K. Flasch: Die geistige Mobilmachung

Titel
Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg


Autor(en)
Flasch, Kurt
Erschienen
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger C. Graf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit seiner Analyse der Schriften deutscher Intellektueller über den Ersten Weltkrieg hat sich der emeritierte Philosophiehistoriker Kurt Flasch, der sich in seiner akademischen Laufbahn im wesentlichen mit der Philosophie des Mittelalters beschäftigte, auf ein für ihn neues Terrain begeben. Als Historiker könnte man Flasch auf den ersten Blick vorwerfen, daß er bei seinem "Versuch" über die Rolle der Intellektuellen im Ersten Weltkrieg kaum an die reichhaltige historische Forschung zu diesem Gegenstand anschließt 1, sondern sich nahezu ausschließlich mit den Quellentexten beschäftigt, die er extensiv zitiert. Ein solcher Vorwurf griffe jedoch zu kurz, weil Flaschs Forschungsinteresse ein explizit philosophiegeschichtliches ist. Er will keinen weiteren Beitrag zu der historischen Kontroverse über die Reichweite der Kriegsbegeisterung und des "Augusterlebnisses" oder über die Überzeugungskraft der "Ideen von 1914" leisten. 2 Vielmehr geht es ihm darum, ein in der Philosophiegeschichtsschreibung vernachlässigtes Kapitel untersuchen, nämlich "das philosophische Denken des Ersten Weltkrieges" (8 und auch 369f) und dabei ein Buch zu schreiben, "das nach den Quellen schmeckt" (9).

Die im Verlauf des Buches immer wiederkehrende Absichtserklärung, die Philosophie oder das Denken des Ersten Weltkrieges analysieren zu wollen, offenbart durch ihre Doppeldeutigkeit das der Studie zugrunde liegende methodische Problem. Denn unter "Philosophie des Weltkrieges" kann man einerseits das philosophische Denken verstehen, welches der Weltkrieg hervorgebracht hat, und andererseits die Summe der Reflexionen, mit denen relativ eigenständige Denker versuchten, den Weltkrieg zu erfassen oder auf den Begriff zu bringen. So existiert zum einen eine große Menge weitgehend stereotyper Texte, in denen der Krieg thematisiert wird, die immer wieder die gleichen Topoi aufweisen (Flaschs noch unveröffentlichte Bibliographie der Philosophie des Weltkrieges, die er auf einer CD-ROM herauszugeben plant, umfaßt mehr als 13.000 Titel.) Zum anderen wurde aber ein großer Teil der Texte von individuellen Denkern produziert, die sich explizit als selbständige Philosophen begriffen und das Thema in je eigener Weise mit spezifischen Schattierungen behandelten. Flasch ventiliert das Problem, wie die stereotypen Textmassen mit den je individuellen Entstehungsbedingungen und Ausgestaltungsformen zu relationieren seien, in seiner Studie immer wieder, aber es gelingt ihm nicht, eine allgemeine Lösung zu finden. Daher entscheidet er sich dafür, das Problem zu umgehen: In der ersten Hälfte seiner Untersuchung analysiert er in ausführlichen Einzeldarstellungen individuelle Denker des Ersten Weltkrieges, um sich dann in der zweiten Hälfte, unabhängig von diesen Einzelanalysen, den Textmassen und ihrer Ordnung zu widmen.

Nach Flaschs Auffassung ist die fachliche Ausbildung als Philosoph keine Bedingung dafür, Kriegsphilosoph zu werden, sondern er meint, der Versuch, "das neue Geschehen und die neuen Pflichten mit den anerkannten Grundsätzen der Zeit zusammenzubringen oder aus ihnen abzuleiten," habe viele Intellektuelle in Philosophen verwandelt. (373) Daher behandelt er nicht nur Fachphilosophen, sondern auch Gelehrte anderer Wissenschaften. In den Einzelstudien im ersten Teil seines Buches untersucht Flasch die Kriegsphilosophien Rudolf Euckens, Ernst Troeltschs, Friedrich Meineckes, Max Schelers, Rudolf Borchardts und Hugo Balls. Dabei legt er für Euckens Kriegsreden aus dem Jahr 1914 dar, daß sie kanon- und topoibildend wirkten und sozusagen die Paradigmen des entstehenden Typus der Kriegsrede deutscher Gelehrter bildeten. Der Typus der Kriegsrede, mit der viele deutsche Intellektuelle 1914 und 1915 versuchten, den Krieg mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden intellektuellen Mitteln zu begreifen und einen Beitrag zur "geistigen Mobilmachung" zu leisten, habe, so Flasch, seine volle Ausprägung bei Ernst Troeltsch gefunden (46f). Am Beispiel Troeltschs kann Flasch zudem die Wandlung einiger deutscher Gelehrter von "deutschnationalen Kriegsapologeten und Großmachtdenkern" zu "Vernunftrepublikanern" verdeutlichen (170). Denn hier wie auch bei den anderen Analysen dehnt er den Untersuchungszeitraum in die Weimarer Republik aus, um so die Wandlungen der Kriegsphilosophien zeigen zu können. Überzeugen kann insbesondere Flaschs Analyse Schelers: Während dessen Kriegsschriften in der Philosophiegeschichtsschreibung immer wieder als Entgleisungen angesehen werden, arbeitet Flasch die vielfältigen Verbindungen zwischen Schelers "Der Genius des Krieges" und der von ihm entwickelten materialen Wertethik heraus.

