Kulturgeschichte „auch teilweise [als] eine Gesellschaftsgeschichte“ zu schreiben (S. 11), bleiben diese Elemente mit dem Gang der Interpretation unverbunden und im Einzelnen oberflächlich bis klischeebehaftet, jedenfalls weit hinter dem historischen Diskussionsstand herhinkend. Der implizite Nexus besteht in der Relativierung von Werten in diesen Sphären und der sich daraus ergebenden Verflachung ästhetischer Normen und hochkultureller Ausdrucksformen.

Das wirkt sich auf die Darstellung aus, die auf eine bei aller enzyklopädischen Dichte doch willkürlich anmutende Zusammenstellung von knapp (und oftmals allzu verkürzend) kommentierenden und umso freizügiger wertenden Künstler- und Wissenschaftlerporträts bzw. Ideen- und Werkskizzen hinausläuft. Unwillkürlich stellt sich schnell eine Lesehaltung ein, die sich im Blättern nach dem Motto: „Was sagt er denn zu der/zu dem?“ erschöpft. Rasch verkommt auch das zum Ratespiel: „Wer wird erwähnt, wer ausgelassen?“ Dass die Konsum- und Populärkultur angesichts der qualitativen Unterschiedlichkeit der Kurzkommentare schon bei hochkulturellen Themen noch einmal stark abgewertet vorkommt, überrascht nicht mehr. Ärgerlicher sind wissenschaftsgeschichtliche Passagen wie diejenige (nur als ein Beispiel) über die „Postmoderne“, in der Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Hayden White und Clifford Geertz über ein- und denselben kurzzackigen Kamm geschoren werden. Ist es hier die Nase rümpfende Simplifizierung des Verfassers, die den Eindruck der „Verflachung“ bewirkt? Nachdem die Jugendrebellion der 1960er-Jahre und ihre kulturellen Folgen schon unter dem Rubrum der „Entweihung der Künste“ erscheinen, ist das Großkapitel, das jene Passagen enthält, mit dem endgültigen Verdikt „Kultur ohne Kompass“ belegt.

Mir scheint diese Bilanz des 20. Jahrhunderts eher von seinem Beginn als von seinem Ende her konzipiert zu sein. Denn wie legitim auch immer eine solche elitär-bildungsbürgerliche Arroganz sein mag, für die sich zwischen Robert Musil und Mick Jagger Abgründe auftun – die Frage bleibt, welche Orientierung sie noch für historisch interessierte Generationen bieten kann, die sich aus dem 20. Jahrhundert einen Reim machen und mit seinen kulturellen Konsequenzen tagtäglich umgehen müssen. Da von der Dunk die menschliche Spezies, die Musil und Jagger – vielleicht aus unterschiedlichen Gründen, aber gleichermaßen – schätzt, „kulturelle Allesfresser“ nennt und eine andere als seine elitäre Haltung unter den Verdacht stellt, die Entwicklung der Gesellschaft zu einer Ansammlung „geistiger Amöben“ zu befördern (S. 12), verstärkt sich der Eindruck, dass ihn diese Frage – eine durchaus zentrale „Kulturwertfrage“ im Sinne Max Webers – nicht schert. Hier hat jemand, weil er nicht anders konnte, sein letztes Wort gesprochen.

Dazu passt, dass von der Dunk mit einer ebenso pessimistischen wie trotzigen Passage ausgerechnet über die „[a]ngepasste Geschichtswissenschaft“ schließt. In einem sehr stark auf die deutsche Entwicklung bezogenen Porträt der Sozialgeschichte, der er politisches Verdienst („Sonderweg“) zuspricht, aber „neupositivistisches Strukturdenken“ vorwirft (Bd. 2, S. 627ff.), führt er deren Bedeutungsverlust in der öffentlichen Wahrnehmung der gebildeten Kreise auf dieselben unheilvollen Demokratisierungstendenzen zurück, die die Gesamtgesellschaft prägten. Der Mensch und die Erzählung seien in quantitativen Daten und trockenen „wissenschaftlichen“ Spezialistentexten untergegangen. Die Einflüsse der „Postmoderne“ hätten den Rest besorgt. So rechnet von der Dunk am Ende auch mit der akademischen Historiografie ab: Im Dämmerlicht eines allgemeinen Orientierungsverlusts schwenkt er seine „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ als Fackel einer einzig zugänglichen Geschichtsschreibung, die seiner Meinung nach gerade wegen ihrer konventionellen Form und konservativen Note besonders hell leuchtet.

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