Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken

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Titel
Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken


Herausgeber
Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum, München

Von März bis Oktober 2004 wird die Ausstellung „Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken“ im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig gezeigt, einer Dependance des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ziel dieser Ausstellung und des gleichnamigen Begleitbandes ist es, das Wissen von Tschechen, Deutschen und Slowaken voneinander über das Niveau stereotyper Vorstellungen zu heben. Um zur Schaffung einer europäischen Identität beizutragen, heißt es im Vorwort des Ausstellungsreaders, wolle man sich zudem mit „umstrittenen und historisch belasteten Themen“ auseinandersetzen (S. 7). An Themen dieser Art fehlt es in den Beziehungen zwischen den drei Völkern nicht – Diskussionen wie jüngst um die so genannten Beneš-Dekrete zeigen immer wieder, dass die Vermittlung grundlegenden Wissens auf allen Seiten Not tut. Dennoch hinterlässt der Begleitband zur Ausstellung einen zwiespältigen Eindruck. (Die Ausstellung selbst muss hier unberücksichtigt bleiben.)

Um das Fazit gleich vorwegzunehmen: Der schön bebilderte Band enthält zwar einige sehr lesenswerte Beiträge, doch ist die Gesamtkonzeption wenig innovativ. Ausgehend von konventionellen nationalstaatlichen Perspektiven werden die Leser in die deutsch-tschechische Beziehungsgeschichte eingeführt. Ansätze, die vermeintliche Logik solcher Perspektiven zu hinterfragen, sowie die Einordnung in den europäischen Kontext kommen dabei deutlich zu kurz. Aus dieser Binnensicht resultiert auch die ungleiche Gewichtung der einzelnen Themen und Zugänge: So wird zum Beispiel der Slowakei – sicher ohne bösen Hintergedanken – eine Nebenrolle zugewiesen. Zudem entsprechen einige Kapitel nicht dem aktuellen Forschungsstand. Tschechische oder gar slowakische Forschungsergebnisse werden in den Texten der meisten deutschen AutorInnen nur am Rande aufgegriffen, die entsprechenden Literaturangaben fehlen dann im Anhang.

Der chronologisch aufgebaute Band folgt den großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts. Im Folgenden wird nur auf einzelne Beiträge eingegangen. Hans Lemberg eröffnet den historischen Teil mit einem Überblick über die Geschichte der böhmischen Länder bis zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918, wobei es ihm besonders darum geht, den Lesern zu vermitteln, dass sich das nationale Denken des 19. und 20. Jahrhunderts nicht auf die Zeit vor 1848 zurückprojizieren lässt, da in dieser Phase andere Identitäten und Zugehörigkeiten die Gesellschaft ordneten. Als alternativer Ort zu der „auseinander organisierten“ deutsch-tschechischen Welt erscheint im Beitrag von Alena Wagnerová die Prager Kulturszene, die sie als idyllischen, multikulturellen Mikrokosmos zeichnet, der seine letzte Blüte nach 1933 erlebte, als zahlreiche deutsche Emigranten in Prag Aufnahme fanden.

Als „letzter Hort der Demokratie“ (S. 53) in Mitteleuropa wurde die Tschechoslowakei 1938/39 Opfer der nationalsozialistischen Expansions- und Rassenpolitik. Helga Grebing schildert die Schrecken der NS-Herrschaft im so genannten „Protektorat Böhmen und Mähren“, die einer Politik geschuldet waren, die kurzfristig auf wirtschaftliche Ausbeutung, mittel- und langfristig allerdings auf die „Germanisierung des böhmischen Raumes“ zielte. Der Beitrag argumentiert gegen die – in Deutschland leider immer noch vorhandene – Tendenz, die deutsche Gewaltherrschaft in Böhmen und Mähren zu verharmlosen. Etwas schematisch erscheinen indessen Grebings knappe Ausführungen zum „Reichsgau Sudetenland“ und zum Slowakischen Staat.1 Aber auch die Dilemmata der tschechischen „Protektoratsregierung“, die versuchte, durch dosierte Loyalitätsadressen an die deutschen Machthaber die Zahl der Opfer niedrig zu halten, und darüber in Konflikte mit der Exilregierung geriet, werden nicht deutlich. Gerade bei der Auseinandersetzung mit dem gesamten Spektrum von Verhaltensformen unter den Bedingungen der Okkupation – den oft fließenden Übergängen zwischen Kollaboration, Kooperation, Passivität und Widerstand – hätte sich der Vergleich mit anderen besetzten europäischen Ländern angeboten.

Setzt Grebing die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei klar in den Kontext der Geschichte von „Protektorat“ und Krieg, kann Manfred Kittel zufolge nicht „auf den Grund der historischen Erkenntnis hinabsteigen [...], wer das komplexe Vertreibungsgeschehen auf Hitlers Krieg reduziert“ (S. 73). Bei der „historischen Erkenntnis“, die Kittel dem Leser in seinem Beitrag über die Beneš-Dekrete eröffnet, handelt es sich jedoch um eine recht tendenziöse: So wird etwa Konrad Henleins Politik für das nationalsozialistische Deutschland verharmlosend mit der Auslandsaktion von Tomáš G. Masaryk und Edvard Beneš verglichen. Herausgestellt werden in der stark auf Beneš fixierten Darstellung die Rechtsverletzungen an den Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei und eine Kontinuität der tschechischen Vertreibungsidee. Der qualitative Sprung, den der Nationalsozialismus in der Konfliktgeschichte zwischen Tschechen und Deutschen bedeutete, gerät damit nur mehr zum graduellen Wandel.

