J. Muth: Flucht aus dem militärischen Alltag

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Titel
Flucht aus dem militärischen Alltag. Ursachen und individuelle Ausprägung der Desertion in der Armee Friedrichs des Großen


Autor(en)
Muth, Jörg
Erschienen
Freiburg 2003: Rombach
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Stickdorn, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

„An Gesamtdarstellungen zur Armee Friedrichs des Großen und seiner Person als Feldherr herrscht kein Mangel.“ Mit dieser überaus zutreffenden Bemerkung beginnt der Autor seine Monografie. In der Tat wird die Geschichte des deutschen Heerwesens des 18. Jahrhunderts zumeist auf die preußische bzw. die friederizianische Armee reduziert. Hier jedoch dient sie nur als Hintergrund für die Untersuchung der Desertion. Dabei vermeidet der Autor, unter Hinweis auf die begrenzte Quellenlage, bewusst den Versuch einer Quantifizierung. Vielmehr will er den verschiedenen Beweggründen für Desertion vor dem Hintergrund soldatischer Lebenswirklichkeit auf die Spur kommen. Dieser Ansatz ist nicht gänzlich neu. Gefordert wurde er bereits 1979 von Ernst Willi Hansen 1 – leider ohne ein größeres Echo hervorzurufen. Dem möchte Jörg Muth offenbar abhelfen, indem er Hansens Ausführungen zur Grundlage seiner Arbeit macht.

Die Desertion ist ein Thema, das in den letzten zehn Jahren zu einer gewissen Belebung der Militärgeschichte der Frühen Neuzeit beigetragen hat, die im Nachkriegsdeutschland eher vernachlässigt wurde. Lange Zeit schien unter deutschen Historikern die Meinung vorzuherrschen, das Militär sei eine weitgehend vom Rest der Gesellschaft abgekoppelte Institution, seine Erforschung somit ein Spezialbereich der Geschichtswissenschaft ohne besonderen Erkenntniswert für größere Zusammenhänge. Auch Muth beklagt diesen Umstand völlig zu Recht. Erst jüngst ist ein langsames Umdenken festzustellen. In Bezug auf die Desertion machte Michael Sikora mit seiner Dissertation aus dem Jahr 1994 einen Anfang. 2 Während er sich dabei noch auf die Frühe Neuzeit beschränkte, wurde der zeitliche Fokus bald ausgeweitet. Ulrich Bröckling und Christoph Jahr wären hier beispielhaft zu nennen. 3

Nun gilt die Desertion als ein für die Frühe Neuzeit geradezu epochentypisches Phänomen. 4 Als Begründung wird zumeist das rigide und auf negativer Motivation fußende Disziplinierungssystem angeführt, welches charakteristisch für die Heere des 18. Jahrhunderts gewesen zu sein scheint. John Keegan spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „System militärischer Sklaverei“. 5 In Preußen gipfelte dieses System, folgt man Otto Büsch, in einer ‚Militarisierung‘ weiter Teile der zivilen Gesellschaft Preußens. 6 Diese These, die bislang allgemeine Anerkennung erfuhr, ist in letzter Zeit allerdings in die Kritik geraten, der sich nun auch Muth anschließt. Sein Hauptvorwurf: Büschs Arbeit basiere vornehmlich auf normativen Quellen, woraus sich zwangsläufig ein verzerrtes Bild ergeben müsse. Tatsächlich begrenzt sich der Aussagewert normativer Quellen im Wesentlichen darauf, dass es Normen gab. Ob sie auch eingehalten wurden, erfährt man dagegen nicht; dafür sind andere Quellen notwendig. Muth stützt sich hier vor allem auf Selbstzeugnisse, welche allerdings für einfache Soldaten des 18. Jahrhunderts nur begrenzt zur Verfügung stehen.

Sein Anspruch ist es, zunächst ein möglichst greifbares Bild von den Lebensumständen der preußischen Soldaten zu zeichnen. Vor diesem Hintergrund soll dann geklärt werden, inwieweit Desertion wirklich epochentypisch, d.h. durch das Militärsystem des 18. Jahrhunderts strukturell vorgegeben war oder ob jeweils unterschiedliche individuelle Motivationen vorherrschten. Zu diesem Zweck gliedert der Autor seine Arbeit in sieben Kapitel. Nach einer Einleitung beginnt er mit einer Überblicksdarstellung der wichtigsten Militärsysteme Europas (Kapitel II), um diesen dann das preußische gegenüberzustellen (Kapitel III). In Kapitel IV werden die verschiedenen Motive für eine Desertion und die entsprechenden staatlichen Gegenmaßnahmen beschrieben. In Kapitel V konzentriert sich Muth auf die Lebensbedingungen in den Regimentern der Potsdamer Garnison. Sodann folgt eine Zusammenfassung (Kapitel VI) und schließlich noch ein Nachwort (Kapitel VII).

Diese Gliederung erscheint sowohl klar als auch zielführend. Leider verliert sich diese strukturelle Klarheit etwas, sobald man die Kapitel nicht nur im Inhaltsverzeichnis betrachtet, sondern zu lesen beginnt. So geraten die Kapitel I und II – zwangsläufig – eher oberflächlich und bei einigen wenigen Details auch fehlerhaft, so bei der Beschreibung der verschiedenen Waffengattungen, ihrer Ausstattung und taktischen Aufgaben. Nun handelt es sich hier auch nicht um ein Handbuch; solche gibt es zum Preußischen Heerwesen bereits reichlich. Allerdings umfassen die beiden Kapitel gut die Hälfte des gesamten Buches, ohne dass der Leser viel erfährt, was nicht andernorts schon genauer nachzulesen wäre. Auszunehmen ist hier allerdings die Behandlung der Disziplinarstrafen: Muth unternimmt den höchst interessanten Versuch, das militärische Strafsystem nicht zu isolieren, sondern mit den im Zivilleben angewandten Disziplinierungsmethoden zu vergleichen. Sein Hinweis auf die außerordentliche Brutalität, welche in der handwerklichen Lehre üblich war, lässt das Militär des 18. Jahrhunderts in einem milderen Licht erscheinen und lädt zu weiteren Vergleichen ein.

