Titel
Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933


Autor(en)
Rudloff, Wilfried
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 63
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
1068 S. 2 Teilbände
Preis
€ 202,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Auts

Die 1995 an der Ludwig-Maximilians-Universitaet Muenchen als Dissertation angenommene Arbeit nimmt am Beispiel der Stadt Muenchen das Gesamtsystem der kommunalen Fuersorge, ergaenzt um die Gesundheits- und Wohnungspolitik als Aufgabenkern der Weimarer Kommunalpolitik, in den Blick. Der in bewusster Absetzung zum Wohlfahrtsstaat1 gewaehlte Titel der Untersuchung zielt auf das, so Rudloff, charakteristische Merkmal der Modernitaet einer Kommune im Untersuchungszeitraum, naemlich die Entwicklung und Ausgestaltung des kommunalen Wohlfahrtswesens, das-- ablesbar sowohl am Finanzbedarf als auch an der Nachfrage nach sozialen Leistungen--im Zentrum der Kommunalpolitik stand. Dies gilt besonders fuer die Krisenjahre des Weimarer Sozialstaates, in denen die Kommunen die Hauptlast der Unterstuetzungszahlungen trugen.

Methodisch folgt Rudloff der modernen Verwaltungssoziologie und rueckt das Verhaeltnis der Verwaltung zu ihrer Umwelt in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Die von Rudloff herangezogenen Umweltfaktoren dienen dabei zugleich als analysebestimmende Kategorien. Zunaechst fragt er, welche Probleme ueberhaupt erkannt und als Aufgabenfeld kommunaler Wohlfahrtspolitik definiert wurden. Bei der Untersuchung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Verwaltung und Politik erscheinen als Akteure der Stadtrat und die Vertretungsorgane des staedtischen Wohlfahrtswesens sowie die nach dem Ersten Weltkrieg entstehenden organisierten Interessenvertretungen. Die Beziehungen zu einzelnen Klienten der Wohlfahrtsbuerokratie kann Rudloff dagegen quellenbedingt nur schlaglichtartig beleuchten. Themen sind weiterhin das Verhaeltnis zu den uebergeordneten oder parallel gelagerten Verwaltungsstrukturen sowie zur (Fach-) Oeffentlichkeit.

Muenchen nahm fuersorgepolitisch fuer die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik alles andere als eine exponierte Stellung ein; die bayerische Metropole stand vielmehr fuer eine unauffaellige Normalitaet. Die in anderen Staedten zu beobachtende charakteristische Anspornwirkung interurbaner Konkurrenz spielte im Muenchener Fuersorgewesen nur eine begrenzte Rolle: Ihre Vertreter brachten sich kaum in die zeitgenoessische Fachdiskussion ein, umgekehrt gaben Beispiele anderer Staedte wenig nachhaltige Anstoesse. Die Aufgabenverteilung zwischen oeffentlicher und freier Wohlfahrtspflege gestaltete sich in Muenchen derart, dass erstere mehr auf die monetaeren Sicherungsformen ausgerichtet war, waehrend die privaten Traeger zahlreiche subsidiaere und supplementaere Funktionen im Bereich der sozialen Dienste uebernahmen. Dabei kam den konfessionellen Verbaenden und besonders der Caritas eine herausragende Rolle zu, die Arbeiterwohlfahrt blieb an der Peripherie.

Bei der Untersuchung der Wahrnehmungsmuster von Not und Beduerftigkeit seitens der Verwaltung rueckt Rudloff die Folgen von Krieg und Inflation in den Vordergrund. Waehrend des Ersten Weltkriegs gewann die Verwaltung eine Art Allzustaendigkeit fuer die vormals marktgesteuerten elementaren Lebensbeduerfnisse der Bevoelkerung. Die Besonderheit des zugrundeliegenden Ordnungsmodells bestand darin, dass fuer die Zumessung der Lebensgueter ein hoher Anspruch auf gerechte Verteilung formuliert wurde. Je laenger der Krieg andauerte, desto weniger war dieser aufrechtzuhalten, zumal das Gleichheitsversprechen die Sensibilitaet fuer gleichwohl fortbestehende oder neue Erscheinungen der Ungleichheit verstaerkte. Die Misserfolge der Zwangswirtschaft warfen somit enorme Legitimationsprobleme auf. Diese bezogen sich einmal auf den Anspruch, das soziale Existenzminimum der mit dem Krieg entstandenen neuen Beduerftigtengruppen ("Kriegerfrauen", Kriegsbeschaedigte und -hinterbliebene, Sozial- und Kleinrentner) zu gewaehrleisten. Ausserdem verstanden diese Gruppen die oeffentliche Unterstuetzung nicht als einseitige Anspruchsgewaehrung, sondern als einen Aequivalenztausch, bei dem sie ihre Vorleistung--als Opfer fuer das Vaterland--schon erbracht hatten.

