G. Tscherpel, The Importance of Being Noble

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Titel
The Importance of Being Noble. Genealogie im Alltag des englischen Hochadels in Spätmittelalter und Früher Neuzeit


Autor(en)
Tscherpel, Gudrun
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 51,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Wieland, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Und sie [die Engländer] sollen auch keinen eigentlichen Adel mehr haben, weil mal ein Krieg war, drin sie sich umschichtig enthaupteten, und als alle weg waren, haben sie gewöhnliche Leute rangezogen und ihnen die alten Namen gegeben, und wenn man denkt, es ist ein Graf, so ist es ein Bäcker oder höchstens ein Bierbrauer.“1 So Adelheid von Stechlin. Eine liberale Geschichtsschreibung und das von der Historiografie unterstützte Bedürfnis, die eigene Nationalgeschichte in jeder – auch adelsgeschichtlicher – Hinsicht als nicht-kontinental zu präsentieren, trugen dazu bei, dass über die englische Aristokratie lange Zeit ein vergleichsweise oligarchisches, nicht so sehr auf Abstammung, sondern auf kulturellen und politischen Praktiken oder Wohlstand basierendes Bild vermittelt wurde. Während sich die europäische Elite von den Unterschichten radikal abschloss, blieb die englische Oberschicht wandlungs- und absorptionsfähig – „an open élite“ eben. Diesem hartnäckigen Vorurteil stehen seit den 1980er-Jahren zahlreiche empirisch gesättigte Studien gegenüber, die für die Frühe Neuzeit eher das Gegenteil belegen, nämlich eine auch und gerade hinsichtlich des Ideals der Abstammung sehr konservative aristokratische Sozialordnung.2

In ihrer 1999 in Münster angenommenen Dissertation untersucht Gudrun Tscherpel das spezifische Gewicht, das Genealogien oder genealogisches Denken für die Selbstdeutung und -darstellung der englischen Oberschicht v.a. nach 1066 besaßen. Damit verspricht die Arbeit Einsichten, die einerseits über die allgemeine und in ihrer Allgemeinheit für ganz Europa zutreffende Behauptung, dass „Abstammung“ einen konstitutiven Wert für Aristokratien darstellte, hinausgehen. Andererseits müsste sich die Arbeit mit der These einer spezifischen Offenheit der adligen Gesellschaft in England auseinandersetzen. Auf diesen letztgenannten Punkt und die damit verbundene intensive Forschung geht die Autorin jedoch nicht explizit ein.

Einleitend postuliert Gudrun Tscherpel, dass die Genealogie ein flexibles Element der Adelskultur darstellte, das von fixen juristischen Zuschreibungen abzusetzen ist. Dem folgt ein Kapitel, das sich mit der Entwicklung und funktionalen Transformation genealogischen Schrifttums im Allgemeinen beschäftigt. In der Konfrontation der angelsächsischen und französischen bzw. normannischen Adelsgesellschaft wird deutlich, dass die Bedeutung genealogischer Legitimation auf einem Import der Eroberer beruhte: Erst mit dem fast vollständigen Austausch der einheimischen durch eine fremde Oberschicht – oder der Entstehung einer neuen anglo-normannischen Elite – hielt eine auf Vorfahrenreihen angelegte Selbstsicht in England Einzug, die zugleich lange Zeit auf Frankreich ausgerichtet blieb. Während bis ins 13. Jahrhundert Genealogien primär innerfamiliär, zur Stärkung der Binnenkohäsion, genutzt wurden, lassen sich im Kontext der so genannten Rosenkriege nach außen gerichtete, propagandistische Funktionalisierungen ausmachen. Genealogie diente u.a. als nachträgliche Legitimation eines zuvor erfolgten sozialen Aufstiegs in den Hochadel, wie es das Beispiel der Familie Lacy nahe legt. Dieser autonomen Praxis stand eine zunehmend intensivierte Kontrolle von genealogischen und heraldischen Ansprüchen durch die monarchische Zentrale gegenüber; die Herolde, die Visitationen durchführten, entwickelten sich zu professionellen Genealogen oder gar „Proto-Historikern“. Unter den Tudors fand erstmals ein betonter Rückgriff auf vor-normannische Traditionen in der genealogischen Literatur statt; dieses neue oder neu ausgerichtete Interesse an den Ahnen stand im Zusammenhang mit der starken Fluktuation innerhalb des Adels v.a. unter Heinrich VII. und Heinrich VIII.

In dem Kapitel „Adel als Kulturgemeinschaft“ geht die Autorin erneut auf die These ein, Genealogie habe eine Ersatzfunktion im Verhältnis zu fehlenden oder schwach ausgeprägten juristischen Distinktionsmechanismen besessen; sie postuliert eine durch Eheschließungen und genealogische Bemühungen ins Werk gesetzte Neuschöpfung einer anglisierten normannischen Oberschicht, die sich einerseits „nationalisierte“ – was auch in Romanen und Chroniken nachweisbar ist -, andererseits die Gruppenidentität durch die gemeinsame Teilnahme der Vorfahren an der Schlacht bei Hastings begründete.

