H.-W. Fuchs: Gymnasialbildung im Widerstreit

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Titel
Gymnasialbildung im Widerstreit. Die Entwicklung des Gymnasiums seit 1945 und die Rolle der Kultusministerkonferenz


Autor(en)
Fuchs, Hans-Werner
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 74,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Schmidt, Großhansdorf

Im Zentrum dieser Untersuchung zur Geschichte des Gymnasiums und der Impulse zu seiner strukturellen und inhaltlichen Veränderung seit 1945 steht die Kultusministerkonferenz (KMK) als ein Gremium des deutschen Föderalismus, in welchem sowohl die unterschiedlichen Auffassungen der Länder als auch die bildungspolitischen Positionen der in ihnen regierenden Parteien streitbar aufeinander treffen. Hans-Werner Fuchs, Erziehungswissenschaftler an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, belegt seine als Habilitationsschrift verfasste Analyse bildungspolitischer Auseinandersetzungen durch die Auswertung einer Fülle bisher unveröffentlichter Quellen der KMK, die er als Texte auch gesondert herausgegeben hat.1 Fuchs stellt dem Leser die KMK, die erstmalig am 19./20. Februar 1948 in Stuttgart zusammentrat, als Akteur und ihre Gremien als ausführende Organe (übersichtlich demonstriert durch eine grafische Darstellung auf S. 144) in vier der sieben Kapitel seines Buches detailliert vor:
- Kapitel 3: Koordinierung des Bildungswesens (S. 129-152),
- Kapitel 5: Strukturelle Angleichung der Schularten und Bildungsgänge (S. 217-268),
- Kapitel 6: Gymnasiale Unter- und Mittelstufe -Reifezeugnisse -Zweiter Bildungsweg-Fachgymnasien (S. 269-304)
- und der längste und für die Thematik der Untersuchung wichtigste Abschnitt: Kapitel 7: Neuordnung und Modernisierung der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs (S. 305-394).

Die gesellschaftlichen Kräfte, die bestrebt waren, auf die KMK einzuwirken und mit denen sich daher die KMK auseinanderzusetzen hatte, durchqueren diese Struktur an zwei Stellen durch eingeschobene Kapitel:
- Kapitel 4: Parteien, Organisationen, Verbände und ihre Positionen zum Gymnasium (S. 153-216)
- und Kapitel 8: Das Gymnasium als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen (S. 395-423).

Eine Basis zum Verstehen der Ausgangssituation vermittelt eine auf die Einleitung (S. 15-30) folgende historische Grundlegung: Kapitel 2: Rekonstruktion des höheren Schulwesens (S. 31-128), in welcher sich Fuchs so konzentriert wie möglich bemüht, einen Überblick über das Wiedereinsetzen gymnasialer Bildungsgänge nach Kriegsende in den vier Besatzungszonen und den sie gliedernden Ländern zu geben. Die hier gegebenen Belege aus Quellen und Literatur bedürfen für Einzelfragen allerdings späterer Überprüfung. Für Hamburg sind sie z.B. nicht auf dem letzten Stand der Forschung, da Fuchs sich im Wesentlichen auf eine inzwischen überholte, nach Sache und Terminologie wenig distanzierte, undifferenzierte Arbeit von 19802 stützt.

Leider werden die von Fuchs häufig verwendeten Termini „konservativ“ und „reformorientiert“ nicht eigens problematisiert, bleiben also klischeehaft; denn nicht alles, was sich „Reform“ nannte und nennt, dient der Verbesserung der Sache: also hier des Gymnasiums. Auch für die Zeit nach 1945 trifft die 1998 zu den Reformbewegungen der Weimarer Republik getroffene Feststellung zu, „dass der Begriff Reform schon früh zu einem politischen Verheißungsbegriff [...] im Parteiengerangel geworden ist“.3 Die von Fuchs aufgedeckten Entstehungshintergründe der KMK-Beschlüsse und ihre Umsetzung sind hierfür der beste Beleg. Eher geeignet erscheinen dagegen die von ihm verwendeten Begriffe „Veränderung“ und „Rekonstruktion“.