Mit den Interessen- und Selbsthilfeorganisationen der genannten Gruppen betraten Akteure die Buehne der Fuersorgepolitik, welche die Wahrnehmung der vielfaeltigen Beduerfnislagen neu strukturierten: Die nicht-organisierten Interessen der 'aelteren' Armutsgruppen traten in den Hintergrund. In der Praxis zeigte sich dies darin, dass in Muenchen an der Gruppenfuersorge festgehalten wurde. Die unterschiedliche soziale Herkunft der Armutsklientel sollte sich--so die uebereinstimmende Position der buergerlichen Parteien und der Sozialdemokratie--auch im Rahmen der Fuersorge widerspiegeln. Unterschiede bestanden lediglich darin, in welchem Masse den Beduerftigengruppen Mitspracherechte eingeraeumt werden sollten.

Rudloff konstatiert ueber den ganzen Untersuchungszeitraum ein anhaltendes Uebergewicht der Verwaltung gegenueber den Parteien. Insbesondere die zwischen 1919 und 1925 regierenden Sozialdemokraten konnten der Fuersorgepolitik kaum ihren Stempel aufdruecken. Auch die den Interessengruppen zugestandenen Partizipationsmoeglichkeiten bei der Formulierung der kommunalen Fuersorgepolitik blieben Episode. Nach 1930 schraenkten buergerliche Mehrheitsparteien und Verwaltung diese wieder ein. Dennoch misst Rudloff dem Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht dieselbe Bedeutung als wohlfahrtsgeschichtliche Zaesur zu wie Sachsse/Tennstedt in ihrem dritten Band der Geschichte der Armenfuersorge in Deutschland.2 Zwar habe es auch in Muenchen Plaene--einem autoritaeren Umbau des Fuersorgesektors gegeben--beispielsweise zum Ausbau der Pflichtarbeit fuer Wohlfahrtserwerbslose und zur Revision der Richtsatzpolitik--die politischen Gremien der Selbstverwaltung seien jedoch immer noch stark genug gewesen, diese zu verhindern bzw. abzuschwaechen.

Auch wenn man zugesteht, dass das Kraeftefeld der Wohlfahrtspolitik nicht in solchem Masse dem Primat der Verwaltung unterworfen wurde, wie dies ab 1933/35 der Fall war, und dass der Interessenabgleich zwischen Wohlfahrts- und Jugendamt und den Verbaenden der freien Wohlfahrtspflege fortbestand, markierte die Einschraenkung der Partizipationsrechte der Betroffenenverbaende, anders als Rudloff meint, sehr wohl eine deutliche Zaesur im Verhaeltnis von Fuersorgeverwaltung und Armutsbevoelkerung. Ebenfalls fuer die These eines deutlichen Einschnitts spricht die von Rudloff in ihren Konsequenzen nicht ausreichend gewuerdigte Substitution oeffentlicher Leistungen durch Spenden, die vor allem durch nicht oeffentlich legitimierte Institutionen in Gestalt der privaten Wohlfahrtsorganisationen verteilt wurden.