Der Abschnitt über „Politik und öffentliches Leben“ handelt von zwei Weisen adliger Selbstdefinition: Der vertikalen, die mit durch den Monarchen erfolgten Berufung ins Parlament und Adelspatente begründet war, und der horizontalen, autonomen, eben der genealogischen. Dabei konnte die Konstruktion einer illustren Vorfahrenreihe drei Funktionen erfüllen: Sie diente der traditionellen Begründung eines erworbenen „earldom“, auch durch Verweis auf vor-normannische Ahnen, sie fungierte als Instrument der Abgrenzung gegenüber Konkurrenten im regionalen Herrschaftsbereich, und sie zielte auf den Beweis einer ungebrochenen Loyalität zum Königshaus ab.

Die Ausführungen zur „Familie“ zeigen, wie sehr die englische Aristokratie sich seit dem 12. Jahrhundert gesamteuropäischen Mustern anglich: Es war nicht mehr der Lehensbesitz, der Adligsein begründete, sondern die Abstammung sowohl der männlichen als auch der weiblichen Linie; Familien wurden im adligen Bewusstsein in temporärer und örtlicher Hinsicht stringenter geformt, die Idee eines fixen Stammsitzes und einer eindeutigen, auf Primogeniturregelungen beruhenden Linearität schufen erst eine nach unten deutlich abgegrenzte Oberschicht. Dieser Vorgang wurde in den „ancestral romances“ reflektiert.

Im „Historie und Literatur“ überschriebenen Kapitel stellt Tscherpel schließlich Reflexionen zum Verhältnis von Fiktionalität, Fälschung und (wissenschaftlicher) Geschichte in der Vormoderne an, leider, ohne sich mit den parallelen Ausführungen von Roberto Bizzocchi v.a. zum italienischen Adel auseinanderzusetzen.3 Abschließend betont sie nochmals die Bedeutung des Schnittdatums „1066“ und der normannischen Herkunft für den spätmittelalterlichen englischen Adel und dessen Wendung zu angelsächsichen Traditionslinien im 16. und 17. Jahrhundert.

Obwohl die zu besprechende Arbeit zahlreiche ausgesprochen anregende Phänomene benennt und Ergebnisse präsentiert, fallen gewisse Mängel auf, die nicht lediglich mit einer fehlenden Einordnung des Werkes in Forschungszusammenhänge besonders zur Frühen Neuzeit zu erklären sind. Zum ersten ist die Studie nicht ganz optimal organisiert, was an zahlreichen Wiederholungen deutlich wird: Es ist nicht immer klar, was in den einzelnen Kapiteln – im Gegensatz zu den anderen – eigentlich behandelt werden soll; das bezieht sich sowohl auf den chronologischen Rahmen als auch auf die diskutierten Inhalte. Zum zweiten wäre eine pointiertere Konzentration auf die englische Geschichte allein wünschenswert gewesen, denn die allgemeinen Ausführungen zu Genealogie und Adelskultur im vormodernen Europa bleiben häufig zu sehr an der Oberfläche, die Aussagen zum spezifischen Thema, eben England, durch den breiten Raum, den beispielsweise Frankreich einnimmt, jedoch ebenso. Schließlich ist die Abgrenzung der untersuchten Felder auch methodisch nicht ganz unproblematisch, denn für die Vormoderne von einer Trennung von Politik und Öffentlichkeit (!) auf der einen, Familie auf der anderen Seite auszugehen, hätte gewisser theoretischer Reflexionen bedurft. Ähnliches trifft für den in diesem Werk verwendeten Kulturbegriff zu: „Kultur“ sollte doch primär als ein Wertesystem verstanden werden, das praktisch allen Lebensbereichen zugrunde liegt und sie prägt, und nicht material beispielsweise als Sprache, Literatur und Geschichte.

Dennoch und trotz aller Vorbehalte: Es bleibt ein großes Verdienst der Arbeit, die englische Adelsgeschichte in einen mit „europäischen“ Verhältnissen vergleichbaren Zusammenhang gestellt zu haben, und das über die in der Forschung etablierte Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit hinweg.

Anmerkungen:
1 Fontane, Theodor, Der Stechlin, hrsg. v. Hans-Heinrich Reuter, Berlin 1983, S. 275.
2 Stone, Lawrence; Fawtier Stone, Jeanne C., An Open Elite? England, 1540-1880, Oxford 1984; Cannon, John, Aristocratic Century. The Peerage of Eighteenth-Century England, Cambridge 1984.
3 Bizzocchi, Roberto, Genealogie incredibili. Scritti di storia nell’Europa moderna, Bologna 1995.

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