Im Unterschied zu den sehr solide untermauerten Darlegungen zur Geschichte der KMK und ihrer Beschlüsse in den Kapiteln 3 bis 7 (S. 129-394) erscheint das abschließende Kapitel 8 als ein Sammelsurium kontinuierlich tradierter Vor- und Fehlurteile von Vertretern einer gewissen „engagierten“ Richtung der professionellen Erziehungswissenschaft, deren auffälligstes Merkmal während der letzten drei Jahrzehnte „der nahezu vollständige Mangel einer bildungstheoretischen und pädagogisch-pragmatischen Reflexion und Begleitung der Schulformen Gymnasium und Realschule“ gewesen ist.4 Offensichtlich ohne genuine Kenntnisse über „eine Schulform, die den schwierigen Weg von einer ständisch geprägten Eliteschule zu einer demokratischen höheren Massenschule [...] auf höchst erstaunliche Weise bewältigt hat“, präsentiert Fuchs nahezu sämtliche gängigen Allgemeinplätze über die Schulform Gymnasium, seine bis heute „bildungsbürgerlichen“ SchülerInnen und deren Eltern sowie seine angeblich auch jetzt noch in standespolitischem Privilegiendenken befangenen LehrerInnen. Deren Existenz und Probleme als Dienstleistungsgruppe mit einem modernen beruflichen Selbstverständnis, mit berufsspezifischen Belastungen, Zwängen und Ansprüchen werden schlicht nicht wahrgenommen. Im Grunde widerspricht Fuchs damit am Schluss seines Buches den Ergebnissen seiner vorangehenden Untersuchung, die ja gerade den Weg zur Modernisierung des Gymnasiums über die KMK darstellen will: Noch vor dem Düsseldorfer Abkommen vom 17.2.1955 (S. 240), durch das die Ministerpräsidenten Versuche des Bundes, Einfluss auf das Bildungswesen zu nehmen, abwehrten, konstituierte sich 1953 auf gemeinsame Initiative der Länder und des Bundes der „Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (S. 179). Ihm folgte 1965 eine Initiative der Länder und des Bundes durch den „Deutschen Bildungsrat“ (S. 186). Sein 1970 verabschiedeter „Strukturplan“ und seine Empfehlungen zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen fanden damals die größte Resonanz in Öffentlichkeit und Bildungspolitik. Die etwa zur gleichen Zeit begründete Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) (S. 194) sollte, wie Fuchs darlegt, einen langfristigen Rahmenplan zur Modernisierung des Bildungswesen vorbereiten, stieß aber bald auch auf Widerstand, weil ihr 1973 verabschiedeter „Bildungsgesamtplan“ die gesamte bisherige Bildungspolitik der Länder in Frage stellte. Die Umsetzung der BLK-Beschlüsse scheiterte schließlich vor allem an den in den 1970er-Jahren erkennbaren finanziellen Engpässen, was zur Rücknahme der Priorität der Bildung führte.

Ein Meilenstein für die Modernisierung des Gymnasiums wurde dagegen die Saarbrücker Rahmenvereinbarung der KMK vom 20.9.1960 (S. 317), in der erstmalig seit 1945 durch die Begrenzung der Zahl der obligatorischen Unterrichtsfächer eine Auflockerung der Oberstufe des Gymnasiums versucht wurde. In ständiger Auseinandersetzung mit den in der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK) zusammengeschlossenen Vertretern der Hochschulen ist die KMK, ausgehend vom „Tutzinger Maturitätskatalog“ von 1950, bis heute um eine inhaltliche Definition dessen bemüht, was unter „Hochschulreife“ und „Studierfähigkeit“ zu verstehen ist. Die jeweils gefundenen Zwischenlösungen stellt Fuchs als eine wichtige Vorstufe der Bonner KMK-Vereinbarung vom 7.7.1972 zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe (NGO) (S. 366) vor, nach der bis heute die Jahrgangsstufen 11 bis 12/13 der zur Hochschulreife führenden Schulformen in den Ländern der seit 1990 erweiterten Bundesrepublik organisiert sind. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung treffen die SchülerInnen Wahlentscheidungen für ihre Grund- und Leistungskurse, deren Punktwertung zu zwei Drittel in das Abiturzeugnis eingeht. Die angebotenen Fächer, von denen im Laufe der Fortschreibung ein Kern aus Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache obligatorisch geworden ist, sind nach Aufgabenfeldern geordnet. Diese Neuordnung soll dem selbständigen Lernen, dem wissenschaftspropädeutischem Arbeiten und der Persönlichkeitsbildung dienen. Fuchs zeichnet die Auseinandersetzungen innerhalb der KMK um eine weitergehende Öffnung oder größere Verbindlichkeit und den Dissens zwischen KMK und WRK über die für ein Studium unabdingbare allgemeine Grundbildung so nach, dass er das zugrunde liegende Bildungsverständnis und die jeweilige Interessenlage deutlich werden lässt, von der aus argumentiert, gefordert und abgewehrt wird. Auch hier gibt es wie in der professionellen Erziehungswissenschaft Argumentationsmuster, die - ohne empirische Belege - von Generation zu Generation tradiert werden: So wird der Topos mangelnder Studierfähigkeit (S. 382) von Seiten der Hochschulen und der Wirtschaft jeweils in Zeiten vorgetragen, in denen zu viele akademisch gebildete Interessenten auf den Arbeitsmarkt drängen. Gymnasiale Oberstufe und Abitur, so Fuchs (S. 390) resümierend, sind seit einem halben Jahrhundert Diskussionsthema und werden es angesichts der Wichtigkeit der Schulabschlüsse für den beruflichen Erfolg bleiben.

Leider fehlen dem in den informationsdichten KMK-Teilen inhaltreichen Buch Register, die seine Verwendung als Nachschlagewerk und Arbeitsmaterial erleichtern würden.

Anmerkungen:
1 Fuchs, Hans-Werner, Das Gymnasium als Gegenstand pädagogischer Zeitgeschichte. Dokumente zur Gymnasialentwicklung seit 1945, Hamburg 2003.
2 Düben, Michael; Hartwig, Michael, Die Entwicklung des Hamburger Schulwesens in den Jahren 1945 bis 1949, Hamburg 1980.
3 Kerbs, DiethartM; Reulecke, Jürgen (Hgg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 7.
4 Liebau, Eckart, in: Ders.; Mack, Wolfgang; Scheilke, Christoph (Hgg.), Das Gymnasium. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, Weinheim 1997, S. 10, 13.

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