In Abgrenzung zu den Versicherungs- und Versorgungssystemen des Wohlfahrtsstaates betont Rudloff stark die Eigenwertigkeit der Fuersorge. Die Wohlfahrtsstadt sei zwar fuer die Risiken zustaendig gewesen, welche die vorgeschalteten Netze des Wohlfahrtsstaates nicht auffingen, aber die Fuersorge sei weder eine blosse Schrumpfform des Wohlfahrtsstaates, noch ein entwicklungsgeschichtliches Durchgangsstadium gewesen. Vielmehr habe sie eine Komplementaerfiguration gebildet, mit eigenen Prinzipien, Instrumenten und Wirkungsweisen. So bestanden keine festen Rechtsansprueche auf Leistungen, sondern diese wurden nach Beduerfnis und Beduerftigkeit erteilt. Ausserdem waren--da die Fuersorge in erster Linie auf eine Verhaltensbeeinflussung durch Erziehung abzielte-- die Eingriffsmittel vergleichsweise stark ausgepraegt mit dem Ziel, ein individuelles Zurueckbleiben hinter den gesellschaftlichen Normalitaetserwartungen durch eine persoenliche Einwirkung zu korrigieren. Mit der Weltwirtschaftskrise, als die Fuersorge aufgrund der Massenbeanspruchung nur noch mehr oder weniger schematische Einkommenshilfen leisten konnte, liess die Lueckenbuesserfunktion das 'eigentliche' Programm der Fuersorge jedoch in den Hintergrund treten.

Abschliessend ist aus dem breiten Spektrum der behandelten Themenfelder die Analyse des Verhaltnisses von oeffentlicher und freier Wohlfahrtspflege zu wuerdigen. Die Rolle der freien Traeger ist auf kommunaler Ebene in dieser Breite und so intensiv von der Forschung bislang nicht behandelt worden. Zu den besonderen Leistungen der Arbeit zaehlt, dass Rudloff den heuristischen Wert des Deutungsmodells des Korporatismus--verstanden als ein spezifisches Muster der Interessenvermittlung, das sich durch die Mitwirkung von ausgewaehlten (Spitzen-) Verbaenden an der staatlichen Politik einerseits und die Instrumentalisierung der Verbaende fuer staatliche Verteilungsaufgaben andererseits auszeichnet3--auch fuer lokale wohlfahrtsgeschichtliche Studien ueberzeugend aufzeigt.

Rudloff charakterisiert das spezifische Muenchener Fuersorgepolitik-Muster insgesamt als eine gebremste wohlfahrtsstaatliche Intervention. Im Vergleich zu anderen Staedten liessen Politik und Verwaltung auffaelligen Ehrgeiz im Innovationswettbewerb vermissen, so dass der Fuersorgesektor nur begrenzt kommunalisiert wurde. Die Muenchener Fuersorgepolitik stand radikalen Entwuerfen tiefgestaffelter GesellschaftsSteuerung distanziert gegenueber und ueberliess den freien gesellschaftlichen Wohlfahrtsorganisationen weite Spielraeume. Muenchen bildete damit, so das ueberzeugende Resuemee Rudloffs, einen spezifischen Typus der Wohlfahrtsstadt, der sich durch einen gemaessigten, gleichsam korporativ halbierten Gebrauch des Interventionsrahmens auszeichnete.

Anmerkungen:
1. Grundlegend fuer die Geschichte des Wohlfahrtsstaates vgl. Gerhard A. Ritter: "Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich", (Historische Zeitschrift Beihefte NF 11), Muenchen 1989; Christoph Sachsse: Der Wohlfahrtsstaat in historischer und vergleichender Perspektive, in: "Geschichte und Gesellschaft" 19 (1990), S. 478-90.
2. Christoph Sachsse / Florian Tennstedt: "Geschichte der Armenfuersorge in Deutschland". Bd. 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart, Berlin, Koeln 1992. Vgl. auch Hans-Ulrich Thamer / Jochen-Christoph Kaiser in Zusammenarbeit mit Gabriele Bussmann-Strelow/Julia Paulus/Paul Brandmann und Michael Funk: Kommunale Wohlfahrtspolitik zwischen 1918 und 1933 im Vergleich (Frankfurt, Leipzig, Nuernberg), in: Juergen Reulecke (Hg.), "Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beitraege zur Geschichte der 'Sozialstadt' in Deutschland im 19. und fruehen 20". Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 325-70.
3. Fuer die Wohlfahrtsverbaendeforschung ist grundlegend der Aufsatz von Rolf G. Heinze/Thomas Olk: Die Wohlfahrtsverbaende im System sozialer Dienstleistungsproduktion. Zur Entstehung und Struktur der bundesrepublikanischen Verbaendewohlfahrt, in: "Koelner Zeitschrift fuer Soziologie und Sozialpsychologie" 33 (1981), S. 94-114.

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