Sein eigentliches Thema greift der Autor erst im vierten Kapitel auf, indem er zunächst die mannigfaltigen Ursachen für Desertion beschreibt und dabei nach den jeweiligen Rangstufen unterscheidet. Dies wird gut und differenziert dargestellt, allerdings erfährt man auch hier nur wenig wirklich Neues. Allzu oft greift Muth auf Ereignisse zurück, die in der Literatur schon häufig beschrieben wurden, wie z.B. der Fluchtversuch Kronprinz Friedrichs 1730 oder die Massendesertion der 1756 zwangsrekrutierten Sachsen. Die im Titel angekündigte „individuelle Ausprägung der Desertion“ dagegen findet keine intensive Behandlung – der Quellenmangel wird hier eben doch spürbar.

Ergiebiger ist die anschließende Darstellung der staatlichen Gegenmaßnahmen, klar unterschieden nach rechtlicher Norm und – zweifelsohne bedeutsamer – der Rechtswirklichkeit. Zwischen beiden bestand offenbar eine erhebliche Diskrepanz. Vor allem bei der Verhängung der Todesstrafe scheint es eine besondere Zurückhaltung gegeben zu haben. Der preußische Soldat des 18. Jahrhunderts war somit nicht einfach ein austauschbarer ‚Militärsklave‘, sondern vielmehr ein professioneller Kriegshandwerker, in dessen Ausbildung der Staat und sein Regiment viel Zeit investiert hatten. Einen solchen Mann am vorzeitigen Abbruch des Dienstverhältnisses zu hindern macht Sinn, ihn dafür umzubringen dagegen weniger.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt eindeutig im fünften Kapitel, wo sich der Autor auf die Regimenter der Potsdamer Garnison konzentriert (Inf.Reg.Nr. 6, 15, 18 und Fus.Rgt.Nr. 35). Bei diesen Verbänden handelte es sich um Eliteeinheiten, deren Inhaber dem Königshaus angehörten. Diese Verbände können somit schwerlich für die ganze preußische Armee stehen, wie Muth auch selbst einräumt. So war die Desertionsrate in Potsdam deutlich niedriger als andernorts. Trotzdem gelingt es ihm hier, das Leben in einer (wenn auch nicht ganz typischen) preußischen Garnison des 18. Jahrhunderts greifbar werden zu lassen. Dabei erfährt man freilich weniger darüber, warum Soldaten desertierten, sondern vielmehr, warum sie es nicht taten. Zusätzlich räumt Muth mit etlichen Vorurteilen bezüglich der Lebensumstände und sozialen Situation der Soldaten auf – ähnlich wie Ralf Pröve dies schon für die Göttinger Garnison geleistet hat. 7

Die Entkräftung von Vorurteilen, speziell in Bezug auf die Armee Friedrichs II., ist überhaupt ein wesentliches Anliegen des Autors. Zu diesem Zweck fügt er an die Zusammenfassung seiner Ergebnisse im sechsten Kapitel noch ein Nachwort an. Dieses enthält zwar viele ausgesprochen interessante Gedanken. So z.B. die Forderung nach einer Forschung, die sich an einzelnen Regimentern orientieren solle, anstatt die preußische Armee pauschal zu betrachten. Allerdings steht dieses Plädoyer in keinem wirklich zwingenden Zusammenhang zur eigentlichen Fragestellung der Arbeit und wäre in einem gesonderten Aufsatz wohl besser aufgehoben gewesen.

Was eben jene Fragestellung betrifft, kommt Jörg Muth zu dem Schluss, dass Desertion in der Armee Friedrichs nicht strukturell abzuleiten sei, sondern auf individuellen, situationsgebundenen Entscheidungen beruhte. Er geht sogar noch weiter, indem er behauptet, Desertion sei keineswegs typisch für das 18. Jahrhundert, sondern in anderen Epochen im vergleichbarem Umfang vorgekommen – was stimmen mag, aber nur schwer zu beweisen ist. In der Preußischen Armee sei das Problem der Desertion nicht einschneidend gewesen und deutlich hinter dem der Insubordination zurückgetreten. Auch dies mag stimmen, überzeugt aber nicht recht angesichts der umfangreichen Maßnahmen, welche gegen die Desertion ergriffen wurden. Hier stößt eine Vorgehensweise, die ganz auf Quantifizierung verzichtet, zwangsläufig an ihre Grenzen. Nichtsdestotrotz eröffnet Muths Arbeit neue Sichtweisen, die der Diskussion würdig sind. Dass dies mittels provokanter Thesen geschieht, ist sicherlich kein Nachteil.

Anmerkungen:
1 Hansen, Ernst Willi, Zur Problematik einer Sozialgeschichte des Deutschen Militärs im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, in: ZHF 6 (1979), S. 435-460, hier vor allem S. 446.
2 Sikora, Michael, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996.
3 Bröckling, Ulrich; Sikora, Michael (Hgg.), Armeen und ihre Deserteure. Ein vernachlässigtes Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998; Jahr, Christoph, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Berlin 1996.
4 Sikora, Disziplin, S. 13-15.
5 Keegan, John, Die Kultur des Krieges, Berlin 1995, S. 487.
6 Büsch, Otto, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen, Berlin 1962.
7 Pröve, Ralf, Stehendes Heer und Städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713-1756, München 1995.

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