Sicher wird man Kittel bei der Verurteilung der Kollektivschuldthese und der Vertreibung folgen wollen. Auch die Kritik an der innenpolitischen Instrumentalisierung der Diskussion über die Beneš-Dekrete in der Tschechischen Republik ist berechtigt. Und dass erklärt wird, worum es sich bei diesen Dekreten, die in letzter Zeit so häufig durch die Medien gingen, eigentlich handelt, ist dankenswert. Allerdings stellt Kittel tschechische Positionen nicht adäquat dar und vermittelt den Eindruck, es habe in der tschechischen Gesellschaft keine Diskussionen, keine Entwicklung und auch keine Differenzierung der Meinungen gegeben. Auf dieser Grundlage wird sich die „offene Debatte“, die Kittel – Peter Glotz zitierend – anstelle „politisch korrekten Gesäusels“ (S. 77) fordert, nicht einstellen.

In zwei weiteren thematischen Blöcken werden die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und den beiden deutschen Nachkriegsstaaten separat abgehandelt. Wirklich einleuchtend ist diese Trennung nicht. So hätte der Beitrag von Stephan Kruhl über die Vertriebenen in der Bundesrepublik vom Blick auf beide deutsche Gesellschaften sicher profitiert.2 Im Beitrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei (Anne Martin, Daniel Weißbrot) hätten block- und deutschlandpolitische Faktoren stärkere Berücksichtigung finden müssen.

Am Schluss des Bandes stehen noch einmal tschechisch-deutsch-sudetendeutsche Befindlichkeiten. Antje Vollmer blickt auf die „Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997“ zurück und verbindet ihre Betrachtungen mit einer deutlichen Kritik an der Sudetendeutschen Landsmannschaft: Sie selbst habe sich immer wieder herauszufinden bemüht, was die Vertriebenenorganisationen von der Tschechischen Republik wollten, und sei zu dem Schluss gekommen, dass diese Frage bewusst offen gehalten werde, um „je nach politischer Großwetterlage [...] materielle Forderungen nachzuschieben“ (S. 156). Abschließend denkt Tomáš Kafka darüber nach, weshalb der Ruf der tschechisch-deutschen Beziehungen so schlecht ist. Er wirbt einerseits für die Einsicht, dass Tschechen und Deutsche nach Nationalsozialismus und Vertreibung nie wieder „wie in alten Zeiten [...] miteinander werden umgehen können“ (S. 167), und dafür, emotional aufgeladene Konkurrenz auf den Fußballplatz zu verlegen. Andererseits sieht er in der Verlagerung deutsch-tschechischer Zusammenarbeit in internationale Zusammenhänge eine Chance, den alten Beziehungsfallen zu entgehen.

Mehr Distanz zur der traditionellen nationalen Optik hätte auch der vorliegenden Publikation gut getan: Die Präsentation einer „deutschen“ oder „tschechischen“ Perspektive greift meist viel zu kurz und bringt es mit sich, dass die alte Aufrechnungslogik reproduziert wird – selbst dort, wo um „Ausgleich“ gerungen wird. Themen wie Emigration, Diktaturdurchsetzung und Leben in der Diktatur, Minderheitenpolitik, Zwangsmigration oder Vergangenheitspolitik muss man nicht einmal „tschechisch“ und einmal „deutsch“ abhandeln. Man kann sie unschwer auch für eine weiter gefasste Perspektive oder einen strukturellen Vergleich öffnen, womit nicht zuletzt auch die slowakische Geschichte und die Geschichte der Juden3, die in dem Band systematisch zu kurz kommen, leichter hätten integriert werden können.

Was die Auseinandersetzung mit den „umstrittenen und historisch belasteten Themen“ betrifft, zu der sich die Herausgeber ausdrücklich bekennen, so ist es eine Stärke des Bandes, dass hier Vertreter unterschiedlicher – bisweilen konträrer – Positionen zu Wort kommen. Meiner Meinung nach hätte man aber unbedingt einen Schritt weiter gehen und Argumentations- und Konfliktmuster stärker analysieren müssen. Ein möglicher Ansatz dafür wäre gewesen, auch die Außenperspektive einzubeziehen. Wer sagt, dass immer nur Deutsche, Tschechen (und ein Slowake) über Deutsche, Tschechen (und Slowaken) schreiben dürfen?

Anmerkungen:
1 Vgl. Tönsmeyer, Tatjana, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn 2003.
2 Vgl. Hoffmann, Dierk; Krauss, Marita; Schwartz, Michael (Hgg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000 (rezensiert von Angelika Fox: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3660>).
3 Zur Geschichte der Juden in der &#268;sSR und unter der deutschen Okkupation sowie ihrer strukturellen Vernachlässigung durch die tschechische wie deutsche Historiografie vgl. die Arbeiten von Miroslav Kárný.