Bedeutsamer als die Einzelanalysen der bekannten und in der Forschung ausgiebig behandelten Autoren sind Kurt Flaschs Überlegungen zur Ordnung der Textmassen nach Autoren, Themen, Tendenzen, Wendepunkten und Adressaten. Bereits in der ersten Hälfte seines Buches entwickelt er anhand von Berliner Universitätsreden aus dem Herbst 1914 die zentralen Elemente der Kriegsreden: Das Erlebnis von Kriegsbeginn und Mobilmachung war der Ausgangspunkt vieler Reden. Die Reden hatten das Ziel, die Gerechtigkeit der deutschen Sache zu beweisen, verstanden den Kriegsausbruch als eine Widerlegung des Pazifismus, wollten die deutsche Überlegenheit beweisen, versuchten eine geschichtliche Selbsteinordnung und setzten dazu religiöse Effekte ein.

In der zweiten Hälfte nun bestimmt Flasch im Anschluß an eine Gruppierung der Autoren nach Prestige und einen Überblick über das Themenspektrum der kriegsphilosophischen Texte die wesentlichen Veränderungen des Rede- und Denkstils, welche durch die Kriegserfahrung erzeugt, bestätigt oder modifiziert worden seien. Die Texte, erklärt Flasch, wiesen eine Tendenz zur Lyrisierung und Archaisierung bzw. Sentimentalisierung auf. Die vorherrschende Erklärungsweise sei intentionalistisch, weil komplexe Prozesse auf einfache Intentionen von Agenten zurückgeführt würden. Zudem sei eine extreme Nationalisierung und Polarisierung in den Texten festzustellen, in denen es häufig um Sein oder Nichtsein der Nation gehe. Schließlich zeigten sie eine Tendenz zur Maskulinisierung und zur intensiven Verwendung religiösen Vokabulars. (267-278) Abgesehen von diesen Tendenzen führt Flasch in seiner zusammenfassenden Analyse der Texte noch ausführliche Belege dafür an, 1916/17 eine Ideenwende anzusetzen, weil zu diesem Zeitpunkt die Einheitsfront der Intellektuellen brüchig geworden sei und die Mobilmachungsideologie ihre Wirksamkeit verloren habe (279-289).

Flaschs detaillierte und ausgewogene Einzelanalysen der Kriegsphilosophen vollziehen sich nicht nur auf einem hohen intellektuellen Niveau, sondern sie sind gleichzeitig gut lesbar und auch dem philosophischen Laien verständlich. Störend wirken jedoch die immer wieder eingestreuten kritischen Bemerkungen des Philosophen Flasch über die behandelten Autoren, mit denen er nachzuweisen versucht, an welchen Punkten diese argumentative Fehler begehen oder Unrecht haben. Zwar erklärt Flasch zu Beginn seines Buches, er "zetere nicht mit" den Autoren und wenn er sie kritisiere, "dann nur indirekt und aufgrund ihrer eigenen Kriterien" (10), aber auch diese immanente Kritik hat nur einen begrenzten Wert für die historische Analyse. Indem er Eucken, Scheler, Troeltsch und Meinecke argumentative Schwächen und logische Inkonsistenzen nachweist, zeigt er auf eindringliche Weise, daß auch zu differenziertem Denken fähige Autoren in ihren Kriegsschriften hinter die eigenen methodischen Standards zurückfielen. Seine Analyse bricht aber leider immer mit diesen häufig triumphierend vorgetragenen Beweisen ab, anstatt die eigentlich relevante historische Frage zu stellen, aus welchen Gründen viele der Verfasser so weit hinter ihren geistigen Möglichkeiten zurückblieben.

Als weiterer Kritikpunkt muß angemerkt werden, daß Flasch bei seiner Behandlung der Kriegsphilosophie die genau umgrenzte Gruppe der Philosophen verläßt und sich mit den deutschen Intellektuellen im allgemeinen beschäftigt, ohne diese in irgendeiner Weise näher zu bestimmen oder sich eine der diversen Definitionen des "Intellektuellen" zu eigen zu machen. 3 Dadurch bleiben die Kriterien der Textauswahl relativ unbestimmt, wenn man von Flaschs Anspruch absieht, die "relevanten" Texte ausgewählt zu haben, wobei er selbst zugestehen muß, man könne auch anders entscheiden.

Alles in allem bietet Flaschs Studie über die "Philosophie des Weltkrieges" jedoch viele Anregungen und bedenkenswerte Überlegungen zu den einzelnen analysierten Autoren und zur Ordnung der Textmassen. Da Flasch über weite Strecken die Quellen sprechen läßt, stellt "Die geistige Mobilmachung" zudem quasi eine Anthologie der Kriegsschriften wichtiger deutscher Intellektueller dar und erzeugt beim Lesen Fremdheitserfahrungen, wie sie sonst vielleicht nur in ethnologischen Arbeiten zu finden sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Mommsen, Wolfgang J. (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Fries, Helmut: Die große Katharsis, 2 Bde., Konstanz 1994 und 1995 sowie die entsprechenden Kapitel in den diversen Sammelbänden zur Geschichte des Ersten Weltkrieges.
2 Siehe dazu als Einführung: Kruse, Wolfgang/Verhey, Jeffrey: Zur Erfahrungs- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges, in: Eine Welt von Feinden. Der große Krieg 1914-1918, hg. v. Wolfgang Kruse, Frankfurt/Main 1997, 159-195 und ausführlicher: Verhey, Jeffrey: The Myth of the Spirit of 1914 in Germany 1914-1915, (Diss.) Berkeley 1991.
3 Zu denken ist hier insbesondere an: Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), 207-216 und Bourdieu, Pierre: Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, 41